liche Vertiefung in das Umgebende, eine umständliche Auffassung nach dieser Seite mit sich.
1. Daß das Sittenbild in seinem wahren und ganzen Wesen nur da gegeben ist, wo es seinen Stoff im genannten Sinn außergeschichtlich und zugleich nicht übermenschlich behandelt, dieß bedarf keines Beweises. Die andern Sphären bringen ein die reinen Eintheilungs-Linien durch- kreuzendes, logisch schwieriges Element herein. Uebersehen wir nun das Gebiet des reinen Sittenbildes, so liegt vor uns der ganze Stoff, der im ersten Abschnitte des zweiten Theils unseