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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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taucht ein neues decoratives Prinzip in der Raumöffnung auf: es kommen
Gruppirungen von Fensterbögen vor, zwei kleinere mit einer Trennungs-
säule dazwischen und einem größeren darüber, oder drei, wovon der mittlere
größer, und dazu ein übergewölbter noch größerer; dieß ist ein Anfang
einer innern Vermannigfaltigung der Symmetrie, der sich übrigens auch
in Basiliken-Bauten des Abendlands findet. Am Kapitell werden die vege-
tabilischen Formen conventionell geometrisch stylisirt und beginnt die weich
anschwellende Kelchform in die Würfelform überzugehen: Anfänge einer
krystallischen Anschauungsweise, die wir nun immer stärker werden ein-
treten sehen.

2. Der muhamedanische Bau ist einseitiger Innenbau durch die Ein-
schließung seiner Säulenumstellten Höfe mit der Moschee in rohe Mauern
und die Unscheinbarkeit des Aeußern überhaupt. Allerdings tritt das
Schwanken des Begriffs wieder ein wie im altorientalischen Bau: im Innern
ist die Gemeinde in ihrem Vorhof wieder außerhalb des Heiligthums;
doch ist ihr dieß nicht verschlossen wie in Aegypten. Im Uebrigen paßt
auf die Baukunst der Muhamedaner (die wir hier schon in der Vorstufe
aufführen müssen) ganz, was in §. 461 gesagt ist: "eine Phantasie, die
mit üppigem Spiel der Erfindung eine Fülle von Pracht streng messend
um einen gestaltloseren Mittelpunct versammelt". Zahl und Stellung der
Hauptgebäude im Hof ist unbestimmt, ihr Plan quadratisch, polygonisch,
der Kreuzform genähert, basilikenartig oblong; nur die Kuppel, einfach oder
eine Gruppe von mehreren, steht fest. Nun aber ergreift die orientalisch
wuchernde Phantasie die structiven Formen und hebt sie in lauter Orna-
ment, lauter Spiel auf; die Verzierung und das Glied spricht nicht die
thätige Kraft des architektonischen Organs aus, sondern verkleidet sie. Die
Kuppel nimmt (wie in Rußland durchgängig) die Zwiebelform (oft mehr
birnen- und pinienapfelähnlich) an und erinnert so an das nomadische
Zelt; die innern Wölbungen krystallisiren sich zu jenen honigzellenartigen
Bildungen, die zugleich wie Tropfsteine überhängend dem Orientalen die
Stimmung der kühlen Grotte gewähren, übrigens structiv einen Uebergang
vom Viereck des Baus in die Rundung vermitteln. Der Arkaden-, Thor-
und Fensterbogen geht vom halbkreisrunden in den (gedrückten) Spitzbogen
(Aegypten und Sizilien), Kielbogen (Persien und Indien), Hufeisenbogen
(Afrika, Spanien) über, schneidet seine verschiedenen Formen wieder in
einzelne Kreisstücke aus, verdoppelt sich zu übereinander aufsteigenden
Bögen. Das Auftreten des Spitzbogens ist, weil nur erst im Aeußern
als decoratives Moment, unwesentlich für die Entstehung des Spitzbogen-
styls. Die meisten dieser Bogenformen nun sind unpraktisch, spielende
Willkühr, aber bewegt, reizvoll. Die Säule wird zeltstangenartig dünn,
sie verliert den Ausdruck der Stütze, sie spielt ebenfalls mit ihrer Aufgabe.

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taucht ein neues decoratives Prinzip in der Raumöffnung auf: es kommen
Gruppirungen von Fenſterbögen vor, zwei kleinere mit einer Trennungs-
ſäule dazwiſchen und einem größeren darüber, oder drei, wovon der mittlere
größer, und dazu ein übergewölbter noch größerer; dieß iſt ein Anfang
einer innern Vermannigfaltigung der Symmetrie, der ſich übrigens auch
in Baſiliken-Bauten des Abendlands findet. Am Kapitell werden die vege-
tabiliſchen Formen conventionell geometriſch ſtyliſirt und beginnt die weich
anſchwellende Kelchform in die Würfelform überzugehen: Anfänge einer
kryſtalliſchen Anſchauungsweiſe, die wir nun immer ſtärker werden ein-
treten ſehen.

