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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Anhang.

Die untergeordnete Tektonik.

§. 596.

An die Baukunst schließen sich verschiedene Arten technischer Thätigkeit1.
an, welche nur Zweckmäßiges hervorbringen, aber dasselbe auf Grundlage des
architektonischen Styls verschönern, wobei die ästhetische Aufgabe darin be-
steht, daß der anhängende Schmuck zwar spielend, doch in organisch klarer
Weise den Zweck ausdrücke. Am nächsten steht der Baukunst die Fügung und2.
Verzierung unbeweglicher, gewissen im Bauzwecke selbst begriffenen Bedürfnissen
dienender Werke; auch die Technik größerer, beweglicher oder zwar kleinerer,
aber auf das Geradlinige angewiesener Geräthe schließt sich ihr in innigem
Zusammenhang an. Dagegen nähert sich die Technik der Gefäße und des
handlichen Geräthes durch Vorherrschen des Runden und der Nachbildung orga-
nischer Formen in der Verzierung dem Gebiete der nächstfolgenden, die concrete
Gestalt nachahmenden Kunst. Auch die Bekleidung architektonischer Räume
und größerer Geräthe mit weichen Stoffen und die ästhetischen Motive in der
Anfertigung derselben knüpfen sich an das Gebiet der Architektur. Die Ge-3.
schichte des Styls in dieser reichen Formenwelt folgt überall den Epochen des
Bau-Styls.

1. Die Baukunst selbst im Ganzen und Großen ist das Extrem,
wodurch die Kunst ihre Wurzel im Lebensbedürfniß und Handwerk hat,
indem sie zunächst dem Zwecke der geschützten Wohnung dient und von
diesem Ausgangspuncte sich zur würdigen Umschließung eines durch den
absoluten Selbstzweck der Idee geforderten Innern erhebt. Jede Kunst
hat nun ihre anhängenden Formen, worin ein an sich Außerästhetisches
durch ästhetische Zuthat gehoben oder als lebendiger Stoff zu ästhetischer
Darstellung verwendet wird vergl. §. 545 ff. Unter diesen verschiedenen
Formen kann der Baukust nur diejenige anhängend zur Seite stehen,
worin ein der äußern Zweckmäßigkeit dienendes Erzeugniß verschönert
wird vergl. §. 546. Unter äußerer Zweckmäßigkeit kann hier natürlich
nicht jene umfassendere verstanden werden, welcher die Baukunst selbst
dient, sondern nur das Gebiet der untergeordneten Zwecke, das sich nie-
mals zu der Höhe jenes absoluten Selbstzweckes erheben kann wie der
Bauzweck im Tempel, das Gebiet des einzelnen Bedürfnisses, wofür sich

Anhang.

Die untergeordnete Tektonik.

§. 596.

An die Baukunſt ſchließen ſich verſchiedene Arten techniſcher Thätigkeit1.
an, welche nur Zweckmäßiges hervorbringen, aber daſſelbe auf Grundlage des
architektoniſchen Styls verſchönern, wobei die äſthetiſche Aufgabe darin be-
ſteht, daß der anhängende Schmuck zwar ſpielend, doch in organiſch klarer
Weiſe den Zweck ausdrücke. Am nächſten ſteht der Baukunſt die Fügung und2.
Verzierung unbeweglicher, gewiſſen im Bauzwecke ſelbſt begriffenen Bedürfniſſen
dienender Werke; auch die Technik größerer, beweglicher oder zwar kleinerer,
aber auf das Geradlinige angewieſener Geräthe ſchließt ſich ihr in innigem
Zuſammenhang an. Dagegen nähert ſich die Technik der Gefäße und des
handlichen Geräthes durch Vorherrſchen des Runden und der Nachbildung orga-
niſcher Formen in der Verzierung dem Gebiete der nächſtfolgenden, die concrete
Geſtalt nachahmenden Kunſt. Auch die Bekleidung architektoniſcher Räume
und größerer Geräthe mit weichen Stoffen und die äſthetiſchen Motive in der
Anfertigung derſelben knüpfen ſich an das Gebiet der Architektur. Die Ge-3.
ſchichte des Styls in dieſer reichen Formenwelt folgt überall den Epochen des
Bau-Styls.

