Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

von einer Spaltung handelt, die, wie wir sehen werden, verschiedene
Zweige der Plastik begründet, welche sich freilich auch vereinigen können,
von zwei Stoffwelten, deren relative Scheidung aus der Geschichte der
Phantasie hier aufgenommen werden muß: Gott und Mensch, oder Gott
und untergeordnetes dämonisches Wesen (z. B. Satyr). Daß es beide
Welten nebeneinander gibt, ist eigentlich ein Widerspruch, denn der Gott
ist der ideale Mensch. Die Phantasie ist aber auch in dieser Richtung
nicht logisch: neben der ausdrücklich und schlechthin idealen Natur, dem
Gotte, gibt es realere, in entfernterem, vermittelterem Sinn ideale
Naturen. Allein in der Sculptur sind auch diese Naturen dennoch idealer,
als z. B. in der Malerei der Mensch neben dem Gott. Der Geist der Behand-
lung gibt auch ihnen eine Seligkeit der Genüge, eine Fülle und Sättigung des
Daseins, daß sie nach keiner Welt fragen, sondern sich selbst eine Welt,
die Welt sind, und selbst im Thiere schauen wir den Inbegriff des voll-
kommenen Weltalls, wie er jedem niedrigeren Stoffe im Schönen als
Hintergrund eine Unendlichkeit gibt (vergl. §. 17, 3.) durch die Ge-
diegenheit der plastischen Darstellung diesen Hintergrund in einer verkürz-
ten Perspective. Ausdrücklich sind als endliche Naturen insbesondere die
geschichtlichen gesetzt, denn Datum und Namen weisen sie buchstäblich in
das Zeitleben und die Härte seiner Bedingungen. Wir haben die Frage
über das Verhalten der plastischen Phantasie zu dem Unterschiede der
rein menschlichen und geschichtlichen aufgeschoben, aber so viel muß schon
hier einleuchten: was diese Kunst aus der empirischen Geschichte heraus-
greift und zu ihrem Stoffe nimmt, wird von ihr in dasselbe Licht der
Allgemeinheit heraufgehoben werden, wie die rein menschliche Sphäre,
denn: was sie angreift, das wird vergöttlicht.

b. Die einzelnen Momente.
§. 607.

In der speziellen Auseinandersetzung dieses allgemeinen Wesens der Bild-
nerkunst kommt zuerst die äußere Bestimmtheit des plastischen Werks, wie
solche von der innern relativ zu unterscheiden ist, und als erstes Moment in
derselben die Beschaffenheit des Materials in Betracht. Der Körper desselben
soll nicht nur der allgemeinen technischen Forderung der Formbestimmtheit und
Dauer genügen, sondern auch positiv von solchem Gefüge und Farbenton sein,
daß er ähnlich wie die Schwere (§. 600) im ästhetischen Eindruck der reinen
Form mitgefühlt wird, ohne doch für sich und für die Schwierigkeiten der Be-
arbeitung ein stoffartiges Interesse zu erwecken. Daher ist Thon, Gyps,
Holz, Gestein der Urgebirge, farbiger Marmor, Elfenbein,
kostbares Metall
nur für untergeordnete oder vereinzelte, außerardentliche

von einer Spaltung handelt, die, wie wir ſehen werden, verſchiedene
Zweige der Plaſtik begründet, welche ſich freilich auch vereinigen können,
von zwei Stoffwelten, deren relative Scheidung aus der Geſchichte der
Phantaſie hier aufgenommen werden muß: Gott und Menſch, oder Gott
und untergeordnetes dämoniſches Weſen (z. B. Satyr). Daß es beide
