Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.2 Der Gesichtssinn spaltet sich in zwei Weisen der Auffassung, das 34*
2 Der Geſichtsſinn ſpaltet ſich in zwei Weiſen der Auffaſſung, das 34*
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2 Der Geſichtsſinn ſpaltet ſich in zwei Weiſen der Auffaſſung, das
taſtende und das eigentliche Sehen. Es iſt auch in dieſer zweiten noch
ein verhülltes Taſten (vergl. §. 71 Anm.), aber es beſtimmt nicht mehr
den Charakter der ganzen Auffaſſung, wie in der erſten, vielmehr wird die
feſte und dichte Form zwar weſentlich miterfaßt, aber nur als Träger der
Licht- und Farbenwirkungen. Wir würden keine Formverhältniſſe des
Körpers mit dem Auge aufnehmen, wenn nicht der Taſtſinn als ein ver-
geiſtigter im Geſichtſinne mitgeſetzt wäre; es iſt aber etwas Anderes, ob
der letztere ſich auf dieß Taſten ohne wirkliches Taſten iſolirt, oder ob er
daſſelbe nur als flüſſiges Moment in dem Ganzen ſeiner Auffaſſung wir-
ken läßt. Im letzteren Falle entkleidet die Art der Anſchauung den feſten
Körper in gewiſſem Sinn ſeiner Schwere, Dichtheit, überhaupt ſeiner
ſtrengen Körperlichkeit, fühlt dieſe ſo zu ſagen nur leiſe, nur entfernt, der
Körper wird ihr zum Organe, das eine Licht- und Farbenwelt auffängt
und wieder von ſich ausſtrahlen läßt. Dieß Verflüchtigen, Verſchweben-
laſſen liegt alſo ſchon im ſubjectiven Acte, darf nicht, wie gewöhnlich ge-
ſchieht, erſt in dem Werke des Malers aufgezeigt werden. Hiemit iſt nun
bereits auch der weitere Auffaſſungskreis des eigentlich ſehenden Auges
ausgeſprochen: es nimmt nicht die geſchloſſen-organiſche Geſtalt aus dem
unbeſtimmten Gebildeten, weit Ausgedehnten, elementariſch Ergoſſenen,
wozwiſchen ſie ſich bewegt und worin ſie athmet, heraus, ſchneidet nicht
wie mit ſcharfem Meſſer durch, ſondern greift über das dargebotene Ganze
der allgemeinen Medien, der ausgedehnteren und zerfloſſeneren Erſchei-
nungen, und der compacten, organiſch gerundeten über, faßt dieß Alles
in Eine Anſchauung zuſammen. Dieſe breitet ſich zunächſt natürlich immer ſo
weit aus, als der jeweilig gegebene Geſichtskreis, ſie kann ſich jedoch be-
ſchränken und ausſchneidend nur auf einen Theil deſſelben fixiren, aber
auch der Ausſchnitt umfaßt ein Ganzes der genannten Art. Wir haben
zum taſtenden Sehen, als der Quelle der Bildnerkunſt, in §. 599 ſogleich
die Strenge des Meſſens geſtellt, wodurch dort die Nähe der Baukunſt
ſich geltend macht. Das eigentliche Sehen mißt auch noch in demſelben
Sinn, wie jenes, nämlich die Proportionen der organiſchen Geſtalt; von
dieſer Form des Meſſens gilt jedoch daſſelbe, was oben vom mitgeſetzten
Taſten geſagt iſt: es wird zum bloßen, flüchtigen Momente, zur Grund-
lage im Sinn eines Grundes, über den ſich das Weſentliche, Eigentliche
erſt hinziehen, überbreiten ſoll. Dagegen tritt eine andere Art des Meſ-
ſens hinzu, die allerdings im ſubjectiven Acte der Anſchauung noch unbe-
ſtimmter iſt, als die ebengenannte, und auch in der Arbeit der objectiven
Darſtellung nicht bis zu der Exactheit der Proportionen-Meſſung fortgeht:
ſie bezieht ſich auf die allgemeinen Medien und Raumverhältniſſe. Die
Auffaſſung der erſteren iſt natürlich am weiteſten vom ſtrengeren Meſſen
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