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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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im Gebiete der Gestaltenschönheit an sich einen geschichtlichen Styl nennen
kann, der so sehr sein Höchstes in der plastischen Ruhe geleistet hätte, daß
er sich mit dem eines Phidias vergleichen ließe, welcher zwar auch in rei-
cher Bewegung sich ausgebreitet, aber seinen Triumph in majestätisch ruhi-
gen Göttergestalten gefeiert hat; Raphael, der zwar die florentinische Zeich-
nung, die umbrische Innigkeit des Ausdrucks und der Farbe in sich ver-
einigt, aber doch den Nordländern gegenüber auf der plastischen Seite
steht, ist in gleicher Ausdehnung Meister der feurig bewegten Handlung
wie er im seinen heiligen Familien und im oberen Theile seiner Disputa
als der reinste Maler der idealen Ruhe verklärter Gestalten erscheint.
Vergleicht man jedoch die Bewegtheit, die auch der plastische Styl entfal-
tet, mit dem brausenden, sausenden Geiste eines Meisters im streng male-
rischen Style, wie Rubens, so erkennt man, daß dort mitten in der stärk-
sten Bewegung selbst ein dämpfender Regulator wirkt, eine Haltung in-
nerer Gewichtigkeit, die aus dem Bilde der wirklichen Ruhe herüberge-
nommen ist, ähnlich wie in der Bildnerkunst, ein gemessnerer, breiterer
tenor, während umgekehrt, wie wir gesehen, jener andere Styl mitten in
der Ruhe einen bewegten Wurf hat. Gerade aber im sculpturähnlichen
Bilde der wirklichen plastischen Ruhe zeigt sich nur um so bestimmter der Un-
terschied von der Bildnerkunst. Jetzt nämlich leuchtet auf concrete Weise
ein, daß in der Malerei nicht mehr die Rede sein kann von jenem feinen
Herüberwirken der Rücksicht auf das empirische, materielle Gleichgewicht in
die Darstellung (vergl. §. 649, 2.). Gemalte Figuren, welche so behan-
delt sind, drohen gerade zu fallen, weil sie das, was sich hier von selbst
versteht, ausdrücklich hüten zu müssen scheinen.

§. 682.

Der malerische Ausdruck hat nun die ganze reiche Welt von Erregun-
gen, Eigenschaften und Zuständen, welche auf dem Boden der in sich gegange-
nen, aus der naiven Einheit mit ihrem Sinnenleben und der umgebenden Welt
gelösten Subjectivität (vergl. §. 652--655) sich erzeugt, spezieller zu entfalten.
Das Gebiet der Phystognomik kommt jetzt in dem vollen Sinne von §. 340
zur Darstellung. Diese Auffassung des Seelenlebens spricht sich in den feineren
Mitteln der durchgeführteren Gebärdensprache, des kleinen Mienenspiels, der
Behandlung des Auges und der Gesichtsfarbe aus; durch dieselben verdoppelt
sich die Wirkung der über den ganzen Körper ergossenen Bewegung des hefti-
gen Affects, der auch in seinem stärksten Grade nicht ausgeschlossen ist. Doch
ist die Malerei mehr auf die Darstellung gemischter, als einfacher Affecte ge-
wiesen. An dieser Vertiefung und bunteren Brechung muß auch der Ausdruch

im Gebiete der Geſtaltenſchönheit an ſich einen geſchichtlichen Styl nennen
kann, der ſo ſehr ſein Höchſtes in der plaſtiſchen Ruhe geleiſtet hätte, daß
er ſich mit dem eines Phidias vergleichen ließe, welcher zwar auch in rei-
cher Bewegung ſich ausgebreitet, aber ſeinen Triumph in majeſtätiſch ruhi-
gen Göttergeſtalten gefeiert hat; Raphael, der zwar die florentiniſche Zeich-
nung, die umbriſche Innigkeit des Ausdrucks und der Farbe in ſich ver-
einigt, aber doch den Nordländern gegenüber auf der plaſtiſchen Seite
ſteht, iſt in gleicher Ausdehnung Meiſter der feurig bewegten Handlung
wie er im ſeinen heiligen Familien und im oberen Theile ſeiner Diſputa
als der reinſte Maler der idealen Ruhe verklärter Geſtalten erſcheint.
Vergleicht man jedoch die Bewegtheit, die auch der plaſtiſche Styl entfal-
tet, mit dem brauſenden, ſauſenden Geiſte eines Meiſters im ſtreng male-
riſchen Style, wie Rubens, ſo erkennt man, daß dort mitten in der ſtärk-
ſten Bewegung ſelbſt ein dämpfender Regulator wirkt, eine Haltung in-
nerer Gewichtigkeit, die aus dem Bilde der wirklichen Ruhe herüberge-
nommen iſt, ähnlich wie in der Bildnerkunſt, ein gemeſſnerer, breiterer
tenor, während umgekehrt, wie wir geſehen, jener andere Styl mitten in
der Ruhe einen bewegten Wurf hat. Gerade aber im ſculpturähnlichen
Bilde der wirklichen plaſtiſchen Ruhe zeigt ſich nur um ſo beſtimmter der Un-
terſchied von der Bildnerkunſt. Jetzt nämlich leuchtet auf concrete Weiſe
ein, daß in der Malerei nicht mehr die Rede ſein kann von jenem feinen
Herüberwirken der Rückſicht auf das empiriſche, materielle Gleichgewicht in
die Darſtellung (vergl. §. 649, 2.). Gemalte Figuren, welche ſo behan-
delt ſind, drohen gerade zu fallen, weil ſie das, was ſich hier von ſelbſt
verſteht, ausdrücklich hüten zu müſſen ſcheinen.