Welten nebeneinander gibt, iſt eigentlich ein Widerſpruch, denn der Gott
iſt der ideale Menſch. Die Phantaſie iſt aber auch in dieſer Richtung
nicht logiſch: neben der ausdrücklich und ſchlechthin idealen Natur, dem
Gotte, gibt es realere, in entfernterem, vermittelterem Sinn ideale
Naturen. Allein in der Sculptur ſind auch dieſe Naturen dennoch idealer,
als z. B. in der Malerei der Menſch neben dem Gott. Der Geiſt der Behand-
lung gibt auch ihnen eine Seligkeit der Genüge, eine Fülle und Sättigung des
Daſeins, daß ſie nach keiner Welt fragen, ſondern ſich ſelbſt eine Welt,
die Welt ſind, und ſelbſt im Thiere ſchauen wir den Inbegriff des voll-
kommenen Weltalls, wie er jedem niedrigeren Stoffe im Schönen als
Hintergrund eine Unendlichkeit gibt (vergl. §. 17, 3.) durch die Ge-
diegenheit der plaſtiſchen Darſtellung dieſen Hintergrund in einer verkürz-
ten Perſpective. Ausdrücklich ſind als endliche Naturen insbeſondere die
geſchichtlichen geſetzt, denn Datum und Namen weiſen ſie buchſtäblich in
das Zeitleben und die Härte ſeiner Bedingungen. Wir haben die Frage
über das Verhalten der plaſtiſchen Phantaſie zu dem Unterſchiede der
rein menſchlichen und geſchichtlichen aufgeſchoben, aber ſo viel muß ſchon
hier einleuchten: was dieſe Kunſt aus der empiriſchen Geſchichte heraus-
greift und zu ihrem Stoffe nimmt, wird von ihr in daſſelbe Licht der
Allgemeinheit heraufgehoben werden, wie die rein menſchliche Sphäre,
denn: was ſie angreift, das wird vergöttlicht.

β. Die einzelnen Momente.
§. 607.

In der ſpeziellen Auseinanderſetzung dieſes allgemeinen Weſens der Bild-
nerkunſt kommt zuerſt die äußere Beſtimmtheit des plaſtiſchen Werks, wie
ſolche von der innern relativ zu unterſcheiden iſt, und als erſtes Moment in
derſelben die Beſchaffenheit des Materials in Betracht. Der Körper deſſelben
ſoll nicht nur der allgemeinen techniſchen Forderung der Formbeſtimmtheit und
Dauer genügen, ſondern auch poſitiv von ſolchem Gefüge und Farbenton ſein,
daß er ähnlich wie die Schwere (§. 600) im äſthetiſchen Eindruck der reinen
Form mitgefühlt wird, ohne doch für ſich und für die Schwierigkeiten der Be-
arbeitung ein ſtoffartiges Intereſſe zu erwecken. Daher iſt Thon, Gyps,
Holz, Geſtein der Urgebirge, farbiger Marmor, Elfenbein,
koſtbares Metall
nur für untergeordnete oder vereinzelte, außerardentliche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0044" n="370"/>
von einer Spaltung handelt, die, wie wir &#x017F;ehen werden, ver&#x017F;chiedene<lb/><hi rendition="#g">Zweige</hi> der Pla&#x017F;tik begründet, welche &#x017F;ich freilich auch vereinigen können,<lb/>
von zwei Stoffwelten, deren relative Scheidung aus der Ge&#x017F;chichte der<lb/>
Phanta&#x017F;ie hier aufgenommen werden muß: Gott und Men&#x017F;ch, oder Gott<lb/>
und untergeordnetes dämoni&#x017F;ches We&#x017F;en (z. B. Satyr). Daß es beide<lb/>
Welten nebeneinander gibt, i&#x017F;t eigentlich ein Wider&#x017F;pruch, denn der Gott<lb/>
i&#x017F;t der ideale Men&#x017F;ch. Die Phanta&#x017F;ie i&#x017F;t aber auch in die&#x017F;er Richtung<lb/>
nicht logi&#x017F;ch: neben der ausdrücklich und &#x017F;chlechthin idealen Natur, dem<lb/>
