Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
Schule noch hat, er wird in einem Grade individualisirend und natura-
Schule noch hat, er wird in einem Grade individualiſirend und natura- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0155" n="481"/> Schule noch hat, er wird in einem Grade individualiſirend und natura-<lb/> liſirend verfahren, der über die feine Linie hinausgeht, welche wir die-<lb/> ſer Richtung gezogen. Die Griechen auf heimiſchem Boden halten immer<lb/> noch treuer am Stylgeſetze, auch die Schule von Pergamon, wiewohl die<lb/> gute Zeit ſchwerlich jene barbariſchen Keltenphyſiognomien in ſelbſtändiger<lb/> Aufſtellung gewagt hätte. In <hi rendition="#g">Rom</hi> aber, nachdem ſchon der etruskiſche<lb/> Styl einen härtern Naturaliſmus und eigenthümliche Porträtartige Schärfe<lb/> gezeigt, greift, nachdem die Bildnerkunſt aus Griechenland nach Italien<lb/> verpflanzt iſt, der griechiſche und einheimiſche Künſtler nicht nur mit weit<lb/> offener Hand in die nächſte geſchichtliche Stoffwelt (namentlich ihre Kriegs-<lb/> geſchichte als Gegenſtand des Relief), ſondern läßt ſich in die Zufällig-<lb/> keiten der Natur, unedlere Culturformen und die Einzelnheiten indivi-<lb/> dueller Bildung in einem Umfang ein, der auch nach dieſer Seite Thür<lb/> und Thor weit hinaus über das reine Stylgeſetz öffnet. Wir haben ge-<lb/> ſagt, dieſe Entlaſſung auch der Formen vom ſtrengeren Bande werde na-<lb/> turgemäß mit jener Erweiterung des Stoffs eintreten; dagegen werden<lb/> wir im Mittelalter allerdings finden, daß ſich ein harter Individualiſmus<lb/> und Naturaliſmus <hi rendition="#g">trotz</hi> der faſt ausſchließlichen Herrſchaft mythiſcher<lb/> Stoffe ausbildet; da hängt aber die Sache überhaupt anders zuſammen;<lb/> für das Alterthum, das <hi rendition="#g">prinzipiell</hi> mythiſch anſchaute, war das<lb/> Ideal der Gottheit auch das Band des ſtrengen Styls und lockert ſich<lb/> erſt mit dem Nachlaſſe des Bandes auch dieſer. Für die neuere Zeit aber<lb/> trifft der Mangel eines Olymps und die Nothwendigkeit des Zugs zum<lb/> Naturaliſmus und Individualiſmus ſo zuſammen, daß das Fortleben der<lb/> Plaſtik <hi rendition="#g">gleichzeitig</hi> durch <hi rendition="#g">beide</hi> Urſachen in Frage geſtellt wird,<lb/> wofür dagegen aus anderweitiger Quelle eine gewiſſe beſchränkte Her-<lb/> ſtellung des idealen Kreiſes, zugleich eine Reſtauration des idealen Styls<lb/> und dadurch eine Mäßigung des Individualiſmus und Naturaliſmus er-<lb/> möglicht wird, welche die Lage dieſer Kunſt wieder günſtiger ſtellt, als<lb/> im Mittelalter. Das Alterthum aber hatte doch immer noch ſeine Göt-<lb/> ter und das Beſtehen des idealen Kreiſes ſammt dem Nachklang der An-<lb/> ſchauungsweiſe, die ihn geſchaffen, erhielt noch ſpät Reſte des reinen<lb/> Stylgeſetzes in Kraft, die den Künſtler mit einer gewiſſen Sicherheit führ-<lb/> ten; ſelbſt der Fettkopf eines Domitian iſt noch plaſtiſch antik behandelt<lb/> und ein Aeußerſtes, wie runzlichte alte Weiber mit hängenden Brüſten,<lb/> iſt ſelten. Die Ueppigkeit und die Mengung der Religionen führt erſt<lb/> den völligen Zerfall des plaſtiſchen Sinnes herbei, der zugleich Rückfall<lb/> in den Kindheitszuſtand der ſymboliſchen Formgemiſche, der Herrſchaft des<lb/> Coloſſalen, des Prunks mit koſtbarem Material und in die Virtuoſität<lb/> der bloßen Technik iſt.</hi> </p> </div> </div><lb/> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [481/0155]
