Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
die Leidenschaften und Thaten Mehrerer bilden eine Handlung im collec-
die Leidenſchaften und Thaten Mehrerer bilden eine Handlung im collec- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0053" n="41"/> die Leidenſchaften und Thaten Mehrerer bilden eine Handlung im collec-<lb/> tiven Sinn, und da gilt das Geſetz ebenſo. Eine That oder eine Reihe<lb/> von Thaten geben einem, wie es ſchien, vorher ſchon reifen und fertigen<lb/> Charakter eine neue Wendung (Wendepunct §. 337) und dafür verlangen<lb/> wir natürlich ebenfalls hinreichende Motivirung. Hiemit iſt nun erſt das<lb/> Gebiet, in welchem die Motivirung ſich geltend zu machen hat, flüchtig<lb/> umriſſen und eingetheilt; die Frage iſt aber, wie ſich die Motivirung in der<lb/> Kunſt zur Motivirung in der Wirklichkeit zu verhalten habe. In der Wirk-<lb/> lichkeit nun iſt jede Erſcheinung unendlich motivirt, d. h. ſie ſteht in einem<lb/> Cauſalnexus, der auf eine Reihe ohne Ende zurückführt. Dieß in der Länge-<lb/> Richtung; ſie iſt es aber auch in der Richtung der Breite, denn das Eine,<lb/> was die nächſte Urſache eines Zuſtandes, die Triebfeder einer Handlung abgibt,<lb/> hängt mit dem ganzen Daſein nach allen Seiten durch unzählige Fäden<lb/> zuſammen. Nun findet die unendliche Reihe und Vielheit zwar ihren<lb/> Schlußpunct im Acte der Freiheit; alſo, wo es ſich um Motivirung einer<lb/> That, eines Charakterbilds handelt, wäre ſchon im Stoff ohne die Kunſt<lb/> das Netz der unendlichen Fäden in Einen Faden geſammelt. Allein dieß<lb/> Sammeln des unbeſtimmt Vielen in Einen Brennpunkt weist ja eben auf<lb/> alle die Fäden, die es ſammelt, hinaus und kann daher ſo, wie es in der<lb/> Wirklichkeit iſt, in die Kunſt nicht übergehen. Vielmehr muß auf dieſem<lb/> ganzen Gebiete ſowohl der äußerlichen, als der innerlichen Motivirung<lb/> noch klarer und beſtimmter, als in dem erſt innern Ideale, jene <hi rendition="#g">Zuſam-<lb/> menziehung</hi> (§. 53) wirken; die Beziehung des Einen auf das Viele,<lb/> die Bindung des Mannigfaltigen in der Idee muß eine kürzere, ſtraffere<lb/> ſein, als in der unendlichen Breite des Wirklichen, die Zahl der unendlichen<lb/> Fäden muß ſich in wenige und dieſe raſch in Einen zuſammenfaßen. Es<lb/> iſt nicht möglich, dieſes Geſetz der Vereinfachung, der idealen Abbreviatur<lb/> der Motivirung durch die Kunſt, hier, in der Lehre vom allgemeinen<lb/> Begriffe der Kunſt, näher zu beſtimmen, denn die geſchichtlichen Formen<lb/> der Phantaſie und die verſchiedenen Künſte und Kunſtzweige bedingen<lb/> auch verſchiedene Art und Breite der Motivirung: die ſymboliſche, claſſiſche,<lb/> romantiſche Phantaſie motivirt anders, als die moderne, weil ſie eine<lb/> Summe von Motiven in einer Gottheit zuſammenfaßt, durch deren Ein-<lb/> wirkung die Vielheit der äußeren Anſtöße auf ein ganz Einfaches, die<lb/> inneren Triebe und der beſchließende Wille auf eine von außen wirkende<lb/> Perſon reduzirt erſcheinen; die Aeußerlichkeit hebt ſich aber hier eben in<lb/> der Bedeutung des Gottes, eine innere Macht zugleich mit einer Natur-<lb/> macht darzuſtellen, wieder auf und dieſe ganze Reduction iſt nichts, als<lb/> die äſthetiſche Abbreviatur der Motivirung in der Sprache einer beſonderen<lb/> Weltanſchauung; der <hi rendition="#aq">Deus ex machina</hi> iſt da erlaubt, wo Götter<lb/> geglaubte Weſen ſind. Das claſſiſche Ideal erhebt ſich allerdings eben-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [41/0053]
