Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
bei einem Gebäude redet, daß man sein structives Wechselverhältniß,
bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0036" n="196"/> bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß,<lb/> worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis-<lb/> mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen<lb/> nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt<lb/> dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch<lb/> abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter-<lb/> ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch<lb/> markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender,<lb/> wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu<lb/> Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco-<lb/> rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja<lb/> des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der<lb/> Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht,<lb/> als <hi rendition="#g">wolle</hi> ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt<lb/> und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr<lb/> behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor-<lb/> gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen<lb/> Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll,<lb/> wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde,<lb/> als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel<lb/> gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer,<lb/> Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er-<lb/> wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den<lb/> eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme<lb/> und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung<lb/> der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur<lb/> gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf<lb/> einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer<lb/> irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich,<lb/> ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen<lb/> Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um-<lb/> flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge-<lb/> meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene<lb/> Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel<lb/> in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen<lb/> der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch-<lb/> gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung<lb/> gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle<lb/> Leben <hi rendition="#g">nur allgemein</hi> ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge-<lb/> funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie<lb/> eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [196/0036]
bei einem Gebäude redet, daß man ſein ſtructives Wechſelverhältniß,
worin Alles gegenſeitig Zweck und Mittel, alſo Glied iſt, einen Organis-
mus nennt, und die energiſchen Umſäumungen der Decoration erſcheinen
nun weſentlich wie Gelenke. Aber auch an das Geiſtesleben gemahnt
dieſes kryſtalliſche Geſetz des herrſchenden Mittelpunctes: es iſt der noch
abſtracte, ſtarre Ausdruck der Einheit des Geiſtes mit ſich in ſeinen Unter-
ſchieden, und wie ſich der Geiſt in ſeinem Zeitleben dieſe Einheit periodiſch
markirt, ſo werden wir auch in der Baukunſt ein Syſtem markirender,
wiederkehrender Theilungen ſich entwickeln ſehen. Von dieſen dunkel zu
Grund liegenden Anklängen geht die Baukunſt, nur behutſamer, im deco-
rativen Theile zu einem eigentlichen Nachbilden auch des animaliſchen, ja
des höchſten Organiſchen, des menſchlichen Leibs über, das Letztere in der
Säule: da dieſe emporſchwellende Bildung überhaupt einen Eindruck macht,
als wolle ſie tragen, ſo macht der Künſtler aus dieſem Anklang Ernſt
und ſtellt tragende Menſchengeſtalten als Säulen auf. Daß dieß nur ſehr
behutſam und ſparſam geſchehen darf, muß ſchon hier ausdrücklich hervor-
gehoben werden, weil es ein Vorgriff iſt in das Reich der eigentlichen
Individualität, welche ja übrigens in der Baukunſt nur ſo anklingen ſoll,
wie die Erde als Niederſchlag des Urſtoffs, aus dem alles Lebendige wurde,
als Urkeim des Lebens uns an dieſes Leben als wirkliches Daſein dunkel
gemahnt. Wie aber nur die ganze Landſchaft mit Licht, Luft, Waſſer,
Pflanze, Thier und Menſch uns dieſes Daſein wirklich vorführt, ſo er-
wartet auch die Baukunſt ihre Ergänzung durch das Götterbild, durch den
eintretenden Menſchen, und bleibt daher verhältnißmäßig immer eine arme
und abſtracte Kunſt; doch überſehe man nicht, daß auch die Mitwirkung
der wirklichen Landſchaft weſentlich und bleibend zum Werke der Architektur
gehört, da es ja, was noch beſonders herausgeſtellt werden wird, immer auf
einen beſtimmten Ort berechnet iſt, deſſen Linien mit den ſeinigen immer
irgendwie individuell, d. h. in jedem einzelnen Bauwerk eigenthümlich,
ſich zuſammenbauen: hier fügt ſich denn ſelbſt der Reiz der im eigentlichen
Sinn frei ſpielenden Linie, des Lichts, der Luft, der Pflanzen, der um-
flatternden Vögel, der wandelnden Thiere und Menſchen dem ſtreng ge-
meſſenen Ganzen an. — Schließlich iſt nun leicht zu zeigen, wie jene
Antinomie zwiſchen der ſtreng klaren Verſtändigkeit und dem Naturdunkel
in der Baukunſt ſich löst: das Dunkle liegt in jenem taſtenden Suchen
der Phantaſie nach Formen, die nur verhüllt durch die Natur hindurch-
gehen und in keinem klar gegenüberſtehenden Objecte der Nachbildung
gegeben ſind: es ſind nicht individualiſirte, ſondern durch das individuelle
Leben nur allgemein ſich hindurchziehende Formen; ſobald ſie nun ge-
funden und in einem innern Bilde zuſammengeſtellt ſind, unterliegen ſie
eben, weil ſie nur allgemein ſind, der ſtrengen, nüchternen Meſſung. Das
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