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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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heit die Proportion vor. Sie bestimmt das Verhältniß der untergeordneten
zu den herrschenden Theilen, für alle Theile die Verhältnisse der Länge, der
Höhe, der Dicke und Breite untereinander.

In §. 497 hieß dieses Gesetz das der Ueberordnung, Nebenordnung,
Unterordnung. Der dadurch bezeichnete Werth-Unterschied muß nun in
der Architektur als einer messenden Kunst nothwendig zunächst als ein
Größen-Verhältniß erscheinen, worin ein Verhältniß der Stärke (Dicke)
einbegriffen ist. Dieses Quantitative wird allerdings von einem Quali-
tativen durchkreuzt, d. h. von einem Unterschied im Maaße der Durch-
gliederung und Reichthum des Schmucks, jedoch so, daß innerhalb der
feiner gegliederten und geschmückteren Theile selbst wieder der Werth-
unterschied sich in einem Größenverhältniß ausdrückt. Das Maaßgesetz in
der Baukunst ist denn wesentlich ein Gesetz der gegenseitigen Verhält-
nisse
, der Proportion. In diesem Gesetze ist keineswegs schon das
Ganze der architektonischen Schönheit enthalten; wenn wir zu §. 566
gesagt haben, ihr ganzes Geheimniß liege im Verhältniß, so war dort im
Begriffe des Verhältnisses noch wesentlich Tieferes mitbefaßt, nämlich ein
Verhältnißleben der structiven Leistungen. Wäre das Größenverhältniß
Alles, so müßten bestimmte Maaßverhältnisse als Richtschnur aufgestellt
werden können; davon kann aber keine Rede sein; die classische Baukunst
wurde erst, als ihr inneres Leben vertrocknet war, von der Doctrin auf
einen Kanon von Maaßen reduzirt. Die Erfindung tritt als Qualitatives
erst hinzu und gibt jedem Kunstwerk, wie sie ihm sein tieferes, im Größen-
verhältniß nicht erschöpftes Leben einhaucht, so auch seine eigenen Maaße
und es bleibt insoweit auch in Beziehung auf unsere Kunst bei dem Satze
§. 35 und 36, 2., der jede bestimmte Maaßnorm für das Schöne verwirft.
Nichtsdestoweniger enthält das Gesetz des Größenverhältnisses mehr, als
eine blos äußerliche und negative Bedingung, damit Schönes entstehen
könne, seine Unzulänglichkeit zur Begründung des ganzen Schönen besteht
blos darin, daß es die zwar positive, aber nur erst abstracte Grundlage
ausspricht, die sich zur wirklich schönen Gestalt verhält, wie das Knochen-
gerüst mit seinen Maaßen zu dem organischen Leib. Näheres kann über
das vorliegende Gesetz an der gegenwärtigen Stelle überhaupt nicht aus-
gesprochen werden, denn nicht nur keine bestimmten Maaße für die Theile
eines Baus lassen sich angeben, sondern auch mit Verzichtung darauf läßt
sich im Allgemeinen nicht sagen, was ein Herrschendes, was ein Unter-
geordnetes, was dem Untergeordneten wieder untergeordnet sei und wie
sich dieß theils in den Größenverhältnissen überhaupt, theils inner-
halb des Werth-Unterschieds in Gliederung und Ausschmückung, der die
allgemeinen Größenverhältnisse durchkreuzt, ausdrücken müsse. Denn nicht

heit die Proportion vor. Sie beſtimmt das Verhältniß der untergeordneten
zu den herrſchenden Theilen, für alle Theile die Verhältniſſe der Länge, der
Höhe, der Dicke und Breite untereinander.

