Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

scharf und streng in sich abschließt: ein reines Gleichgewicht des Sub-
jectiven und Objectiven, eine reine Mitte zwischen der im
strengsten Sinn bildenden und empfindenden Phantasie
.

Wir werden, dieß ist hier vorauszuschicken, als dritte und letzte in
der Gruppe der bildenden Künste eine Kunst finden, in welcher die bil-
dende Phantasie eben auf dem Puncte steht, sich in die empfindende auf-
zulösen. Die Bildnerkunst steht genau in der Mitte zwischen dieser und
der Baukunst. Es ist nämlich als ein tieferes, innigeres Einströmen der
Empfindung zu begreifen, wenn nun der gefühlte Hauch und Duft des
Seelenlebens in seinem Körper als Gegenstand der Kunst ergriffen und
der starre Stein zum idealen Abbilde dieses schwungvoll belebten Ganzen
beseelt, verklärt, durchwärmt wird. Man kann dieß auch, wie es zu
§. 539 mit der nöthigen Verwahrung geschehen ist, als ein erstes Auf-
tauchen der malerischen Phantasie in der bildenden bestimmen; das pla-
stische Sehen ist ein Sehen seelenvoller Gestalt, bewegtes, fühlen-
des Sehen, wie solches in der Malerei von jener Fesslung der bildenden
Kunst bereits zu einem schwebenden Scheine sich zu befreien beginnt; aber als
tastendes hält es sich noch fest in der räumlichen Fesslung. Diese empfindungs-
reiche Erwärmung ist zugleich wesentlich Eintreten des subjectiven Mo-
ments (vrgl. zu §. 538); das subjective Leben wird Stoff und in er-
höhter, im dargestellten Stoff sich selbst empfindender Weise Organ der
Darstellung; verschwunden ist die geometrische Kälte und Nüchternheit des
Zweckmäßigen im Architekten und der fühlende Nerv umspannt den von
Leben und Seele durchzitterten Gliederbau. Aber mitten im Flusse kühlt
sich der glühende Strom der Empfindung ab und legt sich beruhigt um
die Bildungen dieses Baues, in welchen seine innere Seele fest und greif-
lich sich niederschlägt; dann, wenn der Künstler zum Schaffen übergeht, kry-
stallisirt sich der warme Fluß vollends im festen, harten Gebilde, das er
dauernd, unbewegt hinstellt; jene Kugel, mit deren Flug wir (Anm. zu
§. 550) den Uebergang des Ideals aus der Seele des Künstlers in die
des Zuschauers verglichen haben, schlägt in der Mitte des Laufs nicht
nur auf, sondern bleibt scheinbar ruhig liegen, bis sie bei der ersten Be-
rührung (vom Blicke des Zuschauers) ihre nur verborgene Schwungkraft
wieder geltend macht und aufspringt. Dieß Erkalten, dieß Stehenbleiben
ist Verfestigung im Objectiven, streng objective Bestimmtheit. Im Bild-
ner ist Wärme und nüchterne, messende Kälte, gewichtige Ruhe zu glei-
chen Theilen gemischt, daher auch der scheinbare Widerspruch der Erfah-
rung, daß in der neueren Zeit der strenge und ernste Skandinavier, der
nüchterne Norddeutsche in einer Kunst sich vorzüglich hervorthut, worin im
Alterthum der jugendlich frische und affectvolle Grieche der Meister war

Vischer's Aesthetik. 3. Band. 24

ſcharf und ſtreng in ſich abſchließt: ein reines Gleichgewicht des Sub-
jectiven und Objectiven, eine reine Mitte zwiſchen der im
ſtrengſten Sinn bildenden und empfindenden Phantaſie
.

