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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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gung seiner unendlichen Eigenheit eine Vielheit in das Kunstideal einge-
führt ist, deren Einzelne sich in der Gesammtwirkung ergänzen (§. 455),
und das Häßliche, das hiedurch eindringt, löst sich in neu eröffnete Tie-
fen des Erhabenen und Komischen auf (§. 457): Alles im vollen Gegen-
satze gegen §. 603. Das Ascetische der Behandlung §. 456 kommt dazu,
die Härte der Formen zu vollenden. Aus dem Allem ist schon in §. 458
der Schluß gezogen, daß das romantische Ideal vermöge seiner empfin-
dungsvollen Grundstimmung architektonisch, unplastisch, malerisch, lyrisch
sei. Dieses Ideal hat nun zwar noch einen Mythenkreis, aber es ist
der Mythus einer Zeit, die eigentlich keinen mehr haben sollte, vergl.
§. 447 -- 449. Damit erklärt sich, was in der Anm. zu §. 642 vor-
läufig gesagt ist. Die transcendenten Gestalten dieses nachgebornen My-
thus sind nämlich nicht wie die griechischen Götter, Halbgötter, Heroen
gefüllte Inbegriffe eines ganzen Lebensgebiets mit Einschluß eines Krei-
ses des Naturlebens, sondern sie gelten ganz wie empirisch-historische
Menschen, die in aller Bedingtheit des Lebens existirt haben und existi-
ren. Die mythischen Wesen des classischen Ideals gelten auch als wirk-
lich athmend und lebend, aber doch ist es nicht eigentlich trockener Ernst
damit, sie stehen mitten in den Lebensbedingungen über denselben; es gibt
neben ihnen eine Geschichte und Natur, und doch wieder nicht, denn je-
des von ihnen ist das Ganze derselben. Hier aber ist es dogmatischer
Ernst mit der Behauptung der geschichtlichen Existenz, es gibt eine Ge-
schichte und Natur neben den mythischen Wesen und diese sind in ihre
strenge Bedingtheit hineingezogen, was ja sogleich auf die malerische Behand-
lung, viele Figuren, umgebenden Raum und Hintergrund führt (vergl.
Burkhardt Andeutungen z. Gesch. d. chr. Sculptur Kunstbl. des Morgenbl.
1848 Nr. 33. 35). Mit dieser Auffassung im Sinne der Bedingtheit der
Existenz ist die naturalistische Behandlung, die sich uns schon aus der
Anschauungsweise dieser Phantasie überhaupt ergeben hat, auch in die
mythische Gestaltenwelt eingeführt. Ueberblickt man diese, so macht der
Gott Vater eine Ausnahme, er kann nicht unter diese Auffassung treten,
ist aber auch kein griechischer Gott, sondern als absolute geistige Einheit
des ganzen Kreises eigentlich plastisch undarstellbar; weil er aber doch
noch Person ist, welcher consequent andere Götterpersonen gegenüberste-
hen müßten, nur daß die Consequenz durch die Einzigkeit auch wieder
abgeschnitten ist, so wird er dennoch auch dargestellt, doch in der Plastik selten,
da ihr die Schwierigkeiten in diesem Stoffe sich besonders aufdrängen müssen.
Der heilige Geist ist nur allegorisch darstellbar. Die Engel scheinen sich
zu reiner plastischer Schönheit zu eignen, allein in dem Grade, in wel-
chem sie feste Gestalt annehmen, kommt der Widerspruch des Glaubens
an sie mit der Allgegenwart Gottes zum Bewußtsein. In Maria liegt

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 32

gung ſeiner unendlichen Eigenheit eine Vielheit in das Kunſtideal einge-
führt iſt, deren Einzelne ſich in der Geſammtwirkung ergänzen (§. 455),
und das Häßliche, das hiedurch eindringt, löst ſich in neu eröffnete Tie-
fen des Erhabenen und Komiſchen auf (§. 457): Alles im vollen Gegen-
ſatze gegen §. 603. Das Aſcetiſche der Behandlung §. 456 kommt dazu,
die Härte der Formen zu vollenden. Aus dem Allem iſt ſchon in §. 458
der Schluß gezogen, daß das romantiſche Ideal vermöge ſeiner empfin-
dungsvollen Grundſtimmung architektoniſch, unplaſtiſch, maleriſch, lyriſch
ſei. Dieſes Ideal hat nun zwar noch einen Mythenkreis, aber es iſt
der Mythus einer Zeit, die eigentlich keinen mehr haben ſollte, vergl.
§. 447 — 449. Damit erklärt ſich, was in der Anm. zu §. 642 vor-
läufig geſagt iſt. Die tranſcendenten Geſtalten dieſes nachgebornen My-
thus ſind nämlich nicht wie die griechiſchen Götter, Halbgötter, Heroen
gefüllte Inbegriffe eines ganzen Lebensgebiets mit Einſchluß eines Krei-
ſes des Naturlebens, ſondern ſie gelten ganz wie empiriſch-hiſtoriſche
Menſchen, die in aller Bedingtheit des Lebens exiſtirt haben und exiſti-
ren. Die mythiſchen Weſen des claſſiſchen Ideals gelten auch als wirk-
lich athmend und lebend, aber doch iſt es nicht eigentlich trockener Ernſt
damit, ſie ſtehen mitten in den Lebensbedingungen über denſelben; es gibt
neben ihnen eine Geſchichte und Natur, und doch wieder nicht, denn je-
des von ihnen iſt das Ganze derſelben. Hier aber iſt es dogmatiſcher
Ernſt mit der Behauptung der geſchichtlichen Exiſtenz, es gibt eine Ge-
ſchichte und Natur neben den mythiſchen Weſen und dieſe ſind in ihre
ſtrenge Bedingtheit hineingezogen, was ja ſogleich auf die maleriſche Behand-
lung, viele Figuren, umgebenden Raum und Hintergrund führt (vergl.
Burkhardt Andeutungen z. Geſch. d. chr. Sculptur Kunſtbl. des Morgenbl.
1848 Nr. 33. 35). Mit dieſer Auffaſſung im Sinne der Bedingtheit der
Exiſtenz iſt die naturaliſtiſche Behandlung, die ſich uns ſchon aus der
Anſchauungsweiſe dieſer Phantaſie überhaupt ergeben hat, auch in die
mythiſche Geſtaltenwelt eingeführt. Ueberblickt man dieſe, ſo macht der
Gott Vater eine Ausnahme, er kann nicht unter dieſe Auffaſſung treten,
iſt aber auch kein griechiſcher Gott, ſondern als abſolute geiſtige Einheit
des ganzen Kreiſes eigentlich plaſtiſch undarſtellbar; weil er aber doch
noch Perſon iſt, welcher conſequent andere Götterperſonen gegenüberſte-
hen müßten, nur daß die Conſequenz durch die Einzigkeit auch wieder
abgeſchnitten iſt, ſo wird er dennoch auch dargeſtellt, doch in der Plaſtik ſelten,
da ihr die Schwierigkeiten in dieſem Stoffe ſich beſonders aufdrängen müſſen.
Der heilige Geiſt iſt nur allegoriſch darſtellbar. Die Engel ſcheinen ſich
zu reiner plaſtiſcher Schönheit zu eignen, allein in dem Grade, in wel-
chem ſie feſte Geſtalt annehmen, kommt der Widerſpruch des Glaubens
an ſie mit der Allgegenwart Gottes zum Bewußtſein. In Maria liegt