In §. 497 hieß dieſes Geſetz das der Ueberordnung, Nebenordnung,
Unterordnung. Der dadurch bezeichnete Werth-Unterſchied muß nun in
der Architektur als einer meſſenden Kunſt nothwendig zunächſt als ein
Größen-Verhältniß erſcheinen, worin ein Verhältniß der Stärke (Dicke)
einbegriffen iſt. Dieſes Quantitative wird allerdings von einem Quali-
tativen durchkreuzt, d. h. von einem Unterſchied im Maaße der Durch-
gliederung und Reichthum des Schmucks, jedoch ſo, daß innerhalb der
feiner gegliederten und geſchmückteren Theile ſelbſt wieder der Werth-
unterſchied ſich in einem Größenverhältniß ausdrückt. Das Maaßgeſetz in
der Baukunſt iſt denn weſentlich ein Geſetz der gegenſeitigen Verhält-
niſſe
, der Proportion. In dieſem Geſetze iſt keineswegs ſchon das
Ganze der architektoniſchen Schönheit enthalten; wenn wir zu §. 566
geſagt haben, ihr ganzes Geheimniß liege im Verhältniß, ſo war dort im
Begriffe des Verhältniſſes noch weſentlich Tieferes mitbefaßt, nämlich ein
Verhältnißleben der ſtructiven Leiſtungen. Wäre das Größenverhältniß
Alles, ſo müßten beſtimmte Maaßverhältniſſe als Richtſchnur aufgeſtellt
werden können; davon kann aber keine Rede ſein; die claſſiſche Baukunſt
wurde erſt, als ihr inneres Leben vertrocknet war, von der Doctrin auf
einen Kanon von Maaßen reduzirt. Die Erfindung tritt als Qualitatives
erſt hinzu und gibt jedem Kunſtwerk, wie ſie ihm ſein tieferes, im Größen-
verhältniß nicht erſchöpftes Leben einhaucht, ſo auch ſeine eigenen Maaße
und es bleibt inſoweit auch in Beziehung auf unſere Kunſt bei dem Satze
§. 35 und 36, 2., der jede beſtimmte Maaßnorm für das Schöne verwirft.
Nichtsdeſtoweniger enthält das Geſetz des Größenverhältniſſes mehr, als
eine blos äußerliche und negative Bedingung, damit Schönes entſtehen
könne, ſeine Unzulänglichkeit zur Begründung des ganzen Schönen beſteht
blos darin, daß es die zwar poſitive, aber nur erſt abſtracte Grundlage
ausſpricht, die ſich zur wirklich ſchönen Geſtalt verhält, wie das Knochen-
gerüſt mit ſeinen Maaßen zu dem organiſchen Leib. Näheres kann über
das vorliegende Geſetz an der gegenwärtigen Stelle überhaupt nicht aus-
geſprochen werden, denn nicht nur keine beſtimmten Maaße für die Theile
eines Baus laſſen ſich angeben, ſondern auch mit Verzichtung darauf läßt
ſich im Allgemeinen nicht ſagen, was ein Herrſchendes, was ein Unter-
geordnetes, was dem Untergeordneten wieder untergeordnet ſei und wie
ſich dieß theils in den Größenverhältniſſen überhaupt, theils inner-
halb des Werth-Unterſchieds in Gliederung und Ausſchmückung, der die
allgemeinen Größenverhältniſſe durchkreuzt, ausdrücken müſſe. Denn nicht

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[227/0067] heit die Proportion vor. Sie beſtimmt das Verhältniß der untergeordneten zu den herrſchenden Theilen, für alle Theile die Verhältniſſe der Länge, der Höhe, der Dicke und Breite untereinander. In §. 497 hieß dieſes Geſetz das der Ueberordnung, Nebenordnung, Unterordnung. Der dadurch bezeichnete Werth-Unterſchied muß nun in der Architektur als einer meſſenden Kunſt nothwendig zunächſt als ein Größen-Verhältniß erſcheinen, worin ein Verhältniß der Stärke (Dicke) einbegriffen iſt. Dieſes Quantitative wird allerdings von einem Quali- tativen durchkreuzt, d. h. von einem Unterſchied im Maaße der Durch- gliederung und Reichthum des Schmucks, jedoch ſo, daß innerhalb der feiner gegliederten und geſchmückteren Theile ſelbſt wieder der Werth- unterſchied ſich in einem Größenverhältniß ausdrückt. Das Maaßgeſetz in der Baukunſt iſt denn weſentlich ein Geſetz der gegenſeitigen Verhält- niſſe, der Proportion. In dieſem Geſetze iſt keineswegs ſchon das Ganze der architektoniſchen Schönheit enthalten; wenn wir zu §. 566 geſagt haben, ihr ganzes Geheimniß liege im Verhältniß, ſo war dort im Begriffe des Verhältniſſes noch weſentlich Tieferes mitbefaßt, nämlich ein Verhältnißleben der ſtructiven Leiſtungen. Wäre das Größenverhältniß Alles, ſo müßten beſtimmte Maaßverhältniſſe als Richtſchnur aufgeſtellt werden können; davon kann aber keine Rede ſein; die claſſiſche Baukunſt wurde erſt, als ihr inneres Leben vertrocknet war, von der Doctrin auf einen Kanon von Maaßen reduzirt. Die Erfindung tritt als Qualitatives erſt hinzu und gibt jedem Kunſtwerk, wie ſie ihm ſein tieferes, im Größen- verhältniß nicht erſchöpftes Leben einhaucht, ſo auch ſeine eigenen Maaße und es bleibt inſoweit auch in Beziehung auf unſere Kunſt bei dem Satze §. 35 und 36, 2., der jede beſtimmte Maaßnorm für das Schöne verwirft. Nichtsdeſtoweniger enthält das Geſetz des Größenverhältniſſes mehr, als eine blos äußerliche und negative Bedingung, damit Schönes entſtehen könne, ſeine Unzulänglichkeit zur Begründung des ganzen Schönen beſteht blos darin, daß es die zwar poſitive, aber nur erſt abſtracte Grundlage ausſpricht, die ſich zur wirklich ſchönen Geſtalt verhält, wie das Knochen- gerüſt mit ſeinen Maaßen zu dem organiſchen Leib. Näheres kann über das vorliegende Geſetz an der gegenwärtigen Stelle überhaupt nicht aus- geſprochen werden, denn nicht nur keine beſtimmten Maaße für die Theile eines Baus laſſen ſich angeben, ſondern auch mit Verzichtung darauf läßt ſich im Allgemeinen nicht ſagen, was ein Herrſchendes, was ein Unter- geordnetes, was dem Untergeordneten wieder untergeordnet ſei und wie ſich dieß theils in den Größenverhältniſſen überhaupt, theils inner- halb des Werth-Unterſchieds in Gliederung und Ausſchmückung, der die allgemeinen Größenverhältniſſe durchkreuzt, ausdrücken müſſe. Denn nicht

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 227. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/67>, abgerufen am 24.11.2024.