Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
gesicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zusammenzieht, aus dem
geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0104" n="596"/> geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem<lb/> Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl<lb/> unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die<lb/> Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit<lb/> nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird<lb/> aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich<lb/> nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie<lb/> wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente,<lb/> wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen-<lb/> heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver-<lb/> wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind<lb/> hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der<lb/> Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem<lb/> Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren<lb/> Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch<lb/> maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy-<lb/> ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we-<lb/> ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein.<lb/> Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an-<lb/> tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der<lb/> wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt,<lb/> ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck<lb/> von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem<lb/> Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines<lb/> Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei,<lb/> den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf<lb/> der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur-<lb/> ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner-<lb/> licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen,<lb/> auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes<lb/> kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über<lb/> die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt<lb/> im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den<lb/> Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See-<lb/> lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier<lb/> auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer<lb/> Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr<lb/> Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn,<lb/> Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch<lb/> auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher<lb/> ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [596/0104]
geſicht in einen Schlangenknäuel von Einzelfalten zuſammenzieht, aus dem
Auge wie ein Bündel von Pfeilſpitzen oder ein gebrochner, dünner Strahl
unendlichen Flehens blickt. Im Beſitze dieſer vielfältigen Mittel wird die
Malerei jedem Affecte, ſo ſtark er ſein mag, die Geſtalt der Einfachheit
nehmen und ihn in ein volles Concert von Tönen verwandeln, ſie wird
aber auch wirklich die Erſcheinung jener Affecte aufſuchen, in welcher ſich
nicht nur Verſchiedenes, ſondern ſelbſt Entgegengeſetztes durchdringt: ſie
wird die Widerſprüche der pſychiſchen Verwicklung ſuchen, die Momente,
wo Beſcheidenheit und Stolz, Angſt und Zorn, Zweifel und Entſchloſſen-
heit, kurz jedes ſcheinbar unvereinbare Paar, begleitet von einer Welt ver-
wandter Empfindungen ſich im Gemüthe begegnet. Die Kreuzungen ſind
hier im Ausdruck ebenſo zu Hauſe, wie im Colorit. — Der Gegenſatz der
Style ſpielt nun ſeine Rolle natürlich in voller Stärke auch auf dieſem
Gebiete. In dem Bilde einer naiveren, ungetheilteren, harmloſeren
Menſchheit, wie es uns aus der Behandlung des Ausdrucks im plaſtiſch
maleriſchen Styl entgegentritt, wird jene Kleinwelt der Mimik und Phy-
ſiognomik, die der ſtreng maleriſche ſo wirkſam anwendet, gegen die we-
ſentlichen Grundzüge zurückſtehen, in engerem Maaße ausgebildet ſein.
Er wird eine Stelle einnehmen nicht ganz in der Mitte zwiſchen der an-
tiken Schauſpielkunſt in der Maske und der modernen, die jeden Zug der
wirklichen Perſönlichkeit mit allen ſeinen Einzelheiten in Bewegung ſetzt,
ſondern um ein Weniges der erſteren näher. Man wird den Eindruck
von ſeinen Geſtalten und Köpfen empfangen, daß, verglichen mit dem
Werke der Plaſtik, doch der Ausdruck der augenblicklichen Möglichkeit eines
Bruchs der ruhigen, auch in der Leidenſchaft unverlorenen Harmonie da ſei,
den aber die natürliche Anmuth und die einfach gediegene Würde auf
der Schwelle ſtetig zurückhalte. Dieſe Anmuth und Würde wird ſculptur-
ähnlich und doch verglichen mit der wirklichen Sculptur ungleich inner-
licher ſein. Die Anmuth wird auf ein tieferes, innigeres Wohlwollen,
auf eine univerſalere Menſchenliebe hinweiſen, denn der Blitz des Geiſtes
kommt in der maleriſchen Darſtellung immer aus Tiefen, die weit über
die Beſonderheit vereinzelter Kreiſe des Weltganzen hinausreichen; ſelbſt
im Gebiete des harmloſen Lebens, im Glück der Natur wird aus den
Augen einer ſinnenfrohen Menſchheit eine Erwärmung des tiefſten See-
lenlebens, eine Seelenfreude leuchten, die uns doch ankündigt, daß es hier
auch eine Sehnſucht und einen Schmerz gebe, die einer Aphrodite, einer
Bacchantin fremd ſind; die männliche Würde aber wird uns durch ihr
Sinnen und ihre Falten von andern Kämpfen erzählen, als die Feldherrn,
Staatsmänner, Redner der plaſtiſchen Welt; und entfeſſelt der plaſtiſch
auffaſſende Maler den Sturm der Leidenſchaft, ſo wird er wohl einfacher
ſein, die gemiſchten, ſcheinbar widerſprechenden Affecte lieber meiden,
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