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 32
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[483/0157] gung ſeiner unendlichen Eigenheit eine Vielheit in das Kunſtideal einge- führt iſt, deren Einzelne ſich in der Geſammtwirkung ergänzen (§. 455), und das Häßliche, das hiedurch eindringt, löst ſich in neu eröffnete Tie- fen des Erhabenen und Komiſchen auf (§. 457): Alles im vollen Gegen- ſatze gegen §. 603. Das Aſcetiſche der Behandlung §. 456 kommt dazu, die Härte der Formen zu vollenden. Aus dem Allem iſt ſchon in §. 458 der Schluß gezogen, daß das romantiſche Ideal vermöge ſeiner empfin- dungsvollen Grundſtimmung architektoniſch, unplaſtiſch, maleriſch, lyriſch ſei. Dieſes Ideal hat nun zwar noch einen Mythenkreis, aber es iſt der Mythus einer Zeit, die eigentlich keinen mehr haben ſollte, vergl. §. 447 — 449. Damit erklärt ſich, was in der Anm. zu §. 642 vor- läufig geſagt iſt. Die tranſcendenten Geſtalten dieſes nachgebornen My- thus ſind nämlich nicht wie die griechiſchen Götter, Halbgötter, Heroen gefüllte Inbegriffe eines ganzen Lebensgebiets mit Einſchluß eines Krei- ſes des Naturlebens, ſondern ſie gelten ganz wie empiriſch-hiſtoriſche Menſchen, die in aller Bedingtheit des Lebens exiſtirt haben und exiſti- ren. Die mythiſchen Weſen des claſſiſchen Ideals gelten auch als wirk- lich athmend und lebend, aber doch iſt es nicht eigentlich trockener Ernſt damit, ſie ſtehen mitten in den Lebensbedingungen über denſelben; es gibt neben ihnen eine Geſchichte und Natur, und doch wieder nicht, denn je- des von ihnen iſt das Ganze derſelben. Hier aber iſt es dogmatiſcher Ernſt mit der Behauptung der geſchichtlichen Exiſtenz, es gibt eine Ge- ſchichte und Natur neben den mythiſchen Weſen und dieſe ſind in ihre ſtrenge Bedingtheit hineingezogen, was ja ſogleich auf die maleriſche Behand- lung, viele Figuren, umgebenden Raum und Hintergrund führt (vergl. Burkhardt Andeutungen z. Geſch. d. chr. Sculptur Kunſtbl. des Morgenbl. 1848 Nr. 33. 35). Mit dieſer Auffaſſung im Sinne der Bedingtheit der Exiſtenz iſt die naturaliſtiſche Behandlung, die ſich uns ſchon aus der Anſchauungsweiſe dieſer Phantaſie überhaupt ergeben hat, auch in die mythiſche Geſtaltenwelt eingeführt. Ueberblickt man dieſe, ſo macht der Gott Vater eine Ausnahme, er kann nicht unter dieſe Auffaſſung treten, iſt aber auch kein griechiſcher Gott, ſondern als abſolute geiſtige Einheit des ganzen Kreiſes eigentlich plaſtiſch undarſtellbar; weil er aber doch noch Perſon iſt, welcher conſequent andere Götterperſonen gegenüberſte- hen müßten, nur daß die Conſequenz durch die Einzigkeit auch wieder abgeſchnitten iſt, ſo wird er dennoch auch dargeſtellt, doch in der Plaſtik ſelten, da ihr die Schwierigkeiten in dieſem Stoffe ſich beſonders aufdrängen müſſen. Der heilige Geiſt iſt nur allegoriſch darſtellbar. Die Engel ſcheinen ſich zu reiner plaſtiſcher Schönheit zu eignen, allein in dem Grade, in wel- chem ſie feſte Geſtalt annehmen, kommt der Widerſpruch des Glaubens an ſie mit der Allgegenwart Gottes zum Bewußtſein. In Maria liegt Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 32

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 483. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/157>, abgerufen am 09.11.2024.