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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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als ein solches, das die revolutionäre Stimmung mit dem Dichter theilt;
die Naturrohheit wird Mode; der Dichter kennt diese Forderung seiner
Zuhörer, liebäugelt mit ihr, das Unabsichtliche wird absichtlich und unver-
sehens ist der freie Göttersohn ebenso ein Knecht der Menge geworden,
wie der Sklave des Hof- und Adelsgeschmacks. Jetzt wird das Natur-
wilde selbst mechanisch, selbst nach der Schablone verfertigt, die Styllosig-
keit wird zum Style.

2. Improvisiren im eigentlichen Sinne heißt, in Gegenwart von
Zuhörern über ein von ihnen gegebenes Thema ein Gedicht vortragen,
das in einer möglichst kurzen Frist der Besinnung entworfen ist, im Vor-
trag aber erst ausgeführt wird. Diese Caricatur der blitzschnellen ersten
Operation der Phantasie, wodurch das Schöne geschaffen wird, ist neuer-
dings mit Recht verschollen. Die geniale Schnelligkeit soll durch diesen
Act recht in ihrer Geburt dem Publikum vorgezeigt werden, verliert aber
eben durch dieß Vorzeigen, dieß Belauschenlassen des schamhaft Verbor-
genen und Geheimen ihren Sinn oder wird vielmehr in ihrem Wesen
aufgehoben. Denn durch die wirkliche Gegenwart der wartenden Zuhörer
ist die Schnelligkeit statt einer Naturschnelligkeit eine pressirte Schnelligkeit
und diese bringt nichts zu Tage, als handwerksmäßiges Zusammenleimen
von Gemeinplätzen, fertigen und landläufigen Bildern, Reimen und dergl.
Die italienischen Kunst-Improvisatoren sind bekanntlich aus den Volks-
Improvisatoren hervorgegangen, welche uneigentlich so heißen, wenn sie
fremde epische Gedichte vortragen, dem eigentlichen Stegreifdichter aber
näher stehen, wenn sie Novellen, Mährchen aus freier Hand, doch nach
einem gegebenen Stoffe und mit vorhergehender Ueberlegung des Plans
vortragen, wie dieß bekanntlich noch heuzutage in den Straßen der ital.
Städte geschieht. Diese sogenannten Improvisatoren weisen zurück auf
die Rhapsoden Griechenlands und diese führen in letzter Linie auf das
ursprüngliche Entstehen des epischen Lieds und aller Poesie überhaupt,
das nun allerdings als ein unter den Augen wartender Zuhörer werden-
des vorzustellen ist. Allein da ist die Sage vorher von Mund zu Munde
gegangen, ein Stück aus ihrem Kreise, den er freilich zugleich erweitert,
ergreift der Volssänger, die Anlage und Composition ist ihm aber im
Wesentlichen durch die Sage selbst gegeben, nur die spezielle Aus-
führung improvisirt er, und auch diese nicht ohne eine vorhergegangene
Meditation in stiller Einsamkeit und für Zuhörer, welche nicht die Absicht
haben, die Schnelligkeit seines Hervorbringens zu controliren, sondern mit
ihm, dem Begeisterten, seine Begeisterung durch die ihrige verdoppelnd,
sich der Herrlichkeit ihrer Heldenbilder freuen. Es gilt dieß auch
der technischen Form, die gleichzeitig mit dem Inhalt wuchs und wurde;
wir müssen uns ein Versuchen derselben unter Begleitung des musikali-

als ein ſolches, das die revolutionäre Stimmung mit dem Dichter theilt;
die Naturrohheit wird Mode; der Dichter kennt dieſe Forderung ſeiner
Zuhörer, liebäugelt mit ihr, das Unabſichtliche wird abſichtlich und unver-
ſehens iſt der freie Götterſohn ebenſo ein Knecht der Menge geworden,
wie der Sklave des Hof- und Adelsgeſchmacks. Jetzt wird das Natur-
wilde ſelbſt mechaniſch, ſelbſt nach der Schablone verfertigt, die Stylloſig-
keit wird zum Style.

