Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.1. Im romanischen Style war der Säulenfuß noch attisch, die Ge- Vischer's Aesthetik. 3. Band. 21
1. Im romaniſchen Style war der Säulenfuß noch attiſch, die Ge- Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 21
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1. Im romaniſchen Style war der Säulenfuß noch attiſch, die Ge-
ſimſe aus Gliedern zuſammengeſetzt, die im Weſentlichen noch die antiken
Grundformen hatten; der nun zur Reife gediehene Sinn des Mittelalters
ergreift jetzt dieſe Gebilde, und die Hohlkehle, die wir ſchon kennen ge-
lernt haben und die nun ebenſo an allen Oeffnungen auftritt, am Ge-
ſims die Welle tief unterſchneidet und zur Waſſernaſe bildet, führt ihren
einziehenden, einſchlürfenden und zugleich kräftige Schattenſtreifen bildenden
Charakter durch; die Platte fällt als Waſſerſchräge ab und es iſt dieß
nur eine einzelne Aeußerung des Syſtems der Einſchrägung, das wir
ſchon in der Thür- und Fenſterbildung des romaniſchen Styls kennen ge-
lernt haben und das nun allgemein wird und mit der Entrandung, Ent-
eckung, Entkantung zuſammenfällt. Zunächſt trägt dieſes Hohlkehlen- und
Entkantungsſyſtem, das ſich dem Syſteme des Vortretens und ſcharfkantigen
Abgrenzens in der claſſiſchen Baukunſt ſo eigenthümlich entgegenſtellt, einen
Ausdruck von lebendiger Wärme, gemüthlicher Heimlichkeit, der entſchieden
auf das vertiefte ſubjective Leben hinweist; in den herrſchenden tiefen
Hohlkehlen liegt dieſer Charakter der Innerlichkeit vermöge der Eigen-
ſchaften, wie ſie eben bezeichnet ſind, ſchlagend ausgeſprochen; die Ab-
ſchrägungen, Entkantungen tragen ihn ebenfalls, denn die Ecken erſcheinen
abgeſtoßen, um in das Innere hereinzuziehen, im Innern am Pfeiler,
um von dem Mittelſchiff in die Seitenſchiffe einladend hin- und zurück-
zuführen. Dieſer letztere Theil des neuen Gliederungsſyſtems hat aber
noch ſeine beſtimmtere Bedeutung und Wichtigkeit und iſt daher genauer
in’s Auge zu faſſen. Zunächſt erinnert er beſtimmter an den Kryſtall, als
die arabiſchen und romaniſchen Formen (vergl. §. 588. 590); nur darf
man nicht mit Metzger (Geſetze der Pflanz.- und Mineral.-Bildung, ange-
wandt auf den altdeutſchen Bauſtyl) meinen, es ſeien dieſe Formen dem
Kryſtalle abgeſehen, ſondern es iſt nur eine unbewußte Wiederholung deſſen,
was die Natur unbewußt thut, im bildenden Menſchengeiſte (vergl. §. 558
Anm.). Schon das große Thurmgebilde erinnert an eine durch Entkantung
und Enteckung vom Viereck in das Achteck, dann in die Spitze überge-
führte Kryſtallſäule. Hieher gehört aber namentlich die Geſtalt des Pfeilers;
was an Thüren, Fenſtereinfaſſungen einfach Abſtoßung der Ecken iſt, er-
ſcheint hier vielmehr als Folge der Uebereckſtellung. Zunächſt entſteht
dieſe Form ſchon am romaniſchen Pfeiler dadurch, daß ſein, zwar in
regelmäßiger Flucht aufgeſtellter, viereckiger Kern an den vier Seiten der
ſtarken Halbſäulen mit Pilaſtervorlagen anſetzt, die nun eine Form bilden,
welche ein zweites, auf dem erſten übereckgeſtelltes Viereck darſtellt; bei
dem gothiſchen Bündelpfeiler ſahen wir das übereckgeſtellte Quadrat als
Grund-Schema ebenfalls durch die ſtarken Halbſäulen-Vorlagen entſtehen.
Wie nun aber die Phantaſie einmal dieſe Form in ihrem Werke ſich hat
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 21
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