Gotte, gibt es realere, in entfernterem, vermittelterem Sinn ideale<lb/>
Naturen. Allein in der Sculptur &#x017F;ind auch <hi rendition="#g">die&#x017F;e</hi> Naturen dennoch idealer,<lb/>
als z. B. in der Malerei der Men&#x017F;ch neben dem Gott. Der Gei&#x017F;t der Behand-<lb/>
lung gibt auch ihnen eine Seligkeit der Genüge, eine Fülle und Sättigung des<lb/>
Da&#x017F;eins, daß &#x017F;ie nach keiner Welt fragen, &#x017F;ondern &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t eine Welt,<lb/>
die Welt &#x017F;ind, und &#x017F;elb&#x017F;t im Thiere &#x017F;chauen wir den Inbegriff des voll-<lb/>
kommenen Weltalls, wie er jedem niedrigeren Stoffe im Schönen als<lb/>
Hintergrund eine Unendlichkeit gibt (vergl. §. 17, <hi rendition="#sub">3.</hi>) durch die Ge-<lb/>
diegenheit der pla&#x017F;ti&#x017F;chen Dar&#x017F;tellung die&#x017F;en Hintergrund in einer verkürz-<lb/>
ten Per&#x017F;pective. Ausdrücklich &#x017F;ind als endliche Naturen insbe&#x017F;ondere die<lb/>
ge&#x017F;chichtlichen ge&#x017F;etzt, denn Datum und Namen wei&#x017F;en &#x017F;ie buch&#x017F;täblich in<lb/>
das Zeitleben und die Härte &#x017F;einer Bedingungen. Wir haben die Frage<lb/>
über das Verhalten der pla&#x017F;ti&#x017F;chen Phanta&#x017F;ie zu dem Unter&#x017F;chiede der<lb/>
rein men&#x017F;chlichen und ge&#x017F;chichtlichen aufge&#x017F;choben, aber &#x017F;o viel muß &#x017F;chon<lb/>
hier einleuchten: was die&#x017F;e Kun&#x017F;t aus der empiri&#x017F;chen Ge&#x017F;chichte heraus-<lb/>
greift und zu ihrem Stoffe nimmt, wird von ihr in da&#x017F;&#x017F;elbe Licht der<lb/>
Allgemeinheit heraufgehoben werden, wie die rein men&#x017F;chliche Sphäre,<lb/>
denn: was &#x017F;ie angreift, das wird vergöttlicht.</hi> </p>
                  </div>
                </div><lb/>
                <div n="6">
                  <head><hi rendition="#i">&#x03B2;</hi>. Die einzelnen Momente.</head><lb/>
                  <div n="7">
                    <head>§. 607.</head><lb/>
                    <p> <hi rendition="#fr">In der &#x017F;peziellen Auseinander&#x017F;etzung die&#x017F;es allgemeinen We&#x017F;ens der Bild-<lb/>
nerkun&#x017F;t kommt zuer&#x017F;t die <hi rendition="#g">äußere Be&#x017F;timmtheit</hi> des pla&#x017F;ti&#x017F;chen Werks, wie<lb/>
&#x017F;olche von der innern relativ zu unter&#x017F;cheiden i&#x017F;t, und als er&#x017F;tes Moment in<lb/>
der&#x017F;elben die Be&#x017F;chaffenheit des <hi rendition="#g">Materials</hi> in Betracht. Der Körper de&#x017F;&#x017F;elben<lb/>
&#x017F;oll nicht nur der allgemeinen techni&#x017F;chen Forderung der Formbe&#x017F;timmtheit und<lb/>
Dauer genügen, &#x017F;ondern auch po&#x017F;itiv von &#x017F;olchem Gefüge und Farbenton &#x017F;ein,<lb/>
daß er ähnlich wie die Schwere (§. 600) im ä&#x017F;theti&#x017F;chen Eindruck der reinen<lb/>
Form mitgefühlt wird, ohne doch für &#x017F;ich und für die Schwierigkeiten der Be-<lb/>
arbeitung ein &#x017F;toffartiges Intere&#x017F;&#x017F;e zu erwecken. Daher i&#x017F;t <hi rendition="#g">Thon, Gyps,<lb/>
