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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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bilden gesehen, so fällt ihr ein, daß man' so überhaupt alle Quadrate
umstellen kann und daß dieses aus dem übrigen Entkantungssysteme sich
von selbst ergibt; nun führt sie diese Form überall an den eckigen Bau-
gliedern durch. Erinnert nun die Entkantung überhaupt an den Krystall
mit der concentrischen Anlagerung von Flächen, deren Mannigfaltigkeit
durch Entrandung u. s. w. aus dem Einfachen des Dreiecks, Vierecks
entsteht, um eine Achse, so sieht man in zwei oder mehreren aufeinander-
übereckgestellten Quadraten die Verwachsung von Zwillings-Krystallen.
Am Pfeilerfuße bildet sich, den vielen Rundstäben mit abgefasten Ecken
folgend, so ein reiches Polygon, das sich vielgetheilt abstuft bis zum kleinen
Pfühle hinauf, auf welchem der Schaft der Halbsäule ruht. Es ist nun
überhaupt neben dem schwungvoll eingezogenen Runden derselbe polygo-
nische
Charakter, den im Großen schon der Chor-Abschluß entwickelt hat,
in die untergeordnete Formenwelt eingetreten und dieser entspricht dem
eckigen nordischen Naturell so entschieden, daß ja selbst die lateinischen
Buchstaben eckig ausgebrochen werden und in der Plastik und Malerei alle
Falten sich ebenso brechen müssen. Allein im Eckigen ist nun das Spiel
mit dem Eckigen eingetreten; das krystallartig Mathematische ist nach dieser
Seite ebensosehr ein völlig Freies; die barbarische Gebundenheit, die der
fließenden griechischen Einfalt unfähig ist, hat sich innerhalb des Gebundenen
frei gemacht, das eisig Winterliche belebt sich zu diesem Schalten eines
erfinderisch wendenden, wechselnden, umstellenden Scharfsinns, man möchte
sagen: zu dieser Poesie der Meßkunst.

2. Diese Phantasie, welche nicht auf ruhigem Gleichgewichte der Kräfte
ruht, wie die griechische, ist zugleich überhaupt eine bunte, vielgestaltige;
jener überschüssige Bildungstrieb, der darin begründet ist und im romanischen
Style sein Bett noch nicht gefunden hatte (§. 590), findet es jetzt, d. h.
nicht, er beschränkt sich, sondern er sproßt in einer unendlichen Fülle des
Ornaments auf, aber nicht mehr in jener abentheuerlichen, sondern in
einer geregelten Weise. Die Fülle äußert sich in der Umspinnung sämmt-
licher Räume; es wird nichts Leeres, nichts Nacktes, nichts Stumpfes
mehr geduldet: es wird gefüllt, überkleidet und übergittert, blumenartig
zugespitzt, es wird durchbrochen und die Durchbrechung ist nicht mehr
Durchbohrung von Steinplatten, sondern Zeichnung mit Stein in's Leere,
ein kühner höchst kunstreicher Gebrauch des schweren Stoffs, als gälte es
nur, Formen aus ihm zu bilden wie Linien mit dem Zeichenstift. Indem
wir nun die Regeln suchen, welche in dieser zunächst das Auge über-
schüttenden Fülle die Einheit durchführen, treten zugleich von selbst die im
§. genannten hauptsächlichen Anlagerungsstellen des Ornaments hervor.
Wir sehen zunächst den Grundsatz der Verästung wirken; derselbe ist schon
im Uebergang zwischen Pfeiler und Gewölbe aufgetreten und schließt den

bilden geſehen, ſo fällt ihr ein, daß man’ ſo überhaupt alle Quadrate
umſtellen kann und daß dieſes aus dem übrigen Entkantungsſyſteme ſich
von ſelbſt ergibt; nun führt ſie dieſe Form überall an den eckigen Bau-
gliedern durch. Erinnert nun die Entkantung überhaupt an den Kryſtall
mit der concentriſchen Anlagerung von Flächen, deren Mannigfaltigkeit
durch Entrandung u. ſ. w. aus dem Einfachen des Dreiecks, Vierecks
entſteht, um eine Achſe, ſo ſieht man in zwei oder mehreren aufeinander-
übereckgeſtellten Quadraten die Verwachſung von Zwillings-Kryſtallen.
Am Pfeilerfuße bildet ſich, den vielen Rundſtäben mit abgefasten Ecken
folgend, ſo ein reiches Polygon, das ſich vielgetheilt abſtuft bis zum kleinen
Pfühle hinauf, auf welchem der Schaft der Halbſäule ruht. Es iſt nun
überhaupt neben dem ſchwungvoll eingezogenen Runden derſelbe polygo-
niſche
Charakter, den im Großen ſchon der Chor-Abſchluß entwickelt hat,
in die untergeordnete Formenwelt eingetreten und dieſer entſpricht dem
eckigen nordiſchen Naturell ſo entſchieden, daß ja ſelbſt die lateiniſchen
Buchſtaben eckig ausgebrochen werden und in der Plaſtik und Malerei alle
Falten ſich ebenſo brechen müſſen. Allein im Eckigen iſt nun das Spiel
mit dem Eckigen eingetreten; das kryſtallartig Mathematiſche iſt nach dieſer
Seite ebenſoſehr ein völlig Freies; die barbariſche Gebundenheit, die der
fließenden griechiſchen Einfalt unfähig iſt, hat ſich innerhalb des Gebundenen
frei gemacht, das eiſig Winterliche belebt ſich zu dieſem Schalten eines
erfinderiſch wendenden, wechſelnden, umſtellenden Scharfſinns, man möchte
ſagen: zu dieſer Poeſie der Meßkunſt.

