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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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unruhiger flattern die ähnlichen des Meeresgottes, die weichen und reichen
Haarknoten lassen Bacchus und Ariadne erkennen. Alle diese Dinge sind,
wie gesagt, auch ästhetische Motive, hier aber fassen wir sie als Kenn-
zeichen auf. Wie wichtig dieß Gebiet ist, zeigen namentlich gewisse Auf-
gaben im Gebiete des monumentalen Standbilds. Genügt es z. B.,
wenn, um den Erfinder der Buchdruckerkunst zu bezeichnen, ihm ein paar
Typen in die Hand gegeben werden? Wenn den Dichter die Leyer be-
zeichnet, wie ist er vom Musiker zu unterscheiden? Wie kann der Dichter
vom Dichter, abgesehen von der Individualität, nach Richtung und Gattung
seiner Werke unterschieden werden? Fein hat Schwanthaler Jean Paul durch
Anlehnung an einen Baumstaum und die Blume am Rocke charakteri-
sirt, Göthe thront mit Recht Jupiterartig auf dem Entwurfe der Bettina
von Arnim. -- Endlich bedarf die Plastik einer reichen, durch Gewohnheit
und Uebereinkunft unmittelbar verständlichen Gebärdensprache; vergl. zu
§. 339 Thl. 2, S. 214. Diese beschränkt sich natürlich nicht auf die
feineren Organe, Angesicht und Hand, sondern es handelt sich in der Plastik
auch von den größern Bewegungen der Arme und Beine. So bezeichnet ganz
besonders der hinter dem Kopf übergeschlagene Arm bei den Griechen Ruhe
und Schlaf und da dieß an die Nachtseite des Seelenlebens, an Traum,
Ahnung erinnert, so wird öfters auch der mystische Gott Apollon so ge-
bildet; die erhobenen Hände und Arme zeigen den Act der Anbetung, des
Flehens an, Stehen mit übergeschlagenem Bein drückt bequemes Sichgehen-
lassen aus, wie namentlich bei den Satyrn, Anziehen des einen Knies bei
einem gefallenen Krieger Todeskrampf u. s. w. (vergl. Quandt "Zur
Aesthetik", u. s. w. Allg. Monatschr. f. Wiss. u. Lit. Nov. 1852 und
Anderes O. Müller a. a. O. §. 335). Natürlich vollendet die über die
ganze Gestalt verbreitete Bewegung und Haltung diese Symbolik und so
ist z. B. der mild vorgebeugte sitzende Zeus der freundlich Gewährende.
Es versteht sich, daß alle bildende Kunst die Mimik im umfassendsten
Sinne zur Anwendung bringt, der Bildnerkunst aber ist es eigen, daß sie
einer einfacheren, mehr festgestellten Mimik bedarf; der Maler kann z. B.
den Zorn durch Bleiche oder Röthe, gepreßte oder emporgedrückte Lippen
u. s. w. darstellen, der Bildhauer hat hierin nothwendig ein beschränkteres
Alphabet der Bezeichnung, sonst würde er unklar werden und verwirren,
weil ihm Farbe, Vielheit bewegter Figuren, Hintergrund fehlt. -- Der
Schlußsatz des §. sagt nun aber, daß auf diese Ersatzmittel, wenigstens auf die
mehr äußerlichen, das Attribut u. s. w., doch kein allzugroßes Gewicht gelegt
werden darf; denn es bleibt dabei, daß in der Bildnerkunst eigentlich durch
die Gestalt selbst Alles gesagt werden soll, in der sie das Bleibende, Wesent-
liche der Gattung in fest abgeschlossener Schärfe hinstellt. Es war z. B.
