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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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nieder? Allein wir befinden uns in der Lehre von einer sehr schwierigen
Kunst, deren geistige Geheimnisse nicht erörtert werden können, ehe ein
allgemeines Bild des äußeren Werkes gegeben ist, das sie hinstellt. Es
ist daher zweckmäßiger, hier von außen nach innen zu gehen und zunächst
die zweite Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.), die structive, aufzufassen.
Es muß dem Gesetze der Schwere Genüge geschehen. Aber eben diese
Bindung soll in ein ästhetisches Motiv verwandelt werden, denn es wäre
nicht abzusehen, wie die Architektur zur schönen Kunst sich erheben sollte,
wenn gerade das Gesetz des Gebietes, worin sie sich bewegt, ihr nichts
wäre, als eine Schwierigkeit. Vielmehr die künstlerische Begeisterung muß
sich wesentlich auf diesen Punct werfen und gerade in das Gebiet der
Schwere selbst die Poesie einführen. Nun versteht sich, daß diese Idea-
lisirung der Schwere nicht wirklich eine Aufhebung derselben sein kann,
denn diese ist unabänderliches Gesetz und jede Uebertretung bestraft sich
einfach mit Einfall und Zerbrechen, aber auch nicht scheinbar, denn des
Grundgesetzes spotten, in dessen Gebiet ich eben meine ästhetischen Wirkungen
suche, ist absurd und wird im Anblick unerträglich: man denke an schiefe
Thürme, Schwebendes, das scheinbar keine Stütze hat. Es liegt hier
ein schwieriger Punct, denn in gewissem Sinne kann man wohl sagen,
daß das, was wir Ueberwindung der Schwere innerhalb ihrer selbst
nennen, eine scheinbare Aufhebung derselben sei: wenn man nämlich unter
Schein nicht die gemeine Täuschung, sondern den ästhetischen, reinen
Schein versteht. Gemeine Täuschung ist, wenn uns der Baumeister etwas
hinstellt, worin die Unterstützung des Schwerpuncts so verborgen ist, daß
wir meinen sollen, es sei durch eine Wunderkraft vom Falle zurückgehal-
ten, was aber vielmehr den Eindruck hervorbringt, als wolle es in jedem
Momente so eben fallen; reiner, ästhetischer Schein ist, wenn bei sichtbar
genügender Unterstützung der Last diese von dem unterstützten Puncte aus,
als hätte sie nun eine gewisse Freiheit erhalten, sich wie in eigener Be-
wegung weiter zu schwingen scheint, doch so, daß, wenn eben dieser Schein
zur beunruhigend gemeinen Täuschung werden könnte, alsbald wieder
sichtbar genügende Unterstützung eintritt. Man sieht, daß hier zunächst
namentlich von Säule und architravisch oder in Wölbung übergespannter
Last als dem Haupt-Ausdrucke des ästhetischen Lebens im Bauwerke die
Rede ist. Auch nicht "theilweise" wird (vergl. Deutinger, d. Gebiet
d. Kunst im Allg. S. 170) hier die Schwere wirklich aufgehoben, denn
der zunächst frei schwebende Theil ist durch die mittelbare Unterstützung in
Wahrheit doch ganz unterstützt. Jener freie ästhetische Schein einer Be-
siegung der Schwere, von dem es sich allein handelt, ist übrigens zugleich
der Schein einer Besiegung der natürlichen Cohärenz des Stoffes, denn
das schwere Material ist zugleich zerbrechlich und wie die Neigung zum

nieder? Allein wir befinden uns in der Lehre von einer ſehr ſchwierigen
Kunſt, deren geiſtige Geheimniſſe nicht erörtert werden können, ehe ein
allgemeines Bild des äußeren Werkes gegeben iſt, das ſie hinſtellt. Es
iſt daher zweckmäßiger, hier von außen nach innen zu gehen und zunächſt
die zweite Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.), die ſtructive, aufzufaſſen.
Es muß dem Geſetze der Schwere Genüge geſchehen. Aber eben dieſe
Bindung ſoll in ein äſthetiſches Motiv verwandelt werden, denn es wäre
nicht abzuſehen, wie die Architektur zur ſchönen Kunſt ſich erheben ſollte,
wenn gerade das Geſetz des Gebietes, worin ſie ſich bewegt, ihr nichts
wäre, als eine Schwierigkeit. Vielmehr die künſtleriſche Begeiſterung muß
ſich weſentlich auf dieſen Punct werfen und gerade in das Gebiet der
Schwere ſelbſt die Poeſie einführen. Nun verſteht ſich, daß dieſe Idea-
liſirung der Schwere nicht wirklich eine Aufhebung derſelben ſein kann,
denn dieſe iſt unabänderliches Geſetz und jede Uebertretung beſtraft ſich
einfach mit Einfall und Zerbrechen, aber auch nicht ſcheinbar, denn des
Grundgeſetzes ſpotten, in deſſen Gebiet ich eben meine äſthetiſchen Wirkungen
ſuche, iſt abſurd und wird im Anblick unerträglich: man denke an ſchiefe
Thürme, Schwebendes, das ſcheinbar keine Stütze hat. Es liegt hier
ein ſchwieriger Punct, denn in gewiſſem Sinne kann man wohl ſagen,
daß das, was wir Ueberwindung der Schwere innerhalb ihrer ſelbſt
nennen, eine ſcheinbare Aufhebung derſelben ſei: wenn man nämlich unter
Schein nicht die gemeine Täuſchung, ſondern den äſthetiſchen, reinen
Schein verſteht. Gemeine Täuſchung iſt, wenn uns der Baumeiſter etwas
hinſtellt, worin die Unterſtützung des Schwerpuncts ſo verborgen iſt, daß
wir meinen ſollen, es ſei durch eine Wunderkraft vom Falle zurückgehal-
ten, was aber vielmehr den Eindruck hervorbringt, als wolle es in jedem
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genügender Unterſtützung der Laſt dieſe von dem unterſtützten Puncte aus,
als hätte ſie nun eine gewiſſe Freiheit erhalten, ſich wie in eigener Be-
wegung weiter zu ſchwingen ſcheint, doch ſo, daß, wenn eben dieſer Schein
zur beunruhigend gemeinen Täuſchung werden könnte, alsbald wieder
ſichtbar genügende Unterſtützung eintritt. Man ſieht, daß hier zunächſt
namentlich von Säule und architraviſch oder in Wölbung übergeſpannter
Laſt als dem Haupt-Ausdrucke des äſthetiſchen Lebens im Bauwerke die
Rede iſt. Auch nicht „theilweiſe“ wird (vergl. Deutinger, d. Gebiet
d. Kunſt im Allg. S. 170) hier die Schwere wirklich aufgehoben, denn
der zunächſt frei ſchwebende Theil iſt durch die mittelbare Unterſtützung in
Wahrheit doch ganz unterſtützt. Jener freie äſthetiſche Schein einer Be-
ſiegung der Schwere, von dem es ſich allein handelt, iſt übrigens zugleich
der Schein einer Beſiegung der natürlichen Cohärenz des Stoffes, denn
das ſchwere Material iſt zugleich zerbrechlich und wie die Neigung zum

