Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

ungetheilten Wesens entlassenen Menschen, des Menschen in seiner reinen
und hohen Kindheit; weniger, weil die Gymnastik als ernstes, Zweck-
setzendes Mittel erst eintreten muß, um die höhere, dritte Stufe möglich
zu machen, nämlich das Spiel in der gesättigten Bedeutung, welches mit
der Absicht, daß es geschaut werde, eine große Entfaltung der gewonne-
nen Kraft, Gewandtheit, Schönheit künstlerisch anordnet und diesem Schau-
spiele den gewichtigen Ernst der tieferen Bedeutung verleiht: daß eine
Gemeinde, ein Volk seine Kraft, seine Fülle und Schönheit sich selbst
zeige, darin seiner nationalen Tüchtigkeit sich bewußt werde und die pfle-
gende, segnende, schützende Gottheit als den innern Genius eines allsei-
tig und harmonisch entwickelten Volkslebens gegenwärtig anschaue. Das
Spiel der ersteren, zufälligeren Art verhält sich dazu wie die wildwach-
sende Blume zum wohlgeordneten Strauß, zu einem paradiesischen Gar-
ten; doch empfängt es von dieser höheren Form selbst auch Rhythmus
und Reichthum. Die Griechen waren unendlich erfinderisch in solchen
harmlosen Spielen, die bei uns mit aller übrigen Frische des Lebens
mehr und mehr verkommen, und das Ballspiel der Nausikaa und ihrer
Gefährtinnen mit taktmäßiger Bewegung und Gesang mag uns sagen,
wie auch solche kindliche Belustigung zum kleinen Kunstwerke wird. Mit
dem Verfall der Volksfeste haben wir aber auch die höhere Form, das
nationale Festspiel so sehr eingebüßt, daß wir die frei ästhetisch sich auf-
zeigende Gymnastik eigentlich nur noch in der Aftergestalt kennen, wo sie
von Kunstreitern, Gauklern, Seiltänzern um Geld gezeigt wird. Da
hat die Gymnastik ihre ethische Bedeutung verloren; sie gilt nur als
körperliche Virtuosität, wie denn die neuere Zeit überhaupt gewohnt ist,
sie auch in ihrem Uebungszweck nur physisch aufzufassen, ein Beweis, daß ihr
der Grundbegriff, der Begriff des Bandes, abhanden gekommen ist. Die
Gymnastik ist in ihrem innersten Wesen kein sinnliches, sondern ein gei-
stig sittliches Thun, indem sie den Leib als bloßen Stoff tödtet, um
ihn zum Organ und Bilde des bewohnenden Geistes zu beleben, und
indem sie den Leib des Einzelnen als einzelnen Stoff tödtet, um ihn zum
organischen Gliede des Volks-Ganzen in seiner Gesammtbewegung, we-
sentlich auch der wehrhaften zu erwecken. Sie quält und schüttelt daher
die träge Masse recht tüchtig, damit sie nicht zum faulen Ballaste des
Geistes, zum isolirten Klumpen werde, und die Asceten der falschen Re-
ligion, wie die negativen Moralisten und überhaupt alle Barbaren der
Bildung bedenken nicht, daß der Leib, der aus Verachtung des Sinnlichen
gymnastisch nicht durchgearbeitet, nicht ausgewickelt wird, genau ebenso zum
Sumpfe herabsinkt, worin die roheste Sinnlichkeit sich ausheckt, wie der
Leib des grobsinnlichen Menschen in üppiger Blüthe verwesend den un-
sterblichen Geist mit seiner Verfaulung ansteckt. Nimmt nun der Geist

ungetheilten Weſens entlaſſenen Menſchen, des Menſchen in ſeiner reinen
und hohen Kindheit; weniger, weil die Gymnaſtik als ernſtes, Zweck-
ſetzendes Mittel erſt eintreten muß, um die höhere, dritte Stufe möglich
zu machen, nämlich das Spiel in der geſättigten Bedeutung, welches mit
