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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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Sprache auflebt (§. 550); das leistet natürlich nicht jedes Kunstwerk,
der Künstler muß dafür sorgen, daß es danach beschaffen sei. In dem
Gebiete der bildenden Kunst, das wir nun betreten haben, soll das Werk
natürlich in höherem Sinn aufleben, als in der Baukunst. Aus einer
Reihe bewegter Momente des Menschenlebens wird einer gefesselt und
dieß soll so geschehen, daß die Phantasie bestimmt wird, sich die weitere
Reihe zu entwickeln, der gewählte Augenblick soll so sichtbar ein Ergebniß
des Vorhergehenden und ein Keim des Folgenden sein, daß er diese
Wirkung mit Nachdruck ausübt. "Wenn ein Werk der bildenden Kunst
sich wirklich vor dem Auge bewegen soll, so muß ein vorübergehender
Moment gewählt sein: kurz vorher darf kein Theil des Ganzen sich in
dieser Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Theil genöthigt sein,
diese Lage zu verlassen; dadurch wird das Werk Millionen Anschauern
immer wieder neu lebendig sein. -- Um die Intention des Laokoon recht
zu fassen, stelle man sich in gehöriger Entfernung mit geschlossenen Augen
davor; man öffne sie und schließe sie sogleich wieder, so wird man den
ganzen Marmor in Bewegung sehen, man wird fürchten, indem man die
Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte
sagen, wie sie jetzt dasteht, ist sie ein fixirter Blitz, eine Welle, versteinert
in dem Augenblicke, da sie gegen das Ufer anströmt" (Göthe W. B. 18,
S. 41). Der borghesische Fechter parirt eben einen Hieb oder Stich eines
Reiters oder einer Amazone, der von linksher gegen ihn geführt wird;
man sieht, wie die plötzliche Lebensgefahr ihn genöthigt hat, in äußerster
Spannung alle Gewandtheit, Fechterkunst zusammenzuraffen; den linken
Fuß zurück, den rechten vorgeworfen, deckt er den weit vorgebeugten Ober-
leib und Kopf mit dem Schilde, jede Muskel ist in diesem Augenblicke
haarscharfer Entscheidung angespannt. Aber er darf keinen zweiten Hieb
abwarten, es gilt nicht nur, sich zu schützen, sondern den gefährlichen Feind
zu vernichten; der rechte Arm mit der Lanze streckt sich daher bereits zum
Ausholen zurück; in der nächsten Secunde wird der Mann sich wie ein
Blitz herumwerfen, mit dem linken Bein ausfallen und den tödtlichen Stoß
führen. Welcher Augenblick in einer Reihe von Augenblicken einer bewegungs-
reichen Handlung ist nun der fruchtbarste? Man darf nicht so fragen, es
können verschiedene Augenblicke höchst fruchtbar sein und von demselben
Künstler oder von verschiedenen in verschiedenen Werken gewählt werden.
Man pflegt aber Einen Moment auszuschließen, nämlich den der ganzen,
äußersten Entladung aller in einer Handlung thätigen Kräfte; nur das
Ansteigen zu diesem Gipfel und das Herabsteigen von demselben soll Stoff
der Plastik sein; nur "ein ernster und leichter Beginn von Handlung"
oder ein Rückgang vom äußersten Conflicte: "die Sculptur muß nicht so dar-
stellen, wie wenn Menschen durch Hüons Horn mitten in Bewegung und

Sprache auflebt (§. 550); das leiſtet natürlich nicht jedes Kunſtwerk,
der Künſtler muß dafür ſorgen, daß es danach beſchaffen ſei. In dem
Gebiete der bildenden Kunſt, das wir nun betreten haben, ſoll das Werk
natürlich in höherem Sinn aufleben, als in der Baukunſt. Aus einer
Reihe bewegter Momente des Menſchenlebens wird einer gefeſſelt und
dieß ſoll ſo geſchehen, daß die Phantaſie beſtimmt wird, ſich die weitere
Reihe zu entwickeln, der gewählte Augenblick ſoll ſo ſichtbar ein Ergebniß
des Vorhergehenden und ein Keim des Folgenden ſein, daß er dieſe
Wirkung mit Nachdruck ausübt. „Wenn ein Werk der bildenden Kunſt
ſich wirklich vor dem Auge bewegen ſoll, ſo muß ein vorübergehender
Moment gewählt ſein: kurz vorher darf kein Theil des Ganzen ſich in
dieſer Lage befunden haben, kurz nachher muß jeder Theil genöthigt ſein,
dieſe Lage zu verlaſſen; dadurch wird das Werk Millionen Anſchauern
immer wieder neu lebendig ſein. — Um die Intention des Laokoon recht
zu faſſen, ſtelle man ſich in gehöriger Entfernung mit geſchloſſenen Augen
davor; man öffne ſie und ſchließe ſie ſogleich wieder, ſo wird man den
ganzen Marmor in Bewegung ſehen, man wird fürchten, indem man die
Augen wieder öffnet, die ganze Gruppe verändert zu finden. Ich möchte
ſagen, wie ſie jetzt daſteht, iſt ſie ein fixirter Blitz, eine Welle, verſteinert
in dem Augenblicke, da ſie gegen das Ufer anſtrömt“ (Göthe W. B. 18,
S. 41). Der borgheſiſche Fechter parirt eben einen Hieb oder Stich eines
Reiters oder einer Amazone, der von linksher gegen ihn geführt wird;
man ſieht, wie die plötzliche Lebensgefahr ihn genöthigt hat, in äußerſter
Spannung alle Gewandtheit, Fechterkunſt zuſammenzuraffen; den linken
Fuß zurück, den rechten vorgeworfen, deckt er den weit vorgebeugten Ober-
leib und Kopf mit dem Schilde, jede Muskel iſt in dieſem Augenblicke
haarſcharfer Entſcheidung angeſpannt. Aber er darf keinen zweiten Hieb
abwarten, es gilt nicht nur, ſich zu ſchützen, ſondern den gefährlichen Feind
zu vernichten; der rechte Arm mit der Lanze ſtreckt ſich daher bereits zum
Ausholen zurück; in der nächſten Secunde wird der Mann ſich wie ein
Blitz herumwerfen, mit dem linken Bein ausfallen und den tödtlichen Stoß
führen. Welcher Augenblick in einer Reihe von Augenblicken einer bewegungs-
reichen Handlung iſt nun der fruchtbarſte? Man darf nicht ſo fragen, es
können verſchiedene Augenblicke höchſt fruchtbar ſein und von demſelben
Künſtler oder von verſchiedenen in verſchiedenen Werken gewählt werden.
Man pflegt aber Einen Moment auszuſchließen, nämlich den der ganzen,
äußerſten Entladung aller in einer Handlung thätigen Kräfte; nur das
Anſteigen zu dieſem Gipfel und das Herabſteigen von demſelben ſoll Stoff
der Plaſtik ſein; nur „ein ernſter und leichter Beginn von Handlung“
oder ein Rückgang vom äußerſten Conflicte: „die Sculptur muß nicht ſo dar-
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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/74>, abgerufen am 22.12.2024.