1. Die Baukunſt ſelbſt im Ganzen und Großen iſt das Extrem,
wodurch die Kunſt ihre Wurzel im Lebensbedürfniß und Handwerk hat,
indem ſie zunächſt dem Zwecke der geſchützten Wohnung dient und von
dieſem Ausgangspuncte ſich zur würdigen Umſchließung eines durch den
abſoluten Selbſtzweck der Idee geforderten Innern erhebt. Jede Kunſt
hat nun ihre anhängenden Formen, worin ein an ſich Außeräſthetiſches
durch äſthetiſche Zuthat gehoben oder als lebendiger Stoff zu äſthetiſcher
Darſtellung verwendet wird vergl. §. 545 ff. Unter dieſen verſchiedenen
Formen kann der Baukuſt nur diejenige anhängend zur Seite ſtehen,
worin ein der äußern Zweckmäßigkeit dienendes Erzeugniß verſchönert
wird vergl. §. 546. Unter äußerer Zweckmäßigkeit kann hier natürlich
nicht jene umfaſſendere verſtanden werden, welcher die Baukunſt ſelbſt
dient, ſondern nur das Gebiet der untergeordneten Zwecke, das ſich nie-
mals zu der Höhe jenes abſoluten Selbſtzweckes erheben kann wie der
Bauzweck im Tempel, das Gebiet des einzelnen Bedürfniſſes, wofür ſich

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[331/0171] Anhang. Die untergeordnete Tektonik. §. 596. An die Baukunſt ſchließen ſich verſchiedene Arten techniſcher Thätigkeit an, welche nur Zweckmäßiges hervorbringen, aber daſſelbe auf Grundlage des architektoniſchen Styls verſchönern, wobei die äſthetiſche Aufgabe darin be- ſteht, daß der anhängende Schmuck zwar ſpielend, doch in organiſch klarer Weiſe den Zweck ausdrücke. Am nächſten ſteht der Baukunſt die Fügung und Verzierung unbeweglicher, gewiſſen im Bauzwecke ſelbſt begriffenen Bedürfniſſen dienender Werke; auch die Technik größerer, beweglicher oder zwar kleinerer, aber auf das Geradlinige angewieſener Geräthe ſchließt ſich ihr in innigem Zuſammenhang an. Dagegen nähert ſich die Technik der Gefäße und des handlichen Geräthes durch Vorherrſchen des Runden und der Nachbildung orga- niſcher Formen in der Verzierung dem Gebiete der nächſtfolgenden, die concrete Geſtalt nachahmenden Kunſt. Auch die Bekleidung architektoniſcher Räume und größerer Geräthe mit weichen Stoffen und die äſthetiſchen Motive in der Anfertigung derſelben knüpfen ſich an das Gebiet der Architektur. Die Ge- ſchichte des Styls in dieſer reichen Formenwelt folgt überall den Epochen des Bau-Styls. 1. Die Baukunſt ſelbſt im Ganzen und Großen iſt das Extrem, wodurch die Kunſt ihre Wurzel im Lebensbedürfniß und Handwerk hat, indem ſie zunächſt dem Zwecke der geſchützten Wohnung dient und von dieſem Ausgangspuncte ſich zur würdigen Umſchließung eines durch den abſoluten Selbſtzweck der Idee geforderten Innern erhebt. Jede Kunſt hat nun ihre anhängenden Formen, worin ein an ſich Außeräſthetiſches durch äſthetiſche Zuthat gehoben oder als lebendiger Stoff zu äſthetiſcher Darſtellung verwendet wird vergl. §. 545 ff. Unter dieſen verſchiedenen Formen kann der Baukuſt nur diejenige anhängend zur Seite ſtehen, worin ein der äußern Zweckmäßigkeit dienendes Erzeugniß verſchönert wird vergl. §. 546. Unter äußerer Zweckmäßigkeit kann hier natürlich nicht jene umfaſſendere verſtanden werden, welcher die Baukunſt ſelbſt dient, ſondern nur das Gebiet der untergeordneten Zwecke, das ſich nie- mals zu der Höhe jenes abſoluten Selbſtzweckes erheben kann wie der Bauzweck im Tempel, das Gebiet des einzelnen Bedürfniſſes, wofür ſich

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 331. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/171>, abgerufen am 24.11.2024.