§. 682.

Der maleriſche Ausdruck hat nun die ganze reiche Welt von Erregun-
gen, Eigenſchaften und Zuſtänden, welche auf dem Boden der in ſich gegange-
nen, aus der naiven Einheit mit ihrem Sinnenleben und der umgebenden Welt
gelösten Subjectivität (vergl. §. 652—655) ſich erzeugt, ſpezieller zu entfalten.
Das Gebiet der Phyſtognomik kommt jetzt in dem vollen Sinne von §. 340
zur Darſtellung. Dieſe Auffaſſung des Seelenlebens ſpricht ſich in den feineren
Mitteln der durchgeführteren Gebärdenſprache, des kleinen Mienenſpiels, der
Behandlung des Auges und der Geſichtsfarbe aus; durch dieſelben verdoppelt
ſich die Wirkung der über den ganzen Körper ergoſſenen Bewegung des hefti-
gen Affects, der auch in ſeinem ſtärkſten Grade nicht ausgeſchloſſen iſt. Doch
iſt die Malerei mehr auf die Darſtellung gemiſchter, als einfacher Affecte ge-
wieſen. An dieſer Vertiefung und bunteren Brechung muß auch der Ausdruch

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[592/0100] im Gebiete der Geſtaltenſchönheit an ſich einen geſchichtlichen Styl nennen kann, der ſo ſehr ſein Höchſtes in der plaſtiſchen Ruhe geleiſtet hätte, daß er ſich mit dem eines Phidias vergleichen ließe, welcher zwar auch in rei- cher Bewegung ſich ausgebreitet, aber ſeinen Triumph in majeſtätiſch ruhi- gen Göttergeſtalten gefeiert hat; Raphael, der zwar die florentiniſche Zeich- nung, die umbriſche Innigkeit des Ausdrucks und der Farbe in ſich ver- einigt, aber doch den Nordländern gegenüber auf der plaſtiſchen Seite ſteht, iſt in gleicher Ausdehnung Meiſter der feurig bewegten Handlung wie er im ſeinen heiligen Familien und im oberen Theile ſeiner Diſputa als der reinſte Maler der idealen Ruhe verklärter Geſtalten erſcheint. Vergleicht man jedoch die Bewegtheit, die auch der plaſtiſche Styl entfal- tet, mit dem brauſenden, ſauſenden Geiſte eines Meiſters im ſtreng male- riſchen Style, wie Rubens, ſo erkennt man, daß dort mitten in der ſtärk- ſten Bewegung ſelbſt ein dämpfender Regulator wirkt, eine Haltung in- nerer Gewichtigkeit, die aus dem Bilde der wirklichen Ruhe herüberge- nommen iſt, ähnlich wie in der Bildnerkunſt, ein gemeſſnerer, breiterer tenor, während umgekehrt, wie wir geſehen, jener andere Styl mitten in der Ruhe einen bewegten Wurf hat. Gerade aber im ſculpturähnlichen Bilde der wirklichen plaſtiſchen Ruhe zeigt ſich nur um ſo beſtimmter der Un- terſchied von der Bildnerkunſt. Jetzt nämlich leuchtet auf concrete Weiſe ein, daß in der Malerei nicht mehr die Rede ſein kann von jenem feinen Herüberwirken der Rückſicht auf das empiriſche, materielle Gleichgewicht in die Darſtellung (vergl. §. 649, 2.). Gemalte Figuren, welche ſo behan- delt ſind, drohen gerade zu fallen, weil ſie das, was ſich hier von ſelbſt verſteht, ausdrücklich hüten zu müſſen ſcheinen. §. 682. Der maleriſche Ausdruck hat nun die ganze reiche Welt von Erregun- gen, Eigenſchaften und Zuſtänden, welche auf dem Boden der in ſich gegange- nen, aus der naiven Einheit mit ihrem Sinnenleben und der umgebenden Welt gelösten Subjectivität (vergl. §. 652—655) ſich erzeugt, ſpezieller zu entfalten. Das Gebiet der Phyſtognomik kommt jetzt in dem vollen Sinne von §. 340 zur Darſtellung. Dieſe Auffaſſung des Seelenlebens ſpricht ſich in den feineren Mitteln der durchgeführteren Gebärdenſprache, des kleinen Mienenſpiels, der Behandlung des Auges und der Geſichtsfarbe aus; durch dieſelben verdoppelt ſich die Wirkung der über den ganzen Körper ergoſſenen Bewegung des hefti- gen Affects, der auch in ſeinem ſtärkſten Grade nicht ausgeſchloſſen iſt. Doch iſt die Malerei mehr auf die Darſtellung gemiſchter, als einfacher Affecte ge- wieſen. An dieſer Vertiefung und bunteren Brechung muß auch der Ausdruch

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 592. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/100>, abgerufen am 22.11.2024.