2. Der muhamedaniſche Bau iſt einſeitiger Innenbau durch die Ein-
ſchließung ſeiner Säulenumſtellten Höfe mit der Moſchee in rohe Mauern
und die Unſcheinbarkeit des Aeußern überhaupt. Allerdings tritt das
Schwanken des Begriffs wieder ein wie im altorientaliſchen Bau: im Innern
iſt die Gemeinde in ihrem Vorhof wieder außerhalb des Heiligthums;
doch iſt ihr dieß nicht verſchloſſen wie in Aegypten. Im Uebrigen paßt
auf die Baukunſt der Muhamedaner (die wir hier ſchon in der Vorſtufe
aufführen müſſen) ganz, was in §. 461 geſagt iſt: „eine Phantaſie, die
mit üppigem Spiel der Erfindung eine Fülle von Pracht ſtreng meſſend
um einen geſtaltloſeren Mittelpunct verſammelt“. Zahl und Stellung der
Hauptgebäude im Hof iſt unbeſtimmt, ihr Plan quadratiſch, polygoniſch,
der Kreuzform genähert, baſilikenartig oblong; nur die Kuppel, einfach oder
eine Gruppe von mehreren, ſteht feſt. Nun aber ergreift die orientaliſch
wuchernde Phantaſie die ſtructiven Formen und hebt ſie in lauter Orna-
ment, lauter Spiel auf; die Verzierung und das Glied ſpricht nicht die
thätige Kraft des architektoniſchen Organs aus, ſondern verkleidet ſie. Die
Kuppel nimmt (wie in Rußland durchgängig) die Zwiebelform (oft mehr
birnen- und pinienapfelähnlich) an und erinnert ſo an das nomadiſche
Zelt; die innern Wölbungen kryſtalliſiren ſich zu jenen honigzellenartigen
Bildungen, die zugleich wie Tropfſteine überhängend dem Orientalen die
Stimmung der kühlen Grotte gewähren, übrigens ſtructiv einen Uebergang
vom Viereck des Baus in die Rundung vermitteln. Der Arkaden-, Thor-
und Fenſterbogen geht vom halbkreisrunden in den (gedrückten) Spitzbogen
(Aegypten und Sizilien), Kielbogen (Perſien und Indien), Hufeiſenbogen
(Afrika, Spanien) über, ſchneidet ſeine verſchiedenen Formen wieder in
einzelne Kreisſtücke aus, verdoppelt ſich zu übereinander aufſteigenden
Bögen. Das Auftreten des Spitzbogens iſt, weil nur erſt im Aeußern
als decoratives Moment, unweſentlich für die Entſtehung des Spitzbogen-
ſtyls. Die meiſten dieſer Bogenformen nun ſind unpraktiſch, ſpielende
Willkühr, aber bewegt, reizvoll. Die Säule wird zeltſtangenartig dünn,
ſie verliert den Ausdruck der Stütze, ſie ſpielt ebenfalls mit ihrer Aufgabe.

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[303/0143] taucht ein neues decoratives Prinzip in der Raumöffnung auf: es kommen Gruppirungen von Fenſterbögen vor, zwei kleinere mit einer Trennungs- ſäule dazwiſchen und einem größeren darüber, oder drei, wovon der mittlere größer, und dazu ein übergewölbter noch größerer; dieß iſt ein Anfang einer innern Vermannigfaltigung der Symmetrie, der ſich übrigens auch in Baſiliken-Bauten des Abendlands findet. Am Kapitell werden die vege- tabiliſchen Formen conventionell geometriſch ſtyliſirt und beginnt die weich anſchwellende Kelchform in die Würfelform überzugehen: Anfänge einer kryſtalliſchen Anſchauungsweiſe, die wir nun immer ſtärker werden ein- treten ſehen. 2. Der muhamedaniſche Bau iſt einſeitiger Innenbau durch die Ein- ſchließung ſeiner Säulenumſtellten Höfe mit der Moſchee in rohe Mauern und die Unſcheinbarkeit des Aeußern überhaupt. Allerdings tritt das Schwanken des Begriffs wieder ein wie im altorientaliſchen Bau: im Innern iſt die Gemeinde in ihrem Vorhof wieder außerhalb des Heiligthums; doch iſt ihr dieß nicht verſchloſſen wie in Aegypten. Im Uebrigen paßt auf die Baukunſt der Muhamedaner (die wir hier ſchon in der Vorſtufe aufführen müſſen) ganz, was in §. 461 geſagt iſt: „eine Phantaſie, die mit üppigem Spiel der Erfindung eine Fülle von Pracht ſtreng meſſend um einen geſtaltloſeren Mittelpunct verſammelt“. Zahl und Stellung der Hauptgebäude im Hof iſt unbeſtimmt, ihr Plan quadratiſch, polygoniſch, der Kreuzform genähert, baſilikenartig oblong; nur die Kuppel, einfach oder eine Gruppe von mehreren, ſteht feſt. Nun aber ergreift die orientaliſch wuchernde Phantaſie die ſtructiven Formen und hebt ſie in lauter Orna- ment, lauter Spiel auf; die Verzierung und das Glied ſpricht nicht die thätige Kraft des architektoniſchen Organs aus, ſondern verkleidet ſie. Die Kuppel nimmt (wie in Rußland durchgängig) die Zwiebelform (oft mehr birnen- und pinienapfelähnlich) an und erinnert ſo an das nomadiſche Zelt; die innern Wölbungen kryſtalliſiren ſich zu jenen honigzellenartigen Bildungen, die zugleich wie Tropfſteine überhängend dem Orientalen die Stimmung der kühlen Grotte gewähren, übrigens ſtructiv einen Uebergang vom Viereck des Baus in die Rundung vermitteln. Der Arkaden-, Thor- und Fenſterbogen geht vom halbkreisrunden in den (gedrückten) Spitzbogen (Aegypten und Sizilien), Kielbogen (Perſien und Indien), Hufeiſenbogen (Afrika, Spanien) über, ſchneidet ſeine verſchiedenen Formen wieder in einzelne Kreisſtücke aus, verdoppelt ſich zu übereinander aufſteigenden Bögen. Das Auftreten des Spitzbogens iſt, weil nur erſt im Aeußern als decoratives Moment, unweſentlich für die Entſtehung des Spitzbogen- ſtyls. Die meiſten dieſer Bogenformen nun ſind unpraktiſch, ſpielende Willkühr, aber bewegt, reizvoll. Die Säule wird zeltſtangenartig dünn, ſie verliert den Ausdruck der Stütze, ſie ſpielt ebenfalls mit ihrer Aufgabe. 20*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 303. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/143>, abgerufen am 21.11.2024.