Wir werden, dieß iſt hier vorauszuſchicken, als dritte und letzte in
der Gruppe der bildenden Künſte eine Kunſt finden, in welcher die bil-
dende Phantaſie eben auf dem Puncte ſteht, ſich in die empfindende auf-
zulöſen. Die Bildnerkunſt ſteht genau in der Mitte zwiſchen dieſer und
der Baukunſt. Es iſt nämlich als ein tieferes, innigeres Einſtrömen der
Empfindung zu begreifen, wenn nun der gefühlte Hauch und Duft des
Seelenlebens in ſeinem Körper als Gegenſtand der Kunſt ergriffen und
der ſtarre Stein zum idealen Abbilde dieſes ſchwungvoll belebten Ganzen
beſeelt, verklärt, durchwärmt wird. Man kann dieß auch, wie es zu
§. 539 mit der nöthigen Verwahrung geſchehen iſt, als ein erſtes Auf-
tauchen der maleriſchen Phantaſie in der bildenden beſtimmen; das pla-
ſtiſche Sehen iſt ein Sehen ſeelenvoller Geſtalt, bewegtes, fühlen-
des Sehen, wie ſolches in der Malerei von jener Feſſlung der bildenden
Kunſt bereits zu einem ſchwebenden Scheine ſich zu befreien beginnt; aber als
taſtendes hält es ſich noch feſt in der räumlichen Feſſlung. Dieſe empfindungs-
reiche Erwärmung iſt zugleich weſentlich Eintreten des ſubjectiven Mo-
ments (vrgl. zu §. 538); das ſubjective Leben wird Stoff und in er-
höhter, im dargeſtellten Stoff ſich ſelbſt empfindender Weiſe Organ der
Darſtellung; verſchwunden iſt die geometriſche Kälte und Nüchternheit des
Zweckmäßigen im Architekten und der fühlende Nerv umſpannt den von
Leben und Seele durchzitterten Gliederbau. Aber mitten im Fluſſe kühlt
ſich der glühende Strom der Empfindung ab und legt ſich beruhigt um
die Bildungen dieſes Baues, in welchen ſeine innere Seele feſt und greif-
lich ſich niederſchlägt; dann, wenn der Künſtler zum Schaffen übergeht, kry-
ſtalliſirt ſich der warme Fluß vollends im feſten, harten Gebilde, das er
dauernd, unbewegt hinſtellt; jene Kugel, mit deren Flug wir (Anm. zu
§. 550) den Uebergang des Ideals aus der Seele des Künſtlers in die
des Zuſchauers verglichen haben, ſchlägt in der Mitte des Laufs nicht
nur auf, ſondern bleibt ſcheinbar ruhig liegen, bis ſie bei der erſten Be-
rührung (vom Blicke des Zuſchauers) ihre nur verborgene Schwungkraft
wieder geltend macht und aufſpringt. Dieß Erkalten, dieß Stehenbleiben
iſt Verfeſtigung im Objectiven, ſtreng objective Beſtimmtheit. Im Bild-
ner iſt Wärme und nüchterne, meſſende Kälte, gewichtige Ruhe zu glei-
chen Theilen gemiſcht, daher auch der ſcheinbare Widerſpruch der Erfah-
rung, daß in der neueren Zeit der ſtrenge und ernſte Skandinavier, der
nüchterne Norddeutſche in einer Kunſt ſich vorzüglich hervorthut, worin im
Alterthum der jugendlich friſche und affectvolle Grieche der Meiſter war

Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 24
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#fr"><pb facs="#f0029" n="355"/>
&#x017F;charf und &#x017F;treng in &#x017F;ich ab&#x017F;chließt: ein <hi rendition="#g">reines Gleichgewicht des Sub-<lb/>
jectiven und Objectiven, eine reine Mitte zwi&#x017F;chen der im<lb/>
&#x017F;treng&#x017F;ten Sinn bildenden und empfindenden Phanta&#x017F;ie</hi>.</hi> </p><lb/>
                    <p> <hi rendition="#et">Wir werden, dieß i&#x017F;t hier vorauszu&#x017F;chicken, als dritte und letzte in<lb/>
der Gruppe der bildenden Kün&#x017F;te eine Kun&#x017F;t finden, in welcher die bil-<lb/>
dende Phanta&#x017F;ie eben auf dem Puncte &#x017F;teht, &#x017F;ich in die empfindende auf-<lb/>
zulö&#x017F;en. Die Bildnerkun&#x017F;t &#x017F;teht genau in der Mitte zwi&#x017F;chen die&#x017F;er und<lb/>
der Baukun&#x017F;t. Es i&#x017F;t nämlich als ein tieferes, innigeres Ein&#x017F;trömen der<lb/>
Empfindung zu begreifen, wenn nun der gefühlte Hauch und Duft des<lb/>
Seelenlebens in &#x017F;einem Körper als Gegen&#x017F;tand der Kun&#x017F;t ergriffen und<lb/>
der &#x017F;tarre Stein zum idealen Abbilde die&#x017F;es &#x017F;chwungvoll belebten Ganzen<lb/>
be&#x017F;eelt, verklärt, durchwärmt wird. Man kann dieß auch, wie es zu<lb/>
§. 539 mit der nöthigen Verwahrung ge&#x017F;chehen i&#x017F;t, als ein er&#x017F;tes Auf-<lb/>
tauchen der maleri&#x017F;chen Phanta&#x017F;ie in der bildenden be&#x017F;timmen; das pla-<lb/>
&#x017F;ti&#x017F;che Sehen i&#x017F;t ein Sehen &#x017F;eelenvoller Ge&#x017F;talt, bewegtes, fühlen-<lb/>
des Sehen, wie &#x017F;olches in der Malerei von jener Fe&#x017F;&#x017F;lung der bildenden<lb/>
Kun&#x017F;t bereits zu einem &#x017F;chwebenden Scheine &#x017F;ich zu befreien beginnt; aber als<lb/>
ta&#x017F;tendes hält es &#x017F;ich noch fe&#x017F;t in der räumlichen Fe&#x017F;&#x017F;lung. Die&#x017F;e empfindungs-<lb/>
reiche Erwärmung i&#x017F;t zugleich we&#x017F;entlich Eintreten des &#x017F;ubjectiven Mo-<lb/>
ments (vrgl. zu §. 538); das &#x017F;ubjective Leben wird <hi rendition="#g">Stoff</hi> und in er-<lb/>
höhter, im darge&#x017F;tellten Stoff &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t empfindender Wei&#x017F;e <hi rendition="#g">Organ</hi> der<lb/>
Dar&#x017F;tellung; ver&#x017F;chwunden i&#x017F;t die geometri&#x017F;che Kälte und Nüchternheit des<lb/>
Zweckmäßigen im Architekten und der fühlende Nerv um&#x017F;pannt den von<lb/>
Leben und Seele durchzitterten Gliederbau. Aber mitten im Flu&#x017F;&#x017F;e kühlt<lb/>
&#x017F;ich der glühende Strom der Empfindung ab und legt &#x017F;ich beruhigt um<lb/>
die Bildungen die&#x017F;es Baues, in welchen &#x017F;eine innere Seele fe&#x017F;t und greif-<lb/>
lich &#x017F;ich nieder&#x017F;chlägt; dann, wenn der Kün&#x017F;tler zum Schaffen übergeht, kry-<lb/>
&#x017F;talli&#x017F;irt &#x017F;ich der warme Fluß vollends im fe&#x017F;ten, harten Gebilde, das er<lb/>
dauernd, unbewegt hin&#x017F;tellt; jene Kugel, mit deren Flug wir (Anm. zu<lb/>
§. 550) den Uebergang des Ideals aus der Seele des Kün&#x017F;tlers in die<lb/>
des Zu&#x017F;chauers verglichen haben, &#x017F;chlägt in der Mitte des Laufs nicht<lb/>
nur auf, &#x017F;ondern bleibt &#x017F;cheinbar ruhig liegen, bis &#x017F;ie bei der er&#x017F;ten Be-<lb/>
rührung (vom Blicke des Zu&#x017F;chauers) ihre nur verborgene Schwungkraft<lb/>
wieder geltend macht und auf&#x017F;pringt. Dieß Erkalten, dieß Stehenbleiben<lb/>
i&#x017F;t Verfe&#x017F;tigung im Objectiven, &#x017F;treng objective Be&#x017F;timmtheit. Im Bild-<lb/>
