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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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2bleibt. Künstliche Verbindungen und Mittel zu ihrer Pflege ersetzen mangelhaft
die Pflege der lebendigen Corporation und bilden einen schwachen Faden
3des Uebergangs zur wahren Oeffentlichkeit, an die Stelle der beengenden
Ansprüche der Kunstliebhaberei und der aus ihr hervorgehenden Kennerschaft
und Convenienz tritt, unmittelbar befangend und störend, nur mittelbar läuternd
die vielstimmige Kritik.

1. Geschichtlich kann man sich den hier dargestellten Zustand am
besten durch Vergegenwärtigung der Verhältnisse zwischen Kunst und Pub-
likum zur Zeit Göthes und Schillers klar machen, es handelt sich aber
allgemeiner von einer Sachlage, wie sie überhaupt die moderne Zeit durch
das Zurücktreten des Bildungsmonopols von den Fürsten und ihren Höfen
und das Aufleben des dritten Stands mit der soliden geistigen Bildung
seiner höheren Kreise hervorgerufen hat. Daß es in Weimar und
anderswo Höfe waren, welche vorzüglich die Kunst pflegten, verändert
nichts an der Sache, denn diese Höfe waren geistig gehoben durch
Sammlung der edelsten dem Bürgerthum entsproßenen Kräfte. Diese
Zeit setzte nun aber an die Stelle der alten Kluft zwischen Volk und Adel die
neue zwischen Volk und gebildeten Ständen. Die Bildung ruhte wesent-
lich auf classischen Studien, einem Apparate, der dem Volk im umfassen-
deren Sinn unzugänglich ist. Sie war menschlich rein und schön, aber
esoterisch, und so auch die Kunst, die sie pflegte; der vollere Strom der
wahren Oeffentlichkeit, das vollere Säfteleben, das die Pflanze der Kunst
aus dem Volksboden, dem breiten Rapport mit dem Volk im Sinne unge-
schiedener Einheit seiner Stände zieht, konnte noch nicht eintreten. Die
Stoffe waren meist gelehrt, der classischen Welt entnommen, die Behand-
lung künstlerisch frei, ungehemmt von Convenienz, aber mehr oder minder
ebenfalls in der classischen Anschauungs- und Gefühlsweise gehalten und
daher, so viele Wirkungen aus diesen edeln Kreisen mittelbar in das
Volk übergiengen, diesem doch im Ganzen fremd und unverständlich.
Man vergleiche nicht etwa blos mit Göthe, sondern auch selbst mit dem
populären Schiller einen Shakespeare, oder mit den damals herrschenden
classischen Stoffen in der, zwar eben neu erstehenden, Malerei die Fresken,
die im Alterthum, "da das Antike noch neu war," und im Mittelalter
am Lichte des Tages glänzten und allen Ständen zugänglich und ver-
ständlich waren: so erkennt man, was wir meinen. Auch die romantische
Schule hütete mit den gebildeten Ständen den Schatz einer gelehrten
Kunst; im Stoffe griff sie wohl in das Mittelalter und das Volksleben,
aber sie legte einen nur allzu subjectiven, blos dem Geweihten verständ-
lichen Inhalt und Geist hinein.

2. Aus dieser Kunstpflege des gebildeten Bürgerthums sind die

2bleibt. Künſtliche Verbindungen und Mittel zu ihrer Pflege erſetzen mangelhaft
die Pflege der lebendigen Corporation und bilden einen ſchwachen Faden
3des Uebergangs zur wahren Oeffentlichkeit, an die Stelle der beengenden
Anſprüche der Kunſtliebhaberei und der aus ihr hervorgehenden Kennerſchaft
und Convenienz tritt, unmittelbar befangend und ſtörend, nur mittelbar läuternd
die vielſtimmige Kritik.