die Leidenſchaften und Thaten Mehrerer bilden eine Handlung im collec-
tiven Sinn, und da gilt das Geſetz ebenſo. Eine That oder eine Reihe
von Thaten geben einem, wie es ſchien, vorher ſchon reifen und fertigen
Charakter eine neue Wendung (Wendepunct §. 337) und dafür verlangen
wir natürlich ebenfalls hinreichende Motivirung. Hiemit iſt nun erſt das
Gebiet, in welchem die Motivirung ſich geltend zu machen hat, flüchtig
umriſſen und eingetheilt; die Frage iſt aber, wie ſich die Motivirung in der
Kunſt zur Motivirung in der Wirklichkeit zu verhalten habe. In der Wirk-
lichkeit nun iſt jede Erſcheinung unendlich motivirt, d. h. ſie ſteht in einem
Cauſalnexus, der auf eine Reihe ohne Ende zurückführt. Dieß in der Länge-
Richtung; ſie iſt es aber auch in der Richtung der Breite, denn das Eine,
was die nächſte Urſache eines Zuſtandes, die Triebfeder einer Handlung abgibt,
hängt mit dem ganzen Daſein nach allen Seiten durch unzählige Fäden
zuſammen. Nun findet die unendliche Reihe und Vielheit zwar ihren
Schlußpunct im Acte der Freiheit; alſo, wo es ſich um Motivirung einer
That, eines Charakterbilds handelt, wäre ſchon im Stoff ohne die Kunſt
das Netz der unendlichen Fäden in Einen Faden geſammelt. Allein dieß
Sammeln des unbeſtimmt Vielen in Einen Brennpunkt weist ja eben auf
alle die Fäden, die es ſammelt, hinaus und kann daher ſo, wie es in der
Wirklichkeit iſt, in die Kunſt nicht übergehen. Vielmehr muß auf dieſem
ganzen Gebiete ſowohl der äußerlichen, als der innerlichen Motivirung
noch klarer und beſtimmter, als in dem erſt innern Ideale, jene Zuſam-
menziehung (§. 53) wirken; die Beziehung des Einen auf das Viele,
die Bindung des Mannigfaltigen in der Idee muß eine kürzere, ſtraffere
ſein, als in der unendlichen Breite des Wirklichen, die Zahl der unendlichen
Fäden muß ſich in wenige und dieſe raſch in Einen zuſammenfaßen. Es
iſt nicht möglich, dieſes Geſetz der Vereinfachung, der idealen Abbreviatur
der Motivirung durch die Kunſt, hier, in der Lehre vom allgemeinen
Begriffe der Kunſt, näher zu beſtimmen, denn die geſchichtlichen Formen
der Phantaſie und die verſchiedenen Künſte und Kunſtzweige bedingen
auch verſchiedene Art und Breite der Motivirung: die ſymboliſche, claſſiſche,
romantiſche Phantaſie motivirt anders, als die moderne, weil ſie eine
Summe von Motiven in einer Gottheit zuſammenfaßt, durch deren Ein-
wirkung die Vielheit der äußeren Anſtöße auf ein ganz Einfaches, die
inneren Triebe und der beſchließende Wille auf eine von außen wirkende
Perſon reduzirt erſcheinen; die Aeußerlichkeit hebt ſich aber hier eben in
der Bedeutung des Gottes, eine innere Macht zugleich mit einer Natur-
macht darzuſtellen, wieder auf und dieſe ganze Reduction iſt nichts, als
die äſthetiſche Abbreviatur der Motivirung in der Sprache einer beſonderen
Weltanſchauung; der Deus ex machina iſt da erlaubt, wo Götter
geglaubte Weſen ſind. Das claſſiſche Ideal erhebt ſich allerdings eben-
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