der Abſicht, daß es geſchaut werde, eine große Entfaltung der gewonne-
nen Kraft, Gewandtheit, Schönheit künſtleriſch anordnet und dieſem Schau-
ſpiele den gewichtigen Ernſt der tieferen Bedeutung verleiht: daß eine
Gemeinde, ein Volk ſeine Kraft, ſeine Fülle und Schönheit ſich ſelbſt
zeige, darin ſeiner nationalen Tüchtigkeit ſich bewußt werde und die pfle-
gende, ſegnende, ſchützende Gottheit als den innern Genius eines allſei-
tig und harmoniſch entwickelten Volkslebens gegenwärtig anſchaue. Das
Spiel der erſteren, zufälligeren Art verhält ſich dazu wie die wildwach-
ſende Blume zum wohlgeordneten Strauß, zu einem paradieſiſchen Gar-
ten; doch empfängt es von dieſer höheren Form ſelbſt auch Rhythmus
und Reichthum. Die Griechen waren unendlich erfinderiſch in ſolchen
harmloſen Spielen, die bei uns mit aller übrigen Friſche des Lebens
mehr und mehr verkommen, und das Ballſpiel der Nauſikaa und ihrer
Gefährtinnen mit taktmäßiger Bewegung und Geſang mag uns ſagen,
wie auch ſolche kindliche Beluſtigung zum kleinen Kunſtwerke wird. Mit
dem Verfall der Volksfeſte haben wir aber auch die höhere Form, das
nationale Feſtſpiel ſo ſehr eingebüßt, daß wir die frei äſthetiſch ſich auf-
zeigende Gymnaſtik eigentlich nur noch in der Aftergeſtalt kennen, wo ſie
von Kunſtreitern, Gauklern, Seiltänzern um Geld gezeigt wird. Da
hat die Gymnaſtik ihre ethiſche Bedeutung verloren; ſie gilt nur als
körperliche Virtuoſität, wie denn die neuere Zeit überhaupt gewohnt iſt,
ſie auch in ihrem Uebungszweck nur phyſiſch aufzufaſſen, ein Beweis, daß ihr
der Grundbegriff, der Begriff des Bandes, abhanden gekommen iſt. Die
Gymnaſtik iſt in ihrem innerſten Weſen kein ſinnliches, ſondern ein gei-
ſtig ſittliches Thun, indem ſie den Leib als bloßen Stoff tödtet, um
ihn zum Organ und Bilde des bewohnenden Geiſtes zu beleben, und
indem ſie den Leib des Einzelnen als einzelnen Stoff tödtet, um ihn zum
organiſchen Gliede des Volks-Ganzen in ſeiner Geſammtbewegung, we-
ſentlich auch der wehrhaften zu erwecken. Sie quält und ſchüttelt daher
die träge Maſſe recht tüchtig, damit ſie nicht zum faulen Ballaſte des
Geiſtes, zum iſolirten Klumpen werde, und die Aſceten der falſchen Re-
ligion, wie die negativen Moraliſten und überhaupt alle Barbaren der
Bildung bedenken nicht, daß der Leib, der aus Verachtung des Sinnlichen
gymnaſtiſch nicht durchgearbeitet, nicht ausgewickelt wird, genau ebenſo zum
Sumpfe herabſinkt, worin die roheſte Sinnlichkeit ſich ausheckt, wie der
Leib des grobſinnlichen Menſchen in üppiger Blüthe verweſend den un-
ſterblichen Geiſt mit ſeiner Verfaulung anſteckt. Nimmt nun der Geiſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0175" n="501"/>
ungetheilten We&#x017F;ens entla&#x017F;&#x017F;enen Men&#x017F;chen, des Men&#x017F;chen in &#x017F;einer reinen<lb/>
und hohen Kindheit; weniger, weil die Gymna&#x017F;tik als ern&#x017F;tes, Zweck-<lb/>
&#x017F;etzendes Mittel er&#x017F;t eintreten muß, um die höhere, dritte Stufe möglich<lb/>
zu machen, nämlich das Spiel in der ge&#x017F;ättigten Bedeutung, welches mit<lb/>
der Ab&#x017F;icht, daß es ge&#x017F;chaut werde, eine große Entfaltung der gewonne-<lb/>
nen Kraft, Gewandtheit, Schönheit kün&#x017F;tleri&#x017F;ch anordnet und die&#x017F;em Schau-<lb/>