1. Geſchichtlich kann man ſich den hier dargeſtellten Zuſtand am
beſten durch Vergegenwärtigung der Verhältniſſe zwiſchen Kunſt und Pub-
likum zur Zeit Göthes und Schillers klar machen, es handelt ſich aber
allgemeiner von einer Sachlage, wie ſie überhaupt die moderne Zeit durch
das Zurücktreten des Bildungsmonopols von den Fürſten und ihren Höfen
und das Aufleben des dritten Stands mit der ſoliden geiſtigen Bildung
ſeiner höheren Kreiſe hervorgerufen hat. Daß es in Weimar und
anderswo Höfe waren, welche vorzüglich die Kunſt pflegten, verändert
nichts an der Sache, denn dieſe Höfe waren geiſtig gehoben durch
Sammlung der edelſten dem Bürgerthum entſproßenen Kräfte. Dieſe
Zeit ſetzte nun aber an die Stelle der alten Kluft zwiſchen Volk und Adel die
neue zwiſchen Volk und gebildeten Ständen. Die Bildung ruhte weſent-
lich auf claſſiſchen Studien, einem Apparate, der dem Volk im umfaſſen-
deren Sinn unzugänglich iſt. Sie war menſchlich rein und ſchön, aber
eſoteriſch, und ſo auch die Kunſt, die ſie pflegte; der vollere Strom der
wahren Oeffentlichkeit, das vollere Säfteleben, das die Pflanze der Kunſt
aus dem Volksboden, dem breiten Rapport mit dem Volk im Sinne unge-
ſchiedener Einheit ſeiner Stände zieht, konnte noch nicht eintreten. Die
Stoffe waren meiſt gelehrt, der claſſiſchen Welt entnommen, die Behand-
lung künſtleriſch frei, ungehemmt von Convenienz, aber mehr oder minder
ebenfalls in der claſſiſchen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe gehalten und
daher, ſo viele Wirkungen aus dieſen edeln Kreiſen mittelbar in das
Volk übergiengen, dieſem doch im Ganzen fremd und unverſtändlich.
Man vergleiche nicht etwa blos mit Göthe, ſondern auch ſelbſt mit dem
populären Schiller einen Shakespeare, oder mit den damals herrſchenden
claſſiſchen Stoffen in der, zwar eben neu erſtehenden, Malerei die Fresken,
die im Alterthum, „da das Antike noch neu war,“ und im Mittelalter
am Lichte des Tages glänzten und allen Ständen zugänglich und ver-
ſtändlich waren: ſo erkennt man, was wir meinen. Auch die romantiſche
Schule hütete mit den gebildeten Ständen den Schatz einer gelehrten
Kunſt; im Stoffe griff ſie wohl in das Mittelalter und das Volksleben,
aber ſie legte einen nur allzu ſubjectiven, blos dem Geweihten verſtänd-
lichen Inhalt und Geiſt hinein.

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[66/0078] bleibt. Künſtliche Verbindungen und Mittel zu ihrer Pflege erſetzen mangelhaft die Pflege der lebendigen Corporation und bilden einen ſchwachen Faden des Uebergangs zur wahren Oeffentlichkeit, an die Stelle der beengenden Anſprüche der Kunſtliebhaberei und der aus ihr hervorgehenden Kennerſchaft und Convenienz tritt, unmittelbar befangend und ſtörend, nur mittelbar läuternd die vielſtimmige Kritik. 1. Geſchichtlich kann man ſich den hier dargeſtellten Zuſtand am beſten durch Vergegenwärtigung der Verhältniſſe zwiſchen Kunſt und Pub- likum zur Zeit Göthes und Schillers klar machen, es handelt ſich aber allgemeiner von einer Sachlage, wie ſie überhaupt die moderne Zeit durch das Zurücktreten des Bildungsmonopols von den Fürſten und ihren Höfen und das Aufleben des dritten Stands mit der ſoliden geiſtigen Bildung ſeiner höheren Kreiſe hervorgerufen hat. Daß es in Weimar und anderswo Höfe waren, welche vorzüglich die Kunſt pflegten, verändert nichts an der Sache, denn dieſe Höfe waren geiſtig gehoben durch Sammlung der edelſten dem Bürgerthum entſproßenen Kräfte. Dieſe Zeit ſetzte nun aber an die Stelle der alten Kluft zwiſchen Volk und Adel die neue zwiſchen Volk und gebildeten Ständen. Die Bildung ruhte weſent- lich auf claſſiſchen Studien, einem Apparate, der dem Volk im umfaſſen- deren Sinn unzugänglich iſt. Sie war menſchlich rein und ſchön, aber eſoteriſch, und ſo auch die Kunſt, die ſie pflegte; der vollere Strom der wahren Oeffentlichkeit, das vollere Säfteleben, das die Pflanze der Kunſt aus dem Volksboden, dem breiten Rapport mit dem Volk im Sinne unge- ſchiedener Einheit ſeiner Stände zieht, konnte noch nicht eintreten. Die Stoffe waren meiſt gelehrt, der claſſiſchen Welt entnommen, die Behand- lung künſtleriſch frei, ungehemmt von Convenienz, aber mehr oder minder ebenfalls in der claſſiſchen Anſchauungs- und Gefühlsweiſe gehalten und daher, ſo viele Wirkungen aus dieſen edeln Kreiſen mittelbar in das Volk übergiengen, dieſem doch im Ganzen fremd und unverſtändlich. Man vergleiche nicht etwa blos mit Göthe, ſondern auch ſelbſt mit dem populären Schiller einen Shakespeare, oder mit den damals herrſchenden claſſiſchen Stoffen in der, zwar eben neu erſtehenden, Malerei die Fresken, die im Alterthum, „da das Antike noch neu war,“ und im Mittelalter am Lichte des Tages glänzten und allen Ständen zugänglich und ver- ſtändlich waren: ſo erkennt man, was wir meinen. Auch die romantiſche Schule hütete mit den gebildeten Ständen den Schatz einer gelehrten Kunſt; im Stoffe griff ſie wohl in das Mittelalter und das Volksleben, aber ſie legte einen nur allzu ſubjectiven, blos dem Geweihten verſtänd- lichen Inhalt und Geiſt hinein. 2. Aus dieſer Kunſtpflege des gebildeten Bürgerthums ſind die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 66. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/78>, abgerufen am 21.11.2024.