Handlung versteinert oder gefroren wären. Im Gegentheil muß die Ge- bärde nur ein Beginnen und Zubereiten ausdrücken, eine In- tention, oder sie muß ein Aufhören und Zurückkehren aus der Hand- lung zur Ruhe bezeichnen" (Hegel Aesth. B. 2, S. 359 und 403). Diese Einschränkung ist unrichtig; thatsächlich widerlegt sie eben die Gruppe des Laokoon, in welcher, obwohl einer der Knaben noch lebt, doch im Zusammen- brechen des Vaters durch den tödtlichen Biß eben jetzt das Aeußerste des Jammers eintritt; oder, wenn man dieses Werk nicht als Beleg annehmen will, weil es sich an der äußersten Grenze des plastisch Zulässigen be- denklich bewege, die tausend Darstellungen von Kämpfen aus der besten Zeit, wo eben der Gegner durchbohrt, ein Wettlauf entschieden, eine Familie, wie die der Niobe, vom Todesgeschoß ereilt wird, und Gruppen aus späterer, doch noch guter Zeit, wie jener herrliche Gallier in Villa Ludovisi, der stolz und trotzig nach dem siegreichen Feinde das Haupt zu- rückwerfend, nachdem er Frau oder Tochter, die ihm wie eine geknickte Blume im Arme hängt, getödtet hat, sich das Schwert in die Brust stößt. Es sind zwei Gründe, welche schon Lessing für diese Einschränkung an- geführt hat. Der erste ist der, daß ein sogenannter äußerster Moment keine innere Entwicklung eines folgenden Bildes dem Zuschauer mehr ge- statte, so erklärt er eine Darstellung des eigentlichen Schreiens im Laokoon darum für unzulässig, weil dann der Phantasie keine höhere Stufe des Leidens vorzustellen übrig wäre. Laokoon thut, was er kann, er stöhnt, und er leidet bereits das Aeußerste, er wird auch nachher nicht schreien, sondern ein stiller Mann sein. Was übrig bleibt, ist die Vorstellung seines Zusammenbrechens, Todes; ein andermal ist es der Sieg, das heitere Ruhen vom Kampf, und es ist nicht abzusehen, warum das weitere Bild, das der Zauschauer sich entwickelt, nur ein noch höherer Grad furchtbaren Ausbruchs sein soll. Der Bildner muß darin ganz frei sein, er mag das Einemal das Stärkere, Furchtbarere, Aeußerste, das andremal das Rück- schnellen der gespannten Saite, jetzt ein wildes Ansteigen, jetzt ein ruhiges Absteigen unserer eigenen Phantasie zu bilden überlassen. Nicht ein Aeußer- stes überhaupt, sondern ein Aeußerstes besonderer Art ist ihm verboten, ein solches, das aus weiteren qualitativen Stylgesetzen unauflösbar häß- lich ist; davon werden wir an andrer Stelle sprechen. Ebenso verhält es sich nun mit dem zweiten Grunde. Lessing sagt nämlich (Laok. Cap. 3): "Alle Erscheinungen, zu deren Wesen wir es nach unseren Begriffen rechnen, daß sie plötzlich ausbrechen und plötzlich verschwinden, daß sie das, was sie sind, nur einen Augenblick sein können, alle solche Erscheinungen, sie mögen angenehm oder schrecklich sein, erhalten durch die Verlängerung der Kunst ein so widernatürliches Ansehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck schwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenstand
Handlung verſteinert oder gefroren wären. Im Gegentheil muß die Ge- bärde nur ein Beginnen und Zubereiten ausdrücken, eine In- tention, oder ſie muß ein Aufhören und Zurückkehren aus der Hand- lung zur Ruhe bezeichnen“ (Hegel Aeſth. B. 2, S. 359 und 403). Dieſe Einſchränkung iſt unrichtig; thatſächlich widerlegt ſie eben die Gruppe des Laokoon, in welcher, obwohl einer der Knaben noch lebt, doch im Zuſammen- brechen des Vaters durch den tödtlichen Biß eben jetzt das Aeußerſte des Jammers eintritt; oder, wenn man dieſes Werk nicht als Beleg annehmen will, weil es ſich an der äußerſten Grenze des plaſtiſch Zuläſſigen be- denklich bewege, die tauſend Darſtellungen von Kämpfen aus der beſten Zeit, wo eben der Gegner durchbohrt, ein Wettlauf entſchieden, eine Familie, wie die der Niobe, vom Todesgeſchoß ereilt wird, und Gruppen aus ſpäterer, doch noch guter Zeit, wie jener herrliche Gallier in Villa Ludoviſi, der ſtolz und trotzig nach dem ſiegreichen Feinde das Haupt zu- rückwerfend, nachdem er Frau oder Tochter, die ihm wie eine geknickte Blume im Arme hängt, getödtet hat, ſich das Schwert in die Bruſt ſtößt. Es ſind zwei Gründe, welche ſchon Leſſing für dieſe Einſchränkung an- geführt hat. Der erſte iſt der, daß ein ſogenannter äußerſter Moment keine innere Entwicklung eines folgenden Bildes dem Zuſchauer mehr ge- ſtatte, ſo erklärt er eine Darſtellung des eigentlichen Schreiens im Laokoon darum für unzuläſſig, weil dann der Phantaſie keine höhere Stufe des Leidens vorzuſtellen übrig wäre. Laokoon thut, was