&#x017F;piele den gewichtigen Ern&#x017F;t der tieferen Bedeutung verleiht: daß eine<lb/>
Gemeinde, ein Volk &#x017F;eine Kraft, &#x017F;eine Fülle und Schönheit &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t<lb/>
zeige, darin &#x017F;einer nationalen Tüchtigkeit &#x017F;ich bewußt werde und die pfle-<lb/>
gende, &#x017F;egnende, &#x017F;chützende Gottheit als den innern Genius eines all&#x017F;ei-<lb/>
tig und harmoni&#x017F;ch entwickelten Volkslebens gegenwärtig an&#x017F;chaue. Das<lb/>
Spiel der er&#x017F;teren, zufälligeren Art verhält &#x017F;ich dazu wie die wildwach-<lb/>
&#x017F;ende Blume zum wohlgeordneten Strauß, zu einem paradie&#x017F;i&#x017F;chen Gar-<lb/>
ten; doch empfängt es von die&#x017F;er höheren Form &#x017F;elb&#x017F;t auch Rhythmus<lb/>
und Reichthum. Die Griechen waren unendlich erfinderi&#x017F;ch in &#x017F;olchen<lb/>
harmlo&#x017F;en Spielen, die bei uns mit aller übrigen Fri&#x017F;che des Lebens<lb/>
mehr und mehr verkommen, und das Ball&#x017F;piel der Nau&#x017F;ikaa und ihrer<lb/>
Gefährtinnen mit taktmäßiger Bewegung und Ge&#x017F;ang mag uns &#x017F;agen,<lb/>
wie auch &#x017F;olche kindliche Belu&#x017F;tigung zum kleinen Kun&#x017F;twerke wird. Mit<lb/>
dem Verfall der Volksfe&#x017F;te haben wir aber auch die höhere Form, das<lb/>
nationale Fe&#x017F;t&#x017F;piel &#x017F;o &#x017F;ehr eingebüßt, daß wir die frei ä&#x017F;theti&#x017F;ch &#x017F;ich auf-<lb/>
zeigende Gymna&#x017F;tik eigentlich nur noch in der Afterge&#x017F;talt kennen, wo &#x017F;ie<lb/>
von Kun&#x017F;treitern, Gauklern, Seiltänzern um Geld gezeigt wird. Da<lb/>
hat die Gymna&#x017F;tik ihre ethi&#x017F;che Bedeutung verloren; &#x017F;ie gilt nur als<lb/>
körperliche Virtuo&#x017F;ität, wie denn die neuere Zeit überhaupt gewohnt i&#x017F;t,<lb/>
&#x017F;ie auch in ihrem Uebungszweck nur phy&#x017F;i&#x017F;ch aufzufa&#x017F;&#x017F;en, ein Beweis, daß ihr<lb/>
der Grundbegriff, der Begriff des Bandes, abhanden gekommen i&#x017F;t. Die<lb/>
Gymna&#x017F;tik i&#x017F;t in ihrem inner&#x017F;ten We&#x017F;en kein &#x017F;innliches, &#x017F;ondern ein gei-<lb/>
&#x017F;tig &#x017F;ittliches Thun, indem &#x017F;ie den Leib als bloßen Stoff <hi rendition="#g">tödtet</hi>, um<lb/>
ihn zum Organ und Bilde des bewohnenden Gei&#x017F;tes zu <hi rendition="#g">beleben</hi>, und<lb/>
indem &#x017F;ie den Leib des Einzelnen als einzelnen Stoff tödtet, um ihn zum<lb/>
organi&#x017F;chen Gliede des Volks-Ganzen in &#x017F;einer Ge&#x017F;ammtbewegung, we-<lb/>
&#x017F;entlich auch der wehrhaften zu erwecken. Sie quält und &#x017F;chüttelt daher<lb/>
die träge Ma&#x017F;&#x017F;e recht tüchtig, damit &#x017F;ie nicht zum faulen Balla&#x017F;te des<lb/>
Gei&#x017F;tes, zum i&#x017F;olirten Klumpen werde, und die A&#x017F;ceten der fal&#x017F;chen Re-<lb/>
ligion, wie die negativen Morali&#x017F;ten und überhaupt alle Barbaren der<lb/>
Bildung bedenken nicht, daß der Leib, der aus Verachtung des Sinnlichen<lb/>
gymna&#x017F;ti&#x017F;ch nicht durchgearbeitet, nicht ausgewickelt wird, genau eben&#x017F;o zum<lb/>
Sumpfe herab&#x017F;inkt, worin die rohe&#x017F;te Sinnlichkeit &#x017F;ich ausheckt, wie der<lb/>
Leib des grob&#x017F;innlichen Men&#x017F;chen in üppiger Blüthe verwe&#x017F;end den un-<lb/>
