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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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§. 601.

Die Darstellung im festen, dichten Materiale bringt den Vortheil mit sich,
daß das Kunstwerk, auch darin dem Bauwerk ähnlich, außer der Hauptseite
noch verschiedene Seiten dem umwandelnden Zuschauer darbietet und so eine
Vielheit von Kunstwerken in sich schließt; aber sie gebietet auch Sparsamkeit in
der Anzahl der zu einem Ganzen verbundenen Gestalten, weil dieselben ein-
ander decken.

Um Alles zusammenzustellen, worauf zunächst die allgemeine We-
sensbestimmung der Bildnerkunst zu begründen ist, muß die Natur der
festen Form als dichte und hiemit die Verwandtschaft mit der Architektur noch
von einer neuen Seite aufgefaßt werden. Das Feste, Dichte im Raum
stellt sich als ein undurchsichtig Vielseitiges dar. Auch darin gleicht das
Bildwerk dem Bauwerk. Im Producte der Kunst wird aber immer eine
Seite die herrschende sein: es ist im Bauwerke die Facade, im Bildwerke
der Sehpunct, auf den es berechnet ist. Umwandelt man aber dieses, wie
ein Bauwerk, so zeigt es einen noch ungleich mannigfaltigeren Reichthum
verschiedener Seiten, als jenes, weil die concrete organische Gestalt bei
jedem Stücke wesentlich anders und in neuer Weise bedeutend erscheint.
Verschiedene Zweige und Aufstellungsarten bringen freilich Beschränkungen
mit sich, wir haben aber hier vorerst das Wesentliche aufzufassen. Das
plastische Werk wird so zum Inbegriff einer Vielheit von Kunstwerken, aber
dafür hat es ein großes Opfer zu bringen: jeder Theil, der für den Zu-
schauer hinter einen andern Theil zu stehen kommt, wird von diesem ge-
deckt; dieß ist nicht ganz zu vermeiden, die Plastik braucht es nicht ein-
mal ganz vermeiden zu wollen, aber der Spielraum des Zulässigen ist
eng und seine Enge fordert natürlich sparsame Gruppirung. Wir stellen
hier dieses Gesetz erst einfach auf, alles Weitere bleibt den Stellen vor-
behalten, wo wir die tieferen Ergebnisse ziehen und wo diese spezieller zu
erörtern sind.

§. 602.

Das innerste Wesen der Bildnerkunst bestimmt sich gemäß diesen Grund-
zügen, zuerst von der Seite des Künstlers betrachtet, dahin: in die bildende
Phantasie ist nun eine subjective Erwärmung durch die empfindende
eingetreten, aber der Strom der Empfindung hält sich beruhigt an das Feste der
Gestalt und im Kunstwerke schlägt er sich in der klaren, kalten, gemessenen,
gegenständlichen Ruhe der im harten Material nachgebildeten Form nieder,
durch welche sich die Gestalt, von allen Beziehungen zu Umgebendem getrennt,

§. 601.

Die Darſtellung im feſten, dichten Materiale bringt den Vortheil mit ſich,
daß das Kunſtwerk, auch darin dem Bauwerk ähnlich, außer der Hauptſeite
noch verſchiedene Seiten dem umwandelnden Zuſchauer darbietet und ſo eine
Vielheit von Kunſtwerken in ſich ſchließt; aber ſie gebietet auch Sparſamkeit in
der Anzahl der zu einem Ganzen verbundenen Geſtalten, weil dieſelben ein-
ander decken.

Um Alles zuſammenzuſtellen, worauf zunächſt die allgemeine We-
ſensbeſtimmung der Bildnerkunſt zu begründen iſt, muß die Natur der
feſten Form als dichte und hiemit die Verwandtſchaft mit der Architektur noch
von einer neuen Seite aufgefaßt werden. Das Feſte, Dichte im Raum
ſtellt ſich als ein undurchſichtig Vielſeitiges dar. Auch darin gleicht das
Bildwerk dem Bauwerk. Im Producte der Kunſt wird aber immer eine
Seite die herrſchende ſein: es iſt im Bauwerke die Façade, im Bildwerke
der Sehpunct, auf den es berechnet iſt. Umwandelt man aber dieſes, wie
ein Bauwerk, ſo zeigt es einen noch ungleich mannigfaltigeren Reichthum
verſchiedener Seiten, als jenes, weil die concrete organiſche Geſtalt bei
jedem Stücke weſentlich anders und in neuer Weiſe bedeutend erſcheint.
Verſchiedene Zweige und Aufſtellungsarten bringen freilich Beſchränkungen
mit ſich, wir haben aber hier vorerſt das Weſentliche aufzufaſſen. Das
plaſtiſche Werk wird ſo zum Inbegriff einer Vielheit von Kunſtwerken, aber
dafür hat es ein großes Opfer zu bringen: jeder Theil, der für den Zu-
ſchauer hinter einen andern Theil zu ſtehen kommt, wird von dieſem ge-
deckt; dieß iſt nicht ganz zu vermeiden, die Plaſtik braucht es nicht ein-
mal ganz vermeiden zu wollen, aber der Spielraum des Zuläſſigen iſt
eng und ſeine Enge fordert natürlich ſparſame Gruppirung. Wir ſtellen
hier dieſes Geſetz erſt einfach auf, alles Weitere bleibt den Stellen vor-
behalten, wo wir die tieferen Ergebniſſe ziehen und wo dieſe ſpezieller zu
erörtern ſind.

