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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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wird. Von diesem Standpunct aus leuchtet nun die Nothwendigkeit ein,
daß der Künstler für Ein Werk mehrere Modelle benütze. Zunächst for-
dert dieß die Unvollkommenheit jedes Naturschönen als eines Einzelnen;
da nun aber die Ansammlung mehrerer unvollkommener Erscheinungen
immer noch keine Vollkommenheit macht, sondern der Schein des Voll-
kommenen rein das Werk der Phantasie ist, so kann die Benützung meh-
rerer Modelle eben nur die Bedeutung haben, daß der Phantasie durch
ein Vergleichen gegebener Natur-Erscheinungen der Stoff gegeben werde
für die organische, freie That, und zwar jetzt, nachdem wir die That
der Idealschöpfung an sich längst hinter uns haben, der That in dem
Sinne einer zweiten, die erste, blos innere, zum Ausdruck der vollen
Lebenswärme und Naturbestimmtheit erhebenden Schöpfung. Daß dieß
lebendige freie Vergleichen und Einschmelzen in die Einheit des innerlich
schon vollendeten Bildes im §. als grundverschieden von der mechanischen
Arbeit des Eklektikers bezeichnet wird, der ohne jene innere Schöpfung
ein todtes Mosaik aus einer Vielheit empirischer Gestalten zusammenliest,
bedarf keiner weitern Begründung. Zeuxis hat aus den Mädchen von
Kroton, die ihm für seine Helena Modell standen, keine Allgemeinheit im
Sinn der Schule der Caracci zusammengesetzt; daß die Griechen in der
Zeit nach Phidias das Modell vielfach und namentlich in dieser Art der
Benützung mehrerer Modelle gebrauchten, darüber vergleiche C. Fr.
Hermann a. a. O. S. 29. 30, der auch Belege aus der gleichzeitigen
Philosophie, daß sie dieß Verfahren als ganz gerechtfertigt ansah, und
die Bemerkung von Quatremere de Quincy (Essai sur l' imitation S. 246)
zu Cicero Or. c. 3 (vergl. zu uns. §. 389 B. II. S. 360) anführt:
"Ciceron a specifie le genre d' imitation individuelle, au quel ne se
bornait pas le travail de Phidias; je dis au quel ne se bornait pas,
parceque pretendre, qu'on ne fait pas la copie ou le portrait d' un
modele seul, n'est pas pretendre, qu'on ne se sert d'aucun modele".
Uebrigens
hat das Modell seine Bedeutung nur für Form in der Ruhe, Farbe,
für die Bewegung, sofern sie nicht zu stark ist, um sie willkührlich bervor-
bringen und einen Moment derselben festhalten zu können; für den
Gesichtsausdruck der Leidenschaft ist es durchaus nicht zu gebrauchen und
was von Peinigung der Modelle zu diesem Zweck erzählt wird (Seneca
berichtet schon von dem athen. Maler Parrhasius, er habe einen Kriegs-
gefangenen gekauft und gepeinigt, um nach ihm einen Prometheus
darzustellen), gehört zu den Verzerrungen der Kunst. -- Mit diesen Be-
merkungen ist erledigt, was zu §. 398, 2. als eine dort noch nicht zu
erörternde Frage über nachträgliches Benützen eines einzelnen Natur-
schönen bei der Ausführung des innern Bildes angekündigt ist.


wird. Von dieſem Standpunct aus leuchtet nun die Nothwendigkeit ein,
daß der Künſtler für Ein Werk mehrere Modelle benütze. Zunächſt for-
dert dieß die Unvollkommenheit jedes Naturſchönen als eines Einzelnen;
da nun aber die Anſammlung mehrerer unvollkommener Erſcheinungen
immer noch keine Vollkommenheit macht, ſondern der Schein des Voll-
kommenen rein das Werk der Phantaſie iſt, ſo kann die Benützung meh-
rerer Modelle eben nur die Bedeutung haben, daß der Phantaſie durch
ein Vergleichen gegebener Natur-Erſcheinungen der Stoff gegeben werde
für die organiſche, freie That, und zwar jetzt, nachdem wir die That
der Idealſchöpfung an ſich längſt hinter uns haben, der That in dem
Sinne einer zweiten, die erſte, blos innere, zum Ausdruck der vollen
Lebenswärme und Naturbeſtimmtheit erhebenden Schöpfung. Daß dieß
lebendige freie Vergleichen und Einſchmelzen in die Einheit des innerlich
ſchon vollendeten Bildes im §. als grundverſchieden von der mechaniſchen
Arbeit des Eklektikers bezeichnet wird, der ohne jene innere Schöpfung
ein todtes Moſaik aus einer Vielheit empiriſcher Geſtalten zuſammenliest,
bedarf keiner weitern Begründung. Zeuxis hat aus den Mädchen von
Kroton, die ihm für ſeine Helena Modell ſtanden, keine Allgemeinheit im
Sinn der Schule der Caracci zuſammengeſetzt; daß die Griechen in der
Zeit nach Phidias das Modell vielfach und namentlich in dieſer Art der
Benützung mehrerer Modelle gebrauchten, darüber vergleiche C. Fr.