&#x017F;terblichen Gei&#x017F;t mit &#x017F;einer Verfaulung an&#x017F;teckt. Nimmt nun der Gei&#x017F;t<lb/></hi> </p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[501/0175] ungetheilten Weſens entlaſſenen Menſchen, des Menſchen in ſeiner reinen und hohen Kindheit; weniger, weil die Gymnaſtik als ernſtes, Zweck- ſetzendes Mittel erſt eintreten muß, um die höhere, dritte Stufe möglich zu machen, nämlich das Spiel in der geſättigten Bedeutung, welches mit der Abſicht, daß es geſchaut werde, eine große Entfaltung der gewonne- nen Kraft, Gewandtheit, Schönheit künſtleriſch anordnet und dieſem Schau- ſpiele den gewichtigen Ernſt der tieferen Bedeutung verleiht: daß eine Gemeinde, ein Volk ſeine Kraft, ſeine Fülle und Schönheit ſich ſelbſt zeige, darin ſeiner nationalen Tüchtigkeit ſich bewußt werde und die pfle- gende, ſegnende, ſchützende Gottheit als den innern Genius eines allſei- tig und harmoniſch entwickelten Volkslebens gegenwärtig anſchaue. Das Spiel der erſteren, zufälligeren Art verhält ſich dazu wie die wildwach- ſende Blume zum wohlgeordneten Strauß, zu einem paradieſiſchen Gar- ten; doch empfängt es von dieſer höheren Form ſelbſt auch Rhythmus und Reichthum. Die Griechen waren unendlich erfinderiſch in ſolchen harmloſen Spielen, die bei uns mit aller übrigen Friſche des Lebens mehr und mehr verkommen, und das Ballſpiel der Nauſikaa und ihrer Gefährtinnen mit taktmäßiger Bewegung und Geſang mag uns ſagen, wie auch ſolche kindliche Beluſtigung zum kleinen Kunſtwerke wird. Mit dem Verfall der Volksfeſte haben wir aber auch die höhere Form, das nationale Feſtſpiel ſo ſehr eingebüßt, daß wir die frei äſthetiſch ſich auf- zeigende Gymnaſtik eigentlich nur noch in der Aftergeſtalt kennen, wo ſie von Kunſtreitern, Gauklern, Seiltänzern um Geld gezeigt wird. Da hat die Gymnaſtik ihre ethiſche Bedeutung verloren; ſie gilt nur als körperliche Virtuoſität, wie denn die neuere Zeit überhaupt gewohnt iſt, ſie auch in ihrem Uebungszweck nur phyſiſch aufzufaſſen, ein Beweis, daß ihr der Grundbegriff, der Begriff des Bandes, abhanden gekommen iſt. Die Gymnaſtik iſt in ihrem innerſten Weſen kein ſinnliches, ſondern ein gei- ſtig ſittliches Thun, indem ſie den Leib als bloßen Stoff tödtet, um ihn zum Organ und Bilde des bewohnenden Geiſtes zu beleben, und indem ſie den Leib des Einzelnen als einzelnen Stoff tödtet, um ihn zum organiſchen Gliede des Volks-Ganzen in ſeiner Geſammtbewegung, we- ſentlich auch der wehrhaften zu erwecken. Sie quält und ſchüttelt daher die träge Maſſe recht tüchtig, damit ſie nicht zum faulen Ballaſte des Geiſtes, zum iſolirten Klumpen werde, und die Aſceten der falſchen Re- ligion, wie die negativen Moraliſten und überhaupt alle Barbaren der Bildung bedenken nicht, daß der Leib, der aus Verachtung des Sinnlichen gymnaſtiſch nicht durchgearbeitet, nicht ausgewickelt wird, genau ebenſo zum Sumpfe herabſinkt, worin die roheſte Sinnlichkeit ſich ausheckt, wie der Leib des grobſinnlichen Menſchen in üppiger Blüthe verweſend den un- ſterblichen Geiſt mit ſeiner Verfaulung anſteckt. Nimmt nun der Geiſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/175
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 501. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/175>, abgerufen am 22.12.2024.