2. Dieſe Phantaſie, welche nicht auf ruhigem Gleichgewichte der Kräfte
ruht, wie die griechiſche, iſt zugleich überhaupt eine bunte, vielgeſtaltige;
jener überſchüſſige Bildungstrieb, der darin begründet iſt und im romaniſchen
Style ſein Bett noch nicht gefunden hatte (§. 590), findet es jetzt, d. h.
nicht, er beſchränkt ſich, ſondern er ſproßt in einer unendlichen Fülle des
Ornaments auf, aber nicht mehr in jener abentheuerlichen, ſondern in
einer geregelten Weiſe. Die Fülle äußert ſich in der Umſpinnung ſämmt-
licher Räume; es wird nichts Leeres, nichts Nacktes, nichts Stumpfes
mehr geduldet: es wird gefüllt, überkleidet und übergittert, blumenartig
zugeſpitzt, es wird durchbrochen und die Durchbrechung iſt nicht mehr
Durchbohrung von Steinplatten, ſondern Zeichnung mit Stein in’s Leere,
ein kühner höchſt kunſtreicher Gebrauch des ſchweren Stoffs, als gälte es
nur, Formen aus ihm zu bilden wie Linien mit dem Zeichenſtift. Indem
wir nun die Regeln ſuchen, welche in dieſer zunächſt das Auge über-
ſchüttenden Fülle die Einheit durchführen, treten zugleich von ſelbſt die im
§. genannten hauptſächlichen Anlagerungsſtellen des Ornaments hervor.
Wir ſehen zunächſt den Grundſatz der Veräſtung wirken; derſelbe iſt ſchon
im Uebergang zwiſchen Pfeiler und Gewölbe aufgetreten und ſchließt den

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[318/0158] bilden geſehen, ſo fällt ihr ein, daß man’ ſo überhaupt alle Quadrate umſtellen kann und daß dieſes aus dem übrigen Entkantungsſyſteme ſich von ſelbſt ergibt; nun führt ſie dieſe Form überall an den eckigen Bau- gliedern durch. Erinnert nun die Entkantung überhaupt an den Kryſtall mit der concentriſchen Anlagerung von Flächen, deren Mannigfaltigkeit durch Entrandung u. ſ. w. aus dem Einfachen des Dreiecks, Vierecks entſteht, um eine Achſe, ſo ſieht man in zwei oder mehreren aufeinander- übereckgeſtellten Quadraten die Verwachſung von Zwillings-Kryſtallen. Am Pfeilerfuße bildet ſich, den vielen Rundſtäben mit abgefasten Ecken folgend, ſo ein reiches Polygon, das ſich vielgetheilt abſtuft bis zum kleinen Pfühle hinauf, auf welchem der Schaft der Halbſäule ruht. Es iſt nun überhaupt neben dem ſchwungvoll eingezogenen Runden derſelbe polygo- niſche Charakter, den im Großen ſchon der Chor-Abſchluß entwickelt hat, in die untergeordnete Formenwelt eingetreten und dieſer entſpricht dem eckigen nordiſchen Naturell ſo entſchieden, daß ja ſelbſt die lateiniſchen Buchſtaben eckig ausgebrochen werden und in der Plaſtik und Malerei alle Falten ſich ebenſo brechen müſſen. Allein im Eckigen iſt nun das Spiel mit dem Eckigen eingetreten; das kryſtallartig Mathematiſche iſt nach dieſer Seite ebenſoſehr ein völlig Freies; die barbariſche Gebundenheit, die der fließenden griechiſchen Einfalt unfähig iſt, hat ſich innerhalb des Gebundenen frei gemacht, das eiſig Winterliche belebt ſich zu dieſem Schalten eines erfinderiſch wendenden, wechſelnden, umſtellenden Scharfſinns, man möchte ſagen: zu dieſer Poeſie der Meßkunſt. 2. Dieſe Phantaſie, welche nicht auf ruhigem Gleichgewichte der Kräfte ruht, wie die griechiſche, iſt zugleich überhaupt eine bunte, vielgeſtaltige; jener überſchüſſige Bildungstrieb, der darin begründet iſt und im romaniſchen Style ſein Bett noch nicht gefunden hatte (§. 590), findet es jetzt, d. h. nicht, er beſchränkt ſich, ſondern er ſproßt in einer unendlichen Fülle des Ornaments auf, aber nicht mehr in jener abentheuerlichen, ſondern in einer geregelten Weiſe. Die Fülle äußert ſich in der Umſpinnung ſämmt- licher Räume; es wird nichts Leeres, nichts Nacktes, nichts Stumpfes mehr geduldet: es wird gefüllt, überkleidet und übergittert, blumenartig zugeſpitzt, es wird durchbrochen und die Durchbrechung iſt nicht mehr Durchbohrung von Steinplatten, ſondern Zeichnung mit Stein in’s Leere, ein kühner höchſt kunſtreicher Gebrauch des ſchweren Stoffs, als gälte es nur, Formen aus ihm zu bilden wie Linien mit dem Zeichenſtift. Indem wir nun die Regeln ſuchen, welche in dieſer zunächſt das Auge über- ſchüttenden Fülle die Einheit durchführen, treten zugleich von ſelbſt die im §. genannten hauptſächlichen Anlagerungsſtellen des Ornaments hervor. Wir ſehen zunächſt den Grundſatz der Veräſtung wirken; derſelbe iſt ſchon im Uebergang zwiſchen Pfeiler und Gewölbe aufgetreten und ſchließt den

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 318. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/158>, abgerufen am 24.11.2024.