Holz, Ge&#x017F;tein der Urgebirge, farbiger Marmor, Elfenbein,<lb/>
ko&#x017F;tbares Metall</hi> nur für untergeordnete oder vereinzelte, außerardentliche<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[370/0044] von einer Spaltung handelt, die, wie wir ſehen werden, verſchiedene Zweige der Plaſtik begründet, welche ſich freilich auch vereinigen können, von zwei Stoffwelten, deren relative Scheidung aus der Geſchichte der Phantaſie hier aufgenommen werden muß: Gott und Menſch, oder Gott und untergeordnetes dämoniſches Weſen (z. B. Satyr). Daß es beide Welten nebeneinander gibt, iſt eigentlich ein Widerſpruch, denn der Gott iſt der ideale Menſch. Die Phantaſie iſt aber auch in dieſer Richtung nicht logiſch: neben der ausdrücklich und ſchlechthin idealen Natur, dem Gotte, gibt es realere, in entfernterem, vermittelterem Sinn ideale Naturen. Allein in der Sculptur ſind auch dieſe Naturen dennoch idealer, als z. B. in der Malerei der Menſch neben dem Gott. Der Geiſt der Behand- lung gibt auch ihnen eine Seligkeit der Genüge, eine Fülle und Sättigung des Daſeins, daß ſie nach keiner Welt fragen, ſondern ſich ſelbſt eine Welt, die Welt ſind, und ſelbſt im Thiere ſchauen wir den Inbegriff des voll- kommenen Weltalls, wie er jedem niedrigeren Stoffe im Schönen als Hintergrund eine Unendlichkeit gibt (vergl. §. 17, 3.) durch die Ge- diegenheit der plaſtiſchen Darſtellung dieſen Hintergrund in einer verkürz- ten Perſpective. Ausdrücklich ſind als endliche Naturen insbeſondere die geſchichtlichen geſetzt, denn Datum und Namen weiſen ſie buchſtäblich in das Zeitleben und die Härte ſeiner Bedingungen. Wir haben die Frage über das Verhalten der plaſtiſchen Phantaſie zu dem Unterſchiede der rein menſchlichen und geſchichtlichen aufgeſchoben, aber ſo viel muß ſchon hier einleuchten: was dieſe Kunſt aus der empiriſchen Geſchichte heraus- greift und zu ihrem Stoffe nimmt, wird von ihr in daſſelbe Licht der Allgemeinheit heraufgehoben werden, wie die rein menſchliche Sphäre, denn: was ſie angreift, das wird vergöttlicht. β. Die einzelnen Momente. §. 607. In der ſpeziellen Auseinanderſetzung dieſes allgemeinen Weſens der Bild- nerkunſt kommt zuerſt die äußere Beſtimmtheit des plaſtiſchen Werks, wie ſolche von der innern relativ zu unterſcheiden iſt, und als erſtes Moment in derſelben die Beſchaffenheit des Materials in Betracht. Der Körper deſſelben ſoll nicht nur der allgemeinen techniſchen Forderung der Formbeſtimmtheit und Dauer genügen, ſondern auch poſitiv von ſolchem Gefüge und Farbenton ſein, daß er ähnlich wie die Schwere (§. 600) im äſthetiſchen Eindruck der reinen Form mitgefühlt wird, ohne doch für ſich und für die Schwierigkeiten der Be- arbeitung ein ſtoffartiges Intereſſe zu erwecken. Daher iſt Thon, Gyps, Holz, Geſtein der Urgebirge, farbiger Marmor, Elfenbein, koſtbares Metall nur für untergeordnete oder vereinzelte, außerardentliche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/44
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 370. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/44>, abgerufen am 22.12.2024.