Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.trotz der Aufgabe, tiefe Innerlichkeit der Seele darzustellen, vielleicht mehr trotz der Aufgabe, tiefe Innerlichkeit der Seele darzuſtellen, vielleicht mehr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0158" n="484"/> <hi rendition="#et">trotz der Aufgabe, tiefe Innerlichkeit der Seele darzuſtellen, vielleicht mehr<lb/> plaſtiſcher Stoff, als in irgend einer der Geſtalten dieſes Kreiſes, weil<lb/> ſelbſt das tiefſte Leiden in die Fülle ihrer Anmuth nicht den tiefen nega-<lb/> tiven Bruch wirft, wie in die männliche Natur. Ganz aber bewährt ſich<lb/> unſer Satz an der Vorſtellung vom Sohne. Chriſtus ſoll ganz Gott und<lb/> ganz hiſtoriſcher Menſch ſein. Beide vereinigten Seiten machen die Auf-<lb/> gabe unplaſtiſch, denn ein plaſtiſcher Typus kann nur entſtehen, wo das<lb/> Ganze der Gottheit blos mittelbar durch vollkommene Darſtellung eines<lb/> beſtimmten Moments aus der Fülle des Göttlichen zur Darſtellung kommt;<lb/> die ganze Menſchheit, die doch in einem empiriſch Einzelnen dargeſtellt<lb/> ſein ſoll, ſchließt zwar alle Vollkommenheit des Menſchen ein, aber eben-<lb/> falls jede Kraft der Einſeitigkeit, die zu einem Typus nöthig iſt, aus und<lb/> begreift zugleich alles Leiden des Menſchen, alle Bedingtheit, alle Ab-<lb/> zehrung des Sinnlichen, allen härteſten Naturaliſmus und Individualiſ-<lb/> mus in ſich. Wird Chriſtus als Heros in Fülle des leiblichen Daſeins<lb/> dargeſtellt, ſo iſt er heidniſch, im chriſtlichen Sinn ungeiſtig aufgefaßt;<lb/> wird er aſcetiſch, arm an Geſtalt, herb empiriſch dargeſtellt, ſo iſt er ein<lb/> unvollkommner Menſch und für die geiſtige Unendlichkeit des Ausdrucks,<lb/> wie ſie ſich dann in den vorzüglich ſprechenden Theilen anſammeln ſoll,<lb/> hat der Bildhauer keine zureichenden Mittel. Sind dennoch erhabene<lb/> und höchſt rührende Chriſtus-Geſtalten ausgeführt worden, ſo ſind dieß<lb/> Bilder eines tief leidenden und im Leiden großen Menſchen und daß die-<lb/> ſer Menſch der abſolute Menſch und der ganze Gott ſei, das iſt nur die<lb/> Vorſtellung, die der Zuſchauer hinzubringt. Der romantiſche Kreis hat über-<lb/> haupt wenig Typen: zu dem ſchwankenden der Geſtalt Chriſti noch die plaſtiſch<lb/> beſtimmteren der Apoſtel Petrus, Paulus, Johannes und einiger Propheten;<lb/> in der zugleich innerlich geiſtigen und geſchichtlich empiriſchen Anſchauung kann<lb/> ſich ein plaſtiſcher Typenkreis gar nicht verfeſtigen. Der tranſcendente Kreis iſt<lb/> aber unendlich reich, ja er hat gar keine Grenze, die ganze Welt fließt<lb/> ihm ohne Ende zu. Die Gottheit iſt in die Geſchichte eingetreten und<lb/> die Geſchichte löst ſich in der Gottheit auf. An die heilige Geſchichte<lb/> ſchließt ſich als vereinzelter beſonderer Einfallspunct des Göttlichen in die<lb/> Geſchichte die Legende, an dieſe theils vorbereitend auf das Chriſtenthum,<lb/> theils ſeinen Eindringungen untergebreitet die ganze Profangeſchichte, und<lb/> jeder fromme Menſch oder vielmehr Jeder, der nur irgend etwas From-<lb/> mes thut, die Kirche ſchützt und beſchenkt, vermehrt den unendlichen Ge-<lb/> ſtaltenkreis. Was nicht dem Himmel zufließt, ſtürzt der Hölle zu und<lb/> der Ausdruck der Innerlichkeit müßte hier zu einem Abgrunde des geiſtig<lb/> Furchtbaren werden, den aber der Bildner ja auch nicht geben kann. Der<lb/> Gegenſatz zweier Kreiſe, eines göttlichen und eines profanen, kann in<lb/> dieſer Auffaſſung kein fruchtbarer, kein Hebel intereſſanter Entwicklungs-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [484/0158]