leicht, den Laokoon als Trojaner, als Priester zu bezeichnen, aber die

unruhiger flattern die ähnlichen des Meeresgottes, die weichen und reichen
Haarknoten laſſen Bacchus und Ariadne erkennen. Alle dieſe Dinge ſind,
wie geſagt, auch äſthetiſche Motive, hier aber faſſen wir ſie als Kenn-
zeichen auf. Wie wichtig dieß Gebiet iſt, zeigen namentlich gewiſſe Auf-
gaben im Gebiete des monumentalen Standbilds. Genügt es z. B.,
wenn, um den Erfinder der Buchdruckerkunſt zu bezeichnen, ihm ein paar
Typen in die Hand gegeben werden? Wenn den Dichter die Leyer be-
zeichnet, wie iſt er vom Muſiker zu unterſcheiden? Wie kann der Dichter
vom Dichter, abgeſehen von der Individualität, nach Richtung und Gattung
ſeiner Werke unterſchieden werden? Fein hat Schwanthaler Jean Paul durch
Anlehnung an einen Baumſtaum und die Blume am Rocke charakteri-
ſirt, Göthe thront mit Recht Jupiterartig auf dem Entwurfe der Bettina
von Arnim. — Endlich bedarf die Plaſtik einer reichen, durch Gewohnheit
und Uebereinkunft unmittelbar verſtändlichen Gebärdenſprache; vergl. zu
§. 339 Thl. 2, S. 214. Dieſe beſchränkt ſich natürlich nicht auf die
feineren Organe, Angeſicht und Hand, ſondern es handelt ſich in der Plaſtik
auch von den größern Bewegungen der Arme und Beine. So bezeichnet ganz
beſonders der hinter dem Kopf übergeſchlagene Arm bei den Griechen Ruhe
und Schlaf und da dieß an die Nachtſeite des Seelenlebens, an Traum,
Ahnung erinnert, ſo wird öfters auch der myſtiſche Gott Apollon ſo ge-
bildet; die erhobenen Hände und Arme zeigen den Act der Anbetung, des
Flehens an, Stehen mit übergeſchlagenem Bein drückt bequemes Sichgehen-
laſſen aus, wie namentlich bei den Satyrn, Anziehen des einen Knies bei
einem gefallenen Krieger Todeskrampf u. ſ. w. (vergl. Quandt „Zur
Aeſthetik“, u. ſ. w. Allg. Monatſchr. f. Wiſſ. u. Lit. Nov. 1852 und
Anderes O. Müller a. a. O. §. 335). Natürlich vollendet die über die
ganze Geſtalt verbreitete Bewegung und Haltung dieſe Symbolik und ſo
iſt z. B. der mild vorgebeugte ſitzende Zeus der freundlich Gewährende.
Es verſteht ſich, daß alle bildende Kunſt die Mimik im umfaſſendſten
Sinne zur Anwendung bringt, der Bildnerkunſt aber iſt es eigen, daß ſie
einer einfacheren, mehr feſtgeſtellten Mimik bedarf; der Maler kann z. B.
den Zorn durch Bleiche oder Röthe, gepreßte oder emporgedrückte Lippen
u. ſ. w. darſtellen, der Bildhauer hat hierin nothwendig ein beſchränkteres
Alphabet der Bezeichnung, ſonſt würde er unklar werden und verwirren,
weil ihm Farbe, Vielheit bewegter Figuren, Hintergrund fehlt. — Der
Schlußſatz des §. ſagt nun aber, daß auf dieſe Erſatzmittel, wenigſtens auf die
mehr äußerlichen, das Attribut u. ſ. w., doch kein allzugroßes Gewicht gelegt
werden darf; denn es bleibt dabei, daß in der Bildnerkunſt eigentlich durch
die Geſtalt ſelbſt Alles geſagt werden ſoll, in der ſie das Bleibende, Weſent-
liche der Gattung in feſt abgeſchloſſener Schärfe hinſtellt. Es war z. B.