ner i&#x017F;t Wärme und nüchterne, me&#x017F;&#x017F;ende Kälte, gewichtige Ruhe zu glei-<lb/>
chen Theilen gemi&#x017F;cht, daher auch der &#x017F;cheinbare Wider&#x017F;pruch der Erfah-<lb/>
rung, daß in der neueren Zeit der &#x017F;trenge und ern&#x017F;te Skandinavier, der<lb/>
nüchterne Norddeut&#x017F;che in einer Kun&#x017F;t &#x017F;ich vorzüglich hervorthut, worin im<lb/>
Alterthum der jugendlich fri&#x017F;che und affectvolle Grieche der Mei&#x017F;ter war</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 3. Band. 24</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[355/0029] ſcharf und ſtreng in ſich abſchließt: ein reines Gleichgewicht des Sub- jectiven und Objectiven, eine reine Mitte zwiſchen der im ſtrengſten Sinn bildenden und empfindenden Phantaſie. Wir werden, dieß iſt hier vorauszuſchicken, als dritte und letzte in der Gruppe der bildenden Künſte eine Kunſt finden, in welcher die bil- dende Phantaſie eben auf dem Puncte ſteht, ſich in die empfindende auf- zulöſen. Die Bildnerkunſt ſteht genau in der Mitte zwiſchen dieſer und der Baukunſt. Es iſt nämlich als ein tieferes, innigeres Einſtrömen der Empfindung zu begreifen, wenn nun der gefühlte Hauch und Duft des Seelenlebens in ſeinem Körper als Gegenſtand der Kunſt ergriffen und der ſtarre Stein zum idealen Abbilde dieſes ſchwungvoll belebten Ganzen beſeelt, verklärt, durchwärmt wird. Man kann dieß auch, wie es zu §. 539 mit der nöthigen Verwahrung geſchehen iſt, als ein erſtes Auf- tauchen der maleriſchen Phantaſie in der bildenden beſtimmen; das pla- ſtiſche Sehen iſt ein Sehen ſeelenvoller Geſtalt, bewegtes, fühlen- des Sehen, wie ſolches in der Malerei von jener Feſſlung der bildenden Kunſt bereits zu einem ſchwebenden Scheine ſich zu befreien beginnt; aber als taſtendes hält es ſich noch feſt in der räumlichen Feſſlung. Dieſe empfindungs- reiche Erwärmung iſt zugleich weſentlich Eintreten des ſubjectiven Mo- ments (vrgl. zu §. 538); das ſubjective Leben wird Stoff und in er- höhter, im dargeſtellten Stoff ſich ſelbſt empfindender Weiſe Organ der Darſtellung; verſchwunden iſt die geometriſche Kälte und Nüchternheit des Zweckmäßigen im Architekten und der fühlende Nerv umſpannt den von Leben und Seele durchzitterten Gliederbau. Aber mitten im Fluſſe kühlt ſich der glühende Strom der Empfindung ab und legt ſich beruhigt um die Bildungen dieſes Baues, in welchen ſeine innere Seele feſt und greif- lich ſich niederſchlägt; dann, wenn der Künſtler zum Schaffen übergeht, kry- ſtalliſirt ſich der warme Fluß vollends im feſten, harten Gebilde, das er dauernd, unbewegt hinſtellt; jene Kugel, mit deren Flug wir (Anm. zu §. 550) den Uebergang des Ideals aus der Seele des Künſtlers in die des Zuſchauers verglichen haben, ſchlägt in der Mitte des Laufs nicht nur auf, ſondern bleibt ſcheinbar ruhig liegen, bis ſie bei der erſten Be- rührung (vom Blicke des Zuſchauers) ihre nur verborgene Schwungkraft wieder geltend macht und aufſpringt. Dieß Erkalten, dieß Stehenbleiben iſt Verfeſtigung im Objectiven, ſtreng objective Beſtimmtheit. Im Bild- ner iſt Wärme und nüchterne, meſſende Kälte, gewichtige Ruhe zu glei- chen Theilen gemiſcht, daher auch der ſcheinbare Widerſpruch der Erfah- rung, daß in der neueren Zeit der ſtrenge und ernſte Skandinavier, der nüchterne Norddeutſche in einer Kunſt ſich vorzüglich hervorthut, worin im Alterthum der jugendlich friſche und affectvolle Grieche der Meiſter war Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 24

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/29
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 355. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/29>, abgerufen am 28.04.2024.