2. Improviſiren im eigentlichen Sinne heißt, in Gegenwart von
Zuhörern über ein von ihnen gegebenes Thema ein Gedicht vortragen,
das in einer möglichſt kurzen Friſt der Beſinnung entworfen iſt, im Vor-
trag aber erſt ausgeführt wird. Dieſe Caricatur der blitzſchnellen erſten
Operation der Phantaſie, wodurch das Schöne geſchaffen wird, iſt neuer-
dings mit Recht verſchollen. Die geniale Schnelligkeit ſoll durch dieſen
Act recht in ihrer Geburt dem Publikum vorgezeigt werden, verliert aber
eben durch dieß Vorzeigen, dieß Belauſchenlaſſen des ſchamhaft Verbor-
genen und Geheimen ihren Sinn oder wird vielmehr in ihrem Weſen
aufgehoben. Denn durch die wirkliche Gegenwart der wartenden Zuhörer
iſt die Schnelligkeit ſtatt einer Naturſchnelligkeit eine preſſirte Schnelligkeit
und dieſe bringt nichts zu Tage, als handwerksmäßiges Zuſammenleimen
von Gemeinplätzen, fertigen und landläufigen Bildern, Reimen und dergl.
Die italieniſchen Kunſt-Improviſatoren ſind bekanntlich aus den Volks-
Improviſatoren hervorgegangen, welche uneigentlich ſo heißen, wenn ſie
fremde epiſche Gedichte vortragen, dem eigentlichen Stegreifdichter aber
näher ſtehen, wenn ſie Novellen, Mährchen aus freier Hand, doch nach
einem gegebenen Stoffe und mit vorhergehender Ueberlegung des Plans
vortragen, wie dieß bekanntlich noch heuzutage in den Straßen der ital.
Städte geſchieht. Dieſe ſogenannten Improviſatoren weiſen zurück auf
die Rhapſoden Griechenlands und dieſe führen in letzter Linie auf das
urſprüngliche Entſtehen des epiſchen Lieds und aller Poeſie überhaupt,
das nun allerdings als ein unter den Augen wartender Zuhörer werden-
des vorzuſtellen iſt. Allein da iſt die Sage vorher von Mund zu Munde
gegangen, ein Stück aus ihrem Kreiſe, den er freilich zugleich erweitert,
ergreift der Volsſänger, die Anlage und Compoſition iſt ihm aber im
Weſentlichen durch die Sage ſelbſt gegeben, nur die ſpezielle Aus-
führung improviſirt er, und auch dieſe nicht ohne eine vorhergegangene
Meditation in ſtiller Einſamkeit und für Zuhörer, welche nicht die Abſicht
haben, die Schnelligkeit ſeines Hervorbringens zu controliren, ſondern mit
ihm, dem Begeiſterten, ſeine Begeiſterung durch die ihrige verdoppelnd,
ſich der Herrlichkeit ihrer Heldenbilder freuen. Es gilt dieß auch
der techniſchen Form, die gleichzeitig mit dem Inhalt wuchs und wurde;
wir müſſen uns ein Verſuchen derſelben unter Begleitung des muſikali-

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[64/0076] als ein ſolches, das die revolutionäre Stimmung mit dem Dichter theilt; die Naturrohheit wird Mode; der Dichter kennt dieſe Forderung ſeiner Zuhörer, liebäugelt mit ihr, das Unabſichtliche wird abſichtlich und unver- ſehens iſt der freie Götterſohn ebenſo ein Knecht der Menge geworden, wie der Sklave des Hof- und Adelsgeſchmacks. Jetzt wird das Natur- wilde ſelbſt mechaniſch, ſelbſt nach der Schablone verfertigt, die Stylloſig- keit wird zum Style. 2. Improviſiren im eigentlichen Sinne heißt, in Gegenwart von Zuhörern über ein von ihnen gegebenes Thema ein Gedicht vortragen, das in einer möglichſt kurzen Friſt der Beſinnung entworfen iſt, im Vor- trag aber erſt ausgeführt wird. Dieſe Caricatur der blitzſchnellen erſten Operation der Phantaſie, wodurch das Schöne geſchaffen wird, iſt neuer- dings mit Recht verſchollen. Die geniale Schnelligkeit ſoll durch dieſen Act recht in ihrer Geburt dem Publikum vorgezeigt werden, verliert aber eben durch dieß Vorzeigen, dieß Belauſchenlaſſen des ſchamhaft Verbor- genen und Geheimen ihren Sinn oder wird vielmehr in ihrem Weſen aufgehoben. Denn durch die wirkliche Gegenwart der wartenden Zuhörer iſt die Schnelligkeit ſtatt einer Naturſchnelligkeit eine preſſirte Schnelligkeit und dieſe bringt nichts zu Tage, als handwerksmäßiges Zuſammenleimen von Gemeinplätzen, fertigen und landläufigen Bildern, Reimen und dergl. Die italieniſchen Kunſt-Improviſatoren ſind bekanntlich aus den Volks- Improviſatoren hervorgegangen, welche uneigentlich ſo heißen, wenn ſie fremde epiſche Gedichte vortragen, dem eigentlichen Stegreifdichter aber näher ſtehen, wenn ſie Novellen, Mährchen aus freier Hand, doch nach einem gegebenen Stoffe und mit vorhergehender Ueberlegung des Plans vortragen, wie dieß bekanntlich noch heuzutage in den Straßen der ital. Städte geſchieht. Dieſe ſogenannten Improviſatoren weiſen zurück auf die Rhapſoden Griechenlands und dieſe führen in letzter Linie auf das urſprüngliche Entſtehen des epiſchen Lieds und aller Poeſie überhaupt, das nun allerdings als ein unter den Augen wartender Zuhörer werden- des vorzuſtellen iſt. Allein da iſt die Sage vorher von Mund zu Munde gegangen, ein Stück aus ihrem Kreiſe, den er freilich zugleich erweitert, ergreift der Volsſänger, die Anlage und Compoſition iſt ihm aber im Weſentlichen durch die Sage ſelbſt gegeben, nur die ſpezielle Aus- führung improviſirt er, und auch dieſe nicht ohne eine vorhergegangene Meditation in ſtiller Einſamkeit und für Zuhörer, welche nicht die Abſicht haben, die Schnelligkeit ſeines Hervorbringens zu controliren, ſondern mit ihm, dem Begeiſterten, ſeine Begeiſterung durch die ihrige verdoppelnd, ſich der Herrlichkeit ihrer Heldenbilder freuen. Es gilt dieß auch der techniſchen Form, die gleichzeitig mit dem Inhalt wuchs und wurde; wir müſſen uns ein Verſuchen derſelben unter Begleitung des muſikali-

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 64. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/76>, abgerufen am 21.11.2024.