tern nicht blos mittelalterliche Culturformen ohne jede Beziehung auf das Mythische versteht). Nun mag denn die Schönheit menschlicher Gestalt, mögen menschliche Empfindungen, Motive, Genüsse als Götter, Genien, Geister in mancherlei einfacherer Situation oder phantastisch erfundener Handlung gleichsam durchsichtiger, unbedingter zur Darstellung gelangen, die Liebe in Amor und Venus oder Feen und Elfen, die Jagdlust als Diana und ihr Gefolge, der Wein nicht in menschlichem Zechgelage, son- dern im bacchischen Kreise oder in einer Gruppe romantisch erfundener Geister des Weins, die dunkle, ahnungvolle Beziehung des Menschen zu der Natur in Nymphen, Nereiden, Nixen, Elfen u. s. w.: es sind die reinen Geister der Sache in zärteren Leibern. Nebenher legt sich an die- ses Gebiet die toll gespenstische Welt, wie sie in den Versuchungen des h. Antonius u. s. w. mit traumhaftem Humor dargestellt ist.
Diese Gestaltenwelt schöpft der Maler großentheils nicht unmittelbar aus altem Völkerglauben, sondern aus dem Munde der Dichter. Die Poesie ist als weitere Quelle für das Sittenbild gerade hier angeführt, weil es namentlich die mythischen Stoffe sind, welche der Maler zunächst aus ihrer Hand empfängt; er kann aber ebenso gut auch jede andere Art von Stoff durch ihre Vermittlung sich geben lassen, sei es irgend ein na- menloses außergeschichtliches, aber rein reales Motiv, das er z. B. aus Romanen schöpft, die sich nicht an die Geschichte lehnen, wie denn eine auf das allgemein Menschliche in besonderer Reinheit gerichtete Dichter- Phantasie ihre Stoffe nicht gern genau localisirt, sei es auch dichterisch verarbeitete Geschichte. Es ist also logische Verwirrung, wenn man meint, die Poesie sei eine neue Quelle in dem Sinn, daß sie eine neue Art von Stoffen bringe; es werden dieselben Stoffe nur aus einem weiteren Me- dium entlehnt, durch das sie vorher gegangen sind.
§. 704.
1.
Nur die erste dieser Sphären stellt das Sittenbild in seiner Reinheit dar. Die nähere Eintheilung derselben gründet sich zunächst ebenfalls auf die Unter- schiede des Stoffs, doch nicht sowohl nach anthropologischen Differenzen und nach Völkern, über welche allerdings die Malerei in wachsender Aufschließung der Ferne und Erweiterung des Interesses für alles Menschliche sich ausdehnt, 2.als vielmehr nach dem verschiedenen Charakter der Stände. Dieser Unterschied führt unmittelbar zu einer andern Theilung, nämlich derjenigen, welche durch die Auffassung verschiedener Seiten des Stoffs bedingt ist, denn je nach der gesellschaftlichen Schichte wendet sich die künstlerische Auffassung mehr dem innern Seelenleben oder mehr den äußern Culturformen zu; doch bringt gerade die Feinheit der psychologischen Belauschung zugleich die gemüth-
tern nicht blos mittelalterliche Culturformen ohne jede Beziehung auf das Mythiſche verſteht). Nun mag denn die Schönheit menſchlicher Geſtalt, mögen menſchliche Empfindungen, Motive, Genüſſe als Götter, Genien, Geiſter in mancherlei einfacherer Situation oder phantaſtiſch erfundener Handlung gleichſam durchſichtiger, unbedingter zur Darſtellung gelangen, die Liebe in Amor und Venus oder Feen und Elfen, die Jagdluſt als Diana und ihr Gefolge, der Wein nicht in menſchlichem Zechgelage, ſon- dern im bacchiſchen Kreiſe oder in einer Gruppe romantiſch erfundener Geiſter des Weins, die dunkle, ahnungvolle Beziehung des Menſchen zu der Natur in Nymphen, Nereiden, Nixen, Elfen u. ſ. w.: es ſind die reinen Geiſter der Sache in zärteren Leibern. Nebenher legt ſich an die- ſes Gebiet die toll geſpenſtiſche Welt, wie ſie in den Verſuchungen des h. Antonius u. ſ. w. mit traumhaftem Humor dargeſtellt iſt.
Dieſe Geſtaltenwelt ſchöpft der Maler großentheils nicht unmittelbar aus altem Völkerglauben, ſondern aus dem Munde der Dichter. Die Poeſie iſt als weitere Quelle für das Sittenbild gerade hier angeführt, weil es namentlich die mythiſchen Stoffe ſind, welche der Maler zunächſt aus ihrer Hand empfängt; er kann aber ebenſo gut auch jede andere Art von Stoff durch ihre Vermittlung ſich geben laſſen, ſei es irgend ein na- menloſes außergeſchichtliches, aber rein reales Motiv, das er z. B. aus Romanen ſchöpft, die ſich nicht an die Geſchichte lehnen, wie denn eine auf das allgemein Menſchliche in beſonderer Reinheit gerichtete Dichter- Phantaſie ihre Stoffe nicht gern genau localiſirt, ſei es auch dichteriſch verarbeitete Geſchichte. Es iſt alſo logiſche Verwirrung, wenn man meint, die Poeſie ſei eine neue Quelle in dem Sinn, daß ſie eine neue Art von Stoffen bringe; es werden dieſelben Stoffe nur aus einem weiteren Me- dium entlehnt, durch das ſie vorher gegangen ſind.