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[188/0028] nieder? Allein wir befinden uns in der Lehre von einer ſehr ſchwierigen Kunſt, deren geiſtige Geheimniſſe nicht erörtert werden können, ehe ein allgemeines Bild des äußeren Werkes gegeben iſt, das ſie hinſtellt. Es iſt daher zweckmäßiger, hier von außen nach innen zu gehen und zunächſt die zweite Seite der Abhängigkeit (§. 555, 1.), die ſtructive, aufzufaſſen. Es muß dem Geſetze der Schwere Genüge geſchehen. Aber eben dieſe Bindung ſoll in ein äſthetiſches Motiv verwandelt werden, denn es wäre nicht abzuſehen, wie die Architektur zur ſchönen Kunſt ſich erheben ſollte, wenn gerade das Geſetz des Gebietes, worin ſie ſich bewegt, ihr nichts wäre, als eine Schwierigkeit. Vielmehr die künſtleriſche Begeiſterung muß ſich weſentlich auf dieſen Punct werfen und gerade in das Gebiet der Schwere ſelbſt die Poeſie einführen. Nun verſteht ſich, daß dieſe Idea- liſirung der Schwere nicht wirklich eine Aufhebung derſelben ſein kann, denn dieſe iſt unabänderliches Geſetz und jede Uebertretung beſtraft ſich einfach mit Einfall und Zerbrechen, aber auch nicht ſcheinbar, denn des Grundgeſetzes ſpotten, in deſſen Gebiet ich eben meine äſthetiſchen Wirkungen ſuche, iſt abſurd und wird im Anblick unerträglich: man denke an ſchiefe Thürme, Schwebendes, das ſcheinbar keine Stütze hat. Es liegt hier ein ſchwieriger Punct, denn in gewiſſem Sinne kann man wohl ſagen, daß das, was wir Ueberwindung der Schwere innerhalb ihrer ſelbſt nennen, eine ſcheinbare Aufhebung derſelben ſei: wenn man nämlich unter Schein nicht die gemeine Täuſchung, ſondern den äſthetiſchen, reinen Schein verſteht. Gemeine Täuſchung iſt, wenn uns der Baumeiſter etwas hinſtellt, worin die Unterſtützung des Schwerpuncts ſo verborgen iſt, daß wir meinen ſollen, es ſei durch eine Wunderkraft vom Falle zurückgehal- ten, was aber vielmehr den Eindruck hervorbringt, als wolle es in jedem Momente ſo eben fallen; reiner, äſthetiſcher Schein iſt, wenn bei ſichtbar genügender Unterſtützung der Laſt dieſe von dem unterſtützten Puncte aus, als hätte ſie nun eine gewiſſe Freiheit erhalten, ſich wie in eigener Be- wegung weiter zu ſchwingen ſcheint, doch ſo, daß, wenn eben dieſer Schein zur beunruhigend gemeinen Täuſchung werden könnte, alsbald wieder ſichtbar genügende Unterſtützung eintritt. Man ſieht, daß hier zunächſt namentlich von Säule und architraviſch oder in Wölbung übergeſpannter Laſt als dem Haupt-Ausdrucke des äſthetiſchen Lebens im Bauwerke die Rede iſt. Auch nicht „theilweiſe“ wird (vergl. Deutinger, d. Gebiet d. Kunſt im Allg. S. 170) hier die Schwere wirklich aufgehoben, denn der zunächſt frei ſchwebende Theil iſt durch die mittelbare Unterſtützung in Wahrheit doch ganz unterſtützt. Jener freie äſthetiſche Schein einer Be- ſiegung der Schwere, von dem es ſich allein handelt, iſt übrigens zugleich der Schein einer Beſiegung der natürlichen Cohärenz des Stoffes, denn das ſchwere Material iſt zugleich zerbrechlich und wie die Neigung zum

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 188. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/28>, abgerufen am 21.11.2024.