§. 602.

Das innerſte Weſen der Bildnerkunſt beſtimmt ſich gemäß dieſen Grund-
zügen, zuerſt von der Seite des Künſtlers betrachtet, dahin: in die bildende
Phantaſie iſt nun eine ſubjective Erwärmung durch die empfindende
eingetreten, aber der Strom der Empfindung hält ſich beruhigt an das Feſte der
Geſtalt und im Kunſtwerke ſchlägt er ſich in der klaren, kalten, gemeſſenen,
gegenſtändlichen Ruhe der im harten Material nachgebildeten Form nieder,
durch welche ſich die Geſtalt, von allen Beziehungen zu Umgebendem getrennt,

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[354/0028] §. 601. Die Darſtellung im feſten, dichten Materiale bringt den Vortheil mit ſich, daß das Kunſtwerk, auch darin dem Bauwerk ähnlich, außer der Hauptſeite noch verſchiedene Seiten dem umwandelnden Zuſchauer darbietet und ſo eine Vielheit von Kunſtwerken in ſich ſchließt; aber ſie gebietet auch Sparſamkeit in der Anzahl der zu einem Ganzen verbundenen Geſtalten, weil dieſelben ein- ander decken. Um Alles zuſammenzuſtellen, worauf zunächſt die allgemeine We- ſensbeſtimmung der Bildnerkunſt zu begründen iſt, muß die Natur der feſten Form als dichte und hiemit die Verwandtſchaft mit der Architektur noch von einer neuen Seite aufgefaßt werden. Das Feſte, Dichte im Raum ſtellt ſich als ein undurchſichtig Vielſeitiges dar. Auch darin gleicht das Bildwerk dem Bauwerk. Im Producte der Kunſt wird aber immer eine Seite die herrſchende ſein: es iſt im Bauwerke die Façade, im Bildwerke der Sehpunct, auf den es berechnet iſt. Umwandelt man aber dieſes, wie ein Bauwerk, ſo zeigt es einen noch ungleich mannigfaltigeren Reichthum verſchiedener Seiten, als jenes, weil die concrete organiſche Geſtalt bei jedem Stücke weſentlich anders und in neuer Weiſe bedeutend erſcheint. Verſchiedene Zweige und Aufſtellungsarten bringen freilich Beſchränkungen mit ſich, wir haben aber hier vorerſt das Weſentliche aufzufaſſen. Das plaſtiſche Werk wird ſo zum Inbegriff einer Vielheit von Kunſtwerken, aber dafür hat es ein großes Opfer zu bringen: jeder Theil, der für den Zu- ſchauer hinter einen andern Theil zu ſtehen kommt, wird von dieſem ge- deckt; dieß iſt nicht ganz zu vermeiden, die Plaſtik braucht es nicht ein- mal ganz vermeiden zu wollen, aber der Spielraum des Zuläſſigen iſt eng und ſeine Enge fordert natürlich ſparſame Gruppirung. Wir ſtellen hier dieſes Geſetz erſt einfach auf, alles Weitere bleibt den Stellen vor- behalten, wo wir die tieferen Ergebniſſe ziehen und wo dieſe ſpezieller zu erörtern ſind. §. 602. Das innerſte Weſen der Bildnerkunſt beſtimmt ſich gemäß dieſen Grund- zügen, zuerſt von der Seite des Künſtlers betrachtet, dahin: in die bildende Phantaſie iſt nun eine ſubjective Erwärmung durch die empfindende eingetreten, aber der Strom der Empfindung hält ſich beruhigt an das Feſte der Geſtalt und im Kunſtwerke ſchlägt er ſich in der klaren, kalten, gemeſſenen, gegenſtändlichen Ruhe der im harten Material nachgebildeten Form nieder, durch welche ſich die Geſtalt, von allen Beziehungen zu Umgebendem getrennt,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 354. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/28>, abgerufen am 22.12.2024.