§. 704.
1.
Nur die erſte dieſer Sphären ſtellt das Sittenbild in ſeiner Reinheit dar. Die nähere Eintheilung derſelben gründet ſich zunächſt ebenfalls auf die Unter- ſchiede des Stoffs, doch nicht ſowohl nach anthropologiſchen Differenzen und nach Völkern, über welche allerdings die Malerei in wachſender Aufſchließung der Ferne und Erweiterung des Intereſſes für alles Menſchliche ſich ausdehnt, 2.als vielmehr nach dem verſchiedenen Charakter der Stände. Dieſer Unterſchied führt unmittelbar zu einer andern Theilung, nämlich derjenigen, welche durch die Auffaſſung verſchiedener Seiten des Stoffs bedingt iſt, denn je nach der geſellſchaftlichen Schichte wendet ſich die künſtleriſche Auffaſſung mehr dem innern Seelenleben oder mehr den äußern Culturformen zu; doch bringt gerade die Feinheit der pſychologiſchen Belauſchung zugleich die gemüth-
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Mythiſche verſteht). Nun mag denn die Schönheit menſchlicher Geſtalt,
mögen menſchliche Empfindungen, Motive, Genüſſe als Götter, Genien,
Geiſter in mancherlei einfacherer Situation oder phantaſtiſch erfundener
Handlung gleichſam durchſichtiger, unbedingter zur Darſtellung gelangen,
die Liebe in Amor und Venus oder Feen und Elfen, die Jagdluſt als
Diana und ihr Gefolge, der Wein nicht in menſchlichem Zechgelage, ſon-
dern im bacchiſchen Kreiſe oder in einer Gruppe romantiſch erfundener
Geiſter des Weins, die dunkle, ahnungvolle Beziehung des Menſchen zu
der Natur in Nymphen, Nereiden, Nixen, Elfen u. ſ. w.: es ſind die
reinen Geiſter der Sache in zärteren Leibern. Nebenher legt ſich an die-
ſes Gebiet die toll geſpenſtiſche Welt, wie ſie in den Verſuchungen des
h. Antonius u. ſ. w. mit traumhaftem Humor dargeſtellt iſt.
Dieſe Geſtaltenwelt ſchöpft der Maler großentheils nicht unmittelbar
aus altem Völkerglauben, ſondern aus dem Munde der Dichter. Die
Poeſie iſt als weitere Quelle für das Sittenbild gerade hier angeführt,
weil es namentlich die mythiſchen Stoffe ſind, welche der Maler zunächſt
aus ihrer Hand empfängt; er kann aber ebenſo gut auch jede andere Art von
Stoff durch ihre Vermittlung ſich geben laſſen, ſei es irgend ein na-
menloſes außergeſchichtliches, aber rein reales Motiv, das er z. B.
aus Romanen ſchöpft, die ſich nicht an die Geſchichte lehnen, wie denn
eine auf das allgemein Menſchliche in beſonderer Reinheit gerichtete Dichter-
Phantaſie ihre Stoffe nicht gern genau localiſirt, ſei es auch dichteriſch
verarbeitete Geſchichte. Es iſt alſo logiſche Verwirrung, wenn man meint,
die Poeſie ſei eine neue Quelle in dem Sinn, daß ſie eine neue Art von
Stoffen bringe; es werden dieſelben Stoffe nur aus einem weiteren Me-
dium entlehnt, durch das ſie vorher gegangen ſind.
§. 704.
Nur die erſte dieſer Sphären ſtellt das Sittenbild in ſeiner Reinheit dar.
Die nähere Eintheilung derſelben gründet ſich zunächſt ebenfalls auf die Unter-
ſchiede des Stoffs, doch nicht ſowohl nach anthropologiſchen Differenzen und
nach Völkern, über welche allerdings die Malerei in wachſender Aufſchließung
der Ferne und Erweiterung des Intereſſes für alles Menſchliche ſich ausdehnt,
als vielmehr nach dem verſchiedenen Charakter der Stände. Dieſer Unterſchied
führt unmittelbar zu einer andern Theilung, nämlich derjenigen, welche durch
die Auffaſſung verſchiedener Seiten des Stoffs bedingt iſt, denn je nach der
geſellſchaftlichen Schichte wendet ſich die künſtleriſche Auffaſſung mehr dem
innern Seelenleben oder mehr den äußern Culturformen zu; doch
bringt gerade die Feinheit der pſychologiſchen Belauſchung zugleich die gemüth-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 666. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/174>, abgerufen am 16.02.2025.
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