trotz der Aufgabe, tiefe Innerlichkeit der Seele darzuſtellen, vielleicht mehr
plaſtiſcher Stoff, als in irgend einer der Geſtalten dieſes Kreiſes, weil
ſelbſt das tiefſte Leiden in die Fülle ihrer Anmuth nicht den tiefen nega-
tiven Bruch wirft, wie in die männliche Natur. Ganz aber bewährt ſich
unſer Satz an der Vorſtellung vom Sohne. Chriſtus ſoll ganz Gott und
ganz hiſtoriſcher Menſch ſein. Beide vereinigten Seiten machen die Auf-
gabe unplaſtiſch, denn ein plaſtiſcher Typus kann nur entſtehen, wo das
Ganze der Gottheit blos mittelbar durch vollkommene Darſtellung eines
beſtimmten Moments aus der Fülle des Göttlichen zur Darſtellung kommt;
die ganze Menſchheit, die doch in einem empiriſch Einzelnen dargeſtellt
ſein ſoll, ſchließt zwar alle Vollkommenheit des Menſchen ein, aber eben-
falls jede Kraft der Einſeitigkeit, die zu einem Typus nöthig iſt, aus und
begreift zugleich alles Leiden des Menſchen, alle Bedingtheit, alle Ab-
zehrung des Sinnlichen, allen härteſten Naturaliſmus und Individualiſ-
mus in ſich. Wird Chriſtus als Heros in Fülle des leiblichen Daſeins
dargeſtellt, ſo iſt er heidniſch, im chriſtlichen Sinn ungeiſtig aufgefaßt;
wird er aſcetiſch, arm an Geſtalt, herb empiriſch dargeſtellt, ſo iſt er ein
unvollkommner Menſch und für die geiſtige Unendlichkeit des Ausdrucks,
wie ſie ſich dann in den vorzüglich ſprechenden Theilen anſammeln ſoll,
hat der Bildhauer keine zureichenden Mittel. Sind dennoch erhabene
und höchſt rührende Chriſtus-Geſtalten ausgeführt worden, ſo ſind dieß
Bilder eines tief leidenden und im Leiden großen Menſchen und daß die-
ſer Menſch der abſolute Menſch und der ganze Gott ſei, das iſt nur die
Vorſtellung, die der Zuſchauer hinzubringt. Der romantiſche Kreis hat über-
haupt wenig Typen: zu dem ſchwankenden der Geſtalt Chriſti noch die plaſtiſch
beſtimmteren der Apoſtel Petrus, Paulus, Johannes und einiger Propheten;
in der zugleich innerlich geiſtigen und geſchichtlich empiriſchen Anſchauung kann
ſich ein plaſtiſcher Typenkreis gar nicht verfeſtigen. Der tranſcendente Kreis iſt
aber unendlich reich, ja er hat gar keine Grenze, die ganze Welt fließt
ihm ohne Ende zu. Die Gottheit iſt in die Geſchichte eingetreten und
die Geſchichte löst ſich in der Gottheit auf. An die heilige Geſchichte
ſchließt ſich als vereinzelter beſonderer Einfallspunct des Göttlichen in die
Geſchichte die Legende, an dieſe theils vorbereitend auf das Chriſtenthum,
theils ſeinen Eindringungen untergebreitet die ganze Profangeſchichte, und
jeder fromme Menſch oder vielmehr Jeder, der nur irgend etwas From-
mes thut, die Kirche ſchützt und beſchenkt, vermehrt den unendlichen Ge-
ſtaltenkreis. Was nicht dem Himmel zufließt, ſtürzt der Hölle zu und
der Ausdruck der Innerlichkeit müßte hier zu einem Abgrunde des geiſtig
Furchtbaren werden, den aber der Bildner ja auch nicht geben kann. Der
Gegenſatz zweier Kreiſe, eines göttlichen und eines profanen, kann in
dieſer Auffaſſung kein fruchtbarer, kein Hebel intereſſanter Entwicklungs-
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