Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder §. 567. Das zweite Gesetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu bestimmen hat
dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder §. 567. Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0066" n="226"/> dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder<lb/> entlaſtet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da-<lb/> durch einen noch ſtrengern Haushalt einführt. Von den Gliedern<lb/> im engern Sinne wiſſen wir (§. 557) bereits ſoviel, daß ſie<lb/> das ſtructive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen<lb/> Dienſtleiſtung nur äſthetiſch ausſprechen; es wird ſich fragen, wie weit<lb/> das Geſetz der Oekonomie wenigſtens einen Schein des Fungirens von ihnen<lb/> fordere, doch muß ſchon hier einleuchten, daß ſelbſt ſolche Zierden, welche<lb/> auch nicht ſcheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt ſind,<lb/> ſondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten<lb/> am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus-<lb/> athmens der Kräfte, durch daſſelbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge-<lb/> ſchloſſen ſein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem<lb/> durch dieſe Andeutung ſeine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen<lb/> geſetzt iſt. — In §. 496 iſt an das vorliegende Compoſitionsgeſetz die<lb/> Frage nach Recht und Umfang der <hi rendition="#g">Epiſode</hi> angeknüpft; die Anmerkung<lb/> erwähnt als Beiſpiel in der Baukunſt den Erker, dahin gehört auch der<lb/> Balkon, es handelt ſich aber vornehmlich vom höchſten Zweige der Bau-<lb/> kunſt und da iſt z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die<lb/> Sache iſt dadurch ſchwierig, daß uns im gegenwärtigen Zuſammenhange<lb/> das Geſetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund-<lb/> weſentlich, ſondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung<lb/> einer Familie, einer Innung, die im urſprünglichen Plane nicht mitberech-<lb/> net war) bedingt iſt, wird durch die Symmetrie doch ſo in das Ganze<lb/> hineingezogen, daß er integrirend erſcheint, und dem entſpricht die innere<lb/> Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie ſie Familien-<lb/> begräbniſſe, Seitenaltäre in angehängten Kapellen ſtiftet) doch eben ein<lb/> Ausfluß des Allgemeinen iſt, dem der ganze Bau dient, wie denn auch<lb/> in der weltlichen Baukunſt ſolche Anſätze, die das Intereſſe weiteren gebil-<lb/> deten Genuſſes, öffentlichen Darſtellens und Heraustretens u. dergl. noch<lb/> über den Umfang des ſtrengeren Grundplans fordert, aus dem urſprüng-<lb/> lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es ſtörend ſei oder nicht,<lb/> wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, iſt <hi rendition="#aq">in abstracto</hi> nicht zu<lb/> entſcheiden; ein Styl iſt darin nothwendig ſtrenger, als der andere. Wird<lb/> aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, ſo iſt<lb/> er architektoniſch ein Fehler und nur die liberale maleriſch hiſtoriſche Be-<lb/> trachtung mag ſich mit ihm verſöhnen.</hi> </p> </div><lb/> <div n="7"> <head>§. 567.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat<lb/> (§. 497), ſchreibt der Baukunſt als poſitive, aber noch abſtracte Grundlage der Schön-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [226/0066]
dagegen der mittelalterliche Bau durch die Rippen die Gewölbefelder
entlaſtet, allen Schub auf die Strebepfeiler hinausleitet und da-
durch einen noch ſtrengern Haushalt einführt. Von den Gliedern
im engern Sinne wiſſen wir (§. 557) bereits ſoviel, daß ſie
das ſtructive Leben des Baus mit wenig oder gar keiner eigentlichen
Dienſtleiſtung nur äſthetiſch ausſprechen; es wird ſich fragen, wie weit
das Geſetz der Oekonomie wenigſtens einen Schein des Fungirens von ihnen
fordere, doch muß ſchon hier einleuchten, daß ſelbſt ſolche Zierden, welche
auch nicht ſcheinbar tragen oder durch einen fingirten Druck erzeugt ſind,
ſondern eine Beendung, einen Schluß anzeigen, wie Akroterien, Palmetten
am Stirnziegel, Schlußblumen, als ein wohlbegründeter Ausdruck des Aus-
athmens der Kräfte, durch daſſelbe nicht als müßiger Ueberfluß ausge-
ſchloſſen ſein können. Das Glied geht hier in das Ornament über, dem
durch dieſe Andeutung ſeine Berechtigung und Grenze im Allgemeinen
geſetzt iſt. — In §. 496 iſt an das vorliegende Compoſitionsgeſetz die
Frage nach Recht und Umfang der Epiſode angeknüpft; die Anmerkung
erwähnt als Beiſpiel in der Baukunſt den Erker, dahin gehört auch der
Balkon, es handelt ſich aber vornehmlich vom höchſten Zweige der Bau-
kunſt und da iſt z. B. an Seitenkapellen einer Kirche zu erinnern. Die
Sache iſt dadurch ſchwierig, daß uns im gegenwärtigen Zuſammenhange
das Geſetz der Symmetrie noch nicht vorliegt; ein Anbau, der nicht grund-
weſentlich, ſondern nur durch ein hinzukommendes Motiv (wie Stiftung
einer Familie, einer Innung, die im urſprünglichen Plane nicht mitberech-
net war) bedingt iſt, wird durch die Symmetrie doch ſo in das Ganze
hineingezogen, daß er integrirend erſcheint, und dem entſpricht die innere
Wahrheit, daß ein Werk individueller Frömmigkeit (wie ſie Familien-
begräbniſſe, Seitenaltäre in angehängten Kapellen ſtiftet) doch eben ein
Ausfluß des Allgemeinen iſt, dem der ganze Bau dient, wie denn auch
in der weltlichen Baukunſt ſolche Anſätze, die das Intereſſe weiteren gebil-
deten Genuſſes, öffentlichen Darſtellens und Heraustretens u. dergl. noch
über den Umfang des ſtrengeren Grundplans fordert, aus dem urſprüng-
lichen Bauzwecke natürlich fließen. Wie weit es ſtörend ſei oder nicht,
wenn man die nachträgliche Anfügung erkennt, iſt in abstracto nicht zu
entſcheiden; ein Styl iſt darin nothwendig ſtrenger, als der andere. Wird
aber der Anbau nicht in die Symmetrie des Ganzen hineingezogen, ſo iſt
er architektoniſch ein Fehler und nur die liberale maleriſch hiſtoriſche Be-
trachtung mag ſich mit ihm verſöhnen.
§. 567.
Das zweite Geſetz, welches das Werthverhältniß der Theile zu beſtimmen hat
(§. 497), ſchreibt der Baukunſt als poſitive, aber noch abſtracte Grundlage der Schön-
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