leicht, den Laokoon als Trojaner, als Prieſter zu bezeichnen, aber die

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[398/0072] unruhiger flattern die ähnlichen des Meeresgottes, die weichen und reichen Haarknoten laſſen Bacchus und Ariadne erkennen. Alle dieſe Dinge ſind, wie geſagt, auch äſthetiſche Motive, hier aber faſſen wir ſie als Kenn- zeichen auf. Wie wichtig dieß Gebiet iſt, zeigen namentlich gewiſſe Auf- gaben im Gebiete des monumentalen Standbilds. Genügt es z. B., wenn, um den Erfinder der Buchdruckerkunſt zu bezeichnen, ihm ein paar Typen in die Hand gegeben werden? Wenn den Dichter die Leyer be- zeichnet, wie iſt er vom Muſiker zu unterſcheiden? Wie kann der Dichter vom Dichter, abgeſehen von der Individualität, nach Richtung und Gattung ſeiner Werke unterſchieden werden? Fein hat Schwanthaler Jean Paul durch Anlehnung an einen Baumſtaum und die Blume am Rocke charakteri- ſirt, Göthe thront mit Recht Jupiterartig auf dem Entwurfe der Bettina von Arnim. — Endlich bedarf die Plaſtik einer reichen, durch Gewohnheit und Uebereinkunft unmittelbar verſtändlichen Gebärdenſprache; vergl. zu §. 339 Thl. 2, S. 214. Dieſe beſchränkt ſich natürlich nicht auf die feineren Organe, Angeſicht und Hand, ſondern es handelt ſich in der Plaſtik auch von den größern Bewegungen der Arme und Beine. So bezeichnet ganz beſonders der hinter dem Kopf übergeſchlagene Arm bei den Griechen Ruhe und Schlaf und da dieß an die Nachtſeite des Seelenlebens, an Traum, Ahnung erinnert, ſo wird öfters auch der myſtiſche Gott Apollon ſo ge- bildet; die erhobenen Hände und Arme zeigen den Act der Anbetung, des Flehens an, Stehen mit übergeſchlagenem Bein drückt bequemes Sichgehen- laſſen aus, wie namentlich bei den Satyrn, Anziehen des einen Knies bei einem gefallenen Krieger Todeskrampf u. ſ. w. (vergl. Quandt „Zur Aeſthetik“, u. ſ. w. Allg. Monatſchr. f. Wiſſ. u. Lit. Nov. 1852 und Anderes O. Müller a. a. O. §. 335). Natürlich vollendet die über die ganze Geſtalt verbreitete Bewegung und Haltung dieſe Symbolik und ſo iſt z. B. der mild vorgebeugte ſitzende Zeus der freundlich Gewährende. Es verſteht ſich, daß alle bildende Kunſt die Mimik im umfaſſendſten Sinne zur Anwendung bringt, der Bildnerkunſt aber iſt es eigen, daß ſie einer einfacheren, mehr feſtgeſtellten Mimik bedarf; der Maler kann z. B. den Zorn durch Bleiche oder Röthe, gepreßte oder emporgedrückte Lippen u. ſ. w. darſtellen, der Bildhauer hat hierin nothwendig ein beſchränkteres Alphabet der Bezeichnung, ſonſt würde er unklar werden und verwirren, weil ihm Farbe, Vielheit bewegter Figuren, Hintergrund fehlt. — Der Schlußſatz des §. ſagt nun aber, daß auf dieſe Erſatzmittel, wenigſtens auf die mehr äußerlichen, das Attribut u. ſ. w., doch kein allzugroßes Gewicht gelegt werden darf; denn es bleibt dabei, daß in der Bildnerkunſt eigentlich durch die Geſtalt ſelbſt Alles geſagt werden ſoll, in der ſie das Bleibende, Weſent- liche der Gattung in feſt abgeſchloſſener Schärfe hinſtellt. Es war z. B. leicht, den Laokoon als Trojaner, als Prieſter zu bezeichnen, aber die

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 398. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/72>, abgerufen am 22.12.2024.