er kann, er ſtöhnt, und er leidet bereits das Aeußerſte, er wird auch nachher nicht ſchreien, ſondern ein ſtiller Mann ſein. Was übrig bleibt, iſt die Vorſtellung ſeines Zuſammenbrechens, Todes; ein andermal iſt es der Sieg, das heitere Ruhen vom Kampf, und es iſt nicht abzuſehen, warum das weitere Bild, das der Zauſchauer ſich entwickelt, nur ein noch höherer Grad furchtbaren Ausbruchs ſein ſoll. Der Bildner muß darin ganz frei ſein, er mag das Einemal das Stärkere, Furchtbarere, Aeußerſte, das andremal das Rück- ſchnellen der geſpannten Saite, jetzt ein wildes Anſteigen, jetzt ein ruhiges Abſteigen unſerer eigenen Phantaſie zu bilden überlaſſen. Nicht ein Aeußer- ſtes überhaupt, ſondern ein Aeußerſtes beſonderer Art iſt ihm verboten, ein ſolches, das aus weiteren qualitativen Stylgeſetzen unauflösbar häß- lich iſt; davon werden wir an andrer Stelle ſprechen. Ebenſo verhält es ſich nun mit dem zweiten Grunde. Leſſing ſagt nämlich (Laok. Cap. 3): „Alle Erſcheinungen, zu deren Weſen wir es nach unſeren Begriffen rechnen, daß ſie plötzlich ausbrechen und plötzlich verſchwinden, daß ſie das, was ſie ſind, nur einen Augenblick ſein können, alle ſolche Erſcheinungen, ſie mögen angenehm oder ſchrecklich ſein, erhalten durch die Verlängerung der Kunſt ein ſo widernatürliches Anſehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung der Eindruck ſchwächer wird und uns endlich vor dem ganzen Gegenſtand
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[401/0075]
Handlung verſteinert oder gefroren wären. Im Gegentheil muß die Ge-
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lung zur Ruhe bezeichnen“ (Hegel Aeſth. B. 2, S. 359 und 403). Dieſe
Einſchränkung iſt unrichtig; thatſächlich widerlegt ſie eben die Gruppe des
Laokoon, in welcher, obwohl einer der Knaben noch lebt, doch im Zuſammen-
brechen des Vaters durch den tödtlichen Biß eben jetzt das Aeußerſte des
Jammers eintritt; oder, wenn man dieſes Werk nicht als Beleg annehmen
will, weil es ſich an der äußerſten Grenze des plaſtiſch Zuläſſigen be-
denklich bewege, die tauſend Darſtellungen von Kämpfen aus der beſten
Zeit, wo eben der Gegner durchbohrt, ein Wettlauf entſchieden, eine
Familie, wie die der Niobe, vom Todesgeſchoß ereilt wird, und Gruppen
aus ſpäterer, doch noch guter Zeit, wie jener herrliche Gallier in Villa
Ludoviſi, der ſtolz und trotzig nach dem ſiegreichen Feinde das Haupt zu-
rückwerfend, nachdem er Frau oder Tochter, die ihm wie eine geknickte
Blume im Arme hängt, getödtet hat, ſich das Schwert in die Bruſt ſtößt.
Es ſind zwei Gründe, welche ſchon Leſſing für dieſe Einſchränkung an-
geführt hat. Der erſte iſt der, daß ein ſogenannter äußerſter Moment keine
innere Entwicklung eines folgenden Bildes dem Zuſchauer mehr ge-
ſtatte, ſo erklärt er eine Darſtellung des eigentlichen Schreiens im Laokoon
darum für unzuläſſig, weil dann der Phantaſie keine höhere Stufe des
Leidens vorzuſtellen übrig wäre. Laokoon thut, was er kann, er ſtöhnt,
und er leidet bereits das Aeußerſte, er wird auch nachher nicht ſchreien,
ſondern ein ſtiller Mann ſein. Was übrig bleibt, iſt die Vorſtellung ſeines
Zuſammenbrechens, Todes; ein andermal iſt es der Sieg, das heitere
Ruhen vom Kampf, und es iſt nicht abzuſehen, warum das weitere Bild,
das der Zauſchauer ſich entwickelt, nur ein noch höherer Grad furchtbaren
Ausbruchs ſein ſoll. Der Bildner muß darin ganz frei ſein, er mag das
Einemal das Stärkere, Furchtbarere, Aeußerſte, das andremal das Rück-
ſchnellen der geſpannten Saite, jetzt ein wildes Anſteigen, jetzt ein ruhiges
Abſteigen unſerer eigenen Phantaſie zu bilden überlaſſen. Nicht ein Aeußer-
ſtes überhaupt, ſondern ein Aeußerſtes beſonderer Art iſt ihm verboten,
ein ſolches, das aus weiteren qualitativen Stylgeſetzen unauflösbar häß-
lich iſt; davon werden wir an andrer Stelle ſprechen. Ebenſo verhält
es ſich nun mit dem zweiten Grunde. Leſſing ſagt nämlich (Laok. Cap. 3): „Alle
Erſcheinungen, zu deren Weſen wir es nach unſeren Begriffen rechnen,
daß ſie plötzlich ausbrechen und plötzlich verſchwinden, daß ſie das, was
ſie ſind, nur einen Augenblick ſein können, alle ſolche Erſcheinungen, ſie
mögen angenehm oder ſchrecklich ſein, erhalten durch die Verlängerung der
Kunſt ein ſo widernatürliches Anſehen, daß mit jeder wiederholten Erblickung
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 401. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/75>, abgerufen am 11.01.2025.
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