Schule noch hat, er wird in einem Grade individualiſirend und natura-
liſirend verfahren, der über die feine Linie hinausgeht, welche wir die-
ſer Richtung gezogen. Die Griechen auf heimiſchem Boden halten immer
noch treuer am Stylgeſetze, auch die Schule von Pergamon, wiewohl die
gute Zeit ſchwerlich jene barbariſchen Keltenphyſiognomien in ſelbſtändiger
Aufſtellung gewagt hätte. In Rom aber, nachdem ſchon der etruskiſche
Styl einen härtern Naturaliſmus und eigenthümliche Porträtartige Schärfe
gezeigt, greift, nachdem die Bildnerkunſt aus Griechenland nach Italien
verpflanzt iſt, der griechiſche und einheimiſche Künſtler nicht nur mit weit
offener Hand in die nächſte geſchichtliche Stoffwelt (namentlich ihre Kriegs-
geſchichte als Gegenſtand des Relief), ſondern läßt ſich in die Zufällig-
keiten der Natur, unedlere Culturformen und die Einzelnheiten indivi-
dueller Bildung in einem Umfang ein, der auch nach dieſer Seite Thür
und Thor weit hinaus über das reine Stylgeſetz öffnet. Wir haben ge-
ſagt, dieſe Entlaſſung auch der Formen vom ſtrengeren Bande werde na-
turgemäß mit jener Erweiterung des Stoffs eintreten; dagegen werden
wir im Mittelalter allerdings finden, daß ſich ein harter Individualiſmus
und Naturaliſmus trotz der faſt ausſchließlichen Herrſchaft mythiſcher
Stoffe ausbildet; da hängt aber die Sache überhaupt anders zuſammen;
für das Alterthum, das prinzipiell mythiſch anſchaute, war das
Ideal der Gottheit auch das Band des ſtrengen Styls und lockert ſich
erſt mit dem Nachlaſſe des Bandes auch dieſer. Für die neuere Zeit aber
trifft der Mangel eines Olymps und die Nothwendigkeit des Zugs zum
Naturaliſmus und Individualiſmus ſo zuſammen, daß das Fortleben der
Plaſtik gleichzeitig durch beide Urſachen in Frage geſtellt wird,
wofür dagegen aus anderweitiger Quelle eine gewiſſe beſchränkte Her-
ſtellung des idealen Kreiſes, zugleich eine Reſtauration des idealen Styls
und dadurch eine Mäßigung des Individualiſmus und Naturaliſmus er-
möglicht wird, welche die Lage dieſer Kunſt wieder günſtiger ſtellt, als
im Mittelalter. Das Alterthum aber hatte doch immer noch ſeine Göt-
ter und das Beſtehen des idealen Kreiſes ſammt dem Nachklang der An-
ſchauungsweiſe, die ihn geſchaffen, erhielt noch ſpät Reſte des reinen
Stylgeſetzes in Kraft, die den Künſtler mit einer gewiſſen Sicherheit führ-
ten; ſelbſt der Fettkopf eines Domitian iſt noch plaſtiſch antik behandelt
und ein Aeußerſtes, wie runzlichte alte Weiber mit hängenden Brüſten,
iſt ſelten. Die Ueppigkeit und die Mengung der Religionen führt erſt
den völligen Zerfall des plaſtiſchen Sinnes herbei, der zugleich Rückfall
in den Kindheitszuſtand der ſymboliſchen Formgemiſche, der Herrſchaft des
Coloſſalen, des Prunks mit koſtbarem Material und in die Virtuoſität
der bloßen Technik iſt.
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