Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
tragischer Untergang, aber jedes äußere Uebel führt seinen inneren Trost 2. Durch diese rhythmische Bewegung des Kunstwerks zieht sich ein Vischer's Aesthetik. 3. Band. 4
tragiſcher Untergang, aber jedes äußere Uebel führt ſeinen inneren Troſt 2. Durch dieſe rhythmiſche Bewegung des Kunſtwerks zieht ſich ein Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 4
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tragiſcher Untergang, aber jedes äußere Uebel führt ſeinen inneren Troſt
mit ſich, das Böſe zerſtört ſich ſelbſt, das Gute ſiegt im ſcheinbaren Erlie-
gen als innere und öffentliche Macht. Die erſte Scene kündigt durch die
Rüſtungen zur Schlacht die Nähe der Entſcheidung an, aber wir erfahren
auch, daß Albanien, ganz zum Guten gewendet, nur mitwirkt, weil es
Frankreich iſt, das Britannien mit Krieg überzogen hat, und wir ahnen
in Edgars verſchloſſenem Briefe die Vorbereitung einer That rächender
Gerechtigkeit gegen Edmund, der allerdings ein neues Verbrechen gegen
Lear und Cordelia ausbrütet. Der kurze zweite Auftritt zwiſchen Edgar
und Gloſter dient zunächſt äußerlich dazu, daß wir das Ergebniß der
Schlacht, die Niederlage der Franzoſen erfahren ſollen, zugleich aber
erſcheint Edgar noch einmal als der Sprecher heilſamer Lehre für Gloſter,
den wir nicht mehr ſehen ſollen. Der große dritte Auftritt zerfällt nun
in folgende Gruppen: Lear und Cordelia, in’s Gefängniß geführt, ſüße
Worte der Liebe im Unglück wechſelnd, ein tief wehmüthig ſchönes Bild;
ſodann Edmunds Zweikampf mit Edgar, ſein Erliegen, damit verwoben
Regans Tod durch Gift ihrer Schweſter und Gonerils Selbſtmord; aber
dem Untergang des Böſen folgt, zu ſpät bereut, die Vollſtreckung eines
tückiſchen Anſchlags: Cordelia wird die Märtyrinn ihrer unendlichen Liebe,
Lear liſcht aus und von Gloſter erfahren wir dasſelbe; beiden Greiſen
iſt der Tod Wohlthat. Auf dieſe drei Sätze voll von furchtbaren, aber
auch milden Klängen folgt der Schluß, der die Heilung der Leiden des
Staats in ſichere Ausſicht ſtellt. Wir überlaſſen es dem Muſik-Kundigen,
dieſen organiſchen Strom durch alle ſeine Momente beſtimmter mit dem
Rhythmus eines großen Tonkunſtwerks zu vergleichen, und bemerken nur
noch, daß die Forderung des §., wonach der Rhythmus, der durch das
Ganze geht, auch in den Einzeltheilen herrſchen ſoll, nach dieſem Beiſpiel
keiner weitern Erläuterung bedarf. Geiſtreiche Gedanken über den Rhyth-
mus in der Compoſition gibt Lotze: Ueber Bedingungen der Kunſtſchönheit.
2. Durch dieſe rhythmiſche Bewegung des Kunſtwerks zieht ſich ein
Zahlengeſetz, das natürlich nur da beſtimmter erkennbar wird, wo ſich
jenes zu einem reich gegliederten Ganzen entwickelt. Es erſcheint im
Großen als ein Fortſchritt von 1 zu 2, von 2 zu 3, von 3 zu 5.
Thierſch (a. a. O. §. 31) hat das Verdienſt, dasſelbe angedeutet in
der unorganiſchen Natur, beſtimmt ausgedrückt in der organiſchen und
geiſtigen und ſo in der Kunſt zur Klarheit entwickelt aufgewieſen zu
haben. Auf umgekehrtem Wege können wir von den höchſten Kunſtformen
ausgehen und an das Wort des Ariſtoteles (Poëtik §. 18, 1.) anknüpfen,
daß die Tragödie in die zwei Theile: Schürzung und Löſung des Knotens
zerfalle. Nachher (23, 1.) verlangt er vom Epos wie von der Tragödie,
daß es eine vollendete Handlung darſtellen müße, welche Anfang, Mitte
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 4
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