Hermann a. a. O. S. 29. 30, der auch Belege aus der gleichzeitigen
Philoſophie, daß ſie dieß Verfahren als ganz gerechtfertigt anſah, und
die Bemerkung von Quatremére de Quincy (Essai sur l’ imitation S. 246)
zu Cicero Or. c. 3 (vergl. zu unſ. §. 389 B. II. S. 360) anführt:
„Cicéron a spécifié le genre d’ imitation individuelle, au quel ne se
bornait pas le travail de Phidias; je dis au quel ne se bornait pas,
parceque prétendre, qu’on ne fait pas la copie ou le portrait d’ un
modéle seul, n’est pas prétendre, qu’on ne se sert d’aucun modéle“.
Uebrigens
hat das Modell ſeine Bedeutung nur für Form in der Ruhe, Farbe,
für die Bewegung, ſofern ſie nicht zu ſtark iſt, um ſie willkührlich bervor-
bringen und einen Moment derſelben feſthalten zu können; für den
Geſichtsausdruck der Leidenſchaft iſt es durchaus nicht zu gebrauchen und
was von Peinigung der Modelle zu dieſem Zweck erzählt wird (Seneca
berichtet ſchon von dem athen. Maler Parrhaſius, er habe einen Kriegs-
gefangenen gekauft und gepeinigt, um nach ihm einen Prometheus
darzuſtellen), gehört zu den Verzerrungen der Kunſt. — Mit dieſen Be-
merkungen iſt erledigt, was zu §. 398, 2. als eine dort noch nicht zu
erörternde Frage über nachträgliches Benützen eines einzelnen Natur-
ſchönen bei der Ausführung des innern Bildes angekündigt iſt.


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[82/0094] wird. Von dieſem Standpunct aus leuchtet nun die Nothwendigkeit ein, daß der Künſtler für Ein Werk mehrere Modelle benütze. Zunächſt for- dert dieß die Unvollkommenheit jedes Naturſchönen als eines Einzelnen; da nun aber die Anſammlung mehrerer unvollkommener Erſcheinungen immer noch keine Vollkommenheit macht, ſondern der Schein des Voll- kommenen rein das Werk der Phantaſie iſt, ſo kann die Benützung meh- rerer Modelle eben nur die Bedeutung haben, daß der Phantaſie durch ein Vergleichen gegebener Natur-Erſcheinungen der Stoff gegeben werde für die organiſche, freie That, und zwar jetzt, nachdem wir die That der Idealſchöpfung an ſich längſt hinter uns haben, der That in dem Sinne einer zweiten, die erſte, blos innere, zum Ausdruck der vollen Lebenswärme und Naturbeſtimmtheit erhebenden Schöpfung. Daß dieß lebendige freie Vergleichen und Einſchmelzen in die Einheit des innerlich ſchon vollendeten Bildes im §. als grundverſchieden von der mechaniſchen Arbeit des Eklektikers bezeichnet wird, der ohne jene innere Schöpfung ein todtes Moſaik aus einer Vielheit empiriſcher Geſtalten zuſammenliest, bedarf keiner weitern Begründung. Zeuxis hat aus den Mädchen von Kroton, die ihm für ſeine Helena Modell ſtanden, keine Allgemeinheit im Sinn der Schule der Caracci zuſammengeſetzt; daß die Griechen in der Zeit nach Phidias das Modell vielfach und namentlich in dieſer Art der Benützung mehrerer Modelle gebrauchten, darüber vergleiche C. Fr. Hermann a. a. O. S. 29. 30, der auch Belege aus der gleichzeitigen Philoſophie, daß ſie dieß Verfahren als ganz gerechtfertigt anſah, und die Bemerkung von Quatremére de Quincy (Essai sur l’ imitation S. 246) zu Cicero Or. c. 3 (vergl. zu unſ. §. 389 B. II. S. 360) anführt: „Cicéron a spécifié le genre d’ imitation individuelle, au quel ne se bornait pas le travail de Phidias; je dis au quel ne se bornait pas, parceque prétendre, qu’on ne fait pas la copie ou le portrait d’ un modéle seul, n’est pas prétendre, qu’on ne se sert d’aucun modéle“. Uebrigens hat das Modell ſeine Bedeutung nur für Form in der Ruhe, Farbe, für die Bewegung, ſofern ſie nicht zu ſtark iſt, um ſie willkührlich bervor- bringen und einen Moment derſelben feſthalten zu können; für den Geſichtsausdruck der Leidenſchaft iſt es durchaus nicht zu gebrauchen und was von Peinigung der Modelle zu dieſem Zweck erzählt wird (Seneca berichtet ſchon von dem athen. Maler Parrhaſius, er habe einen Kriegs- gefangenen gekauft und gepeinigt, um nach ihm einen Prometheus darzuſtellen), gehört zu den Verzerrungen der Kunſt. — Mit dieſen Be- merkungen iſt erledigt, was zu §. 398, 2. als eine dort noch nicht zu erörternde Frage über nachträgliches Benützen eines einzelnen Natur- ſchönen bei der Ausführung des innern Bildes angekündigt iſt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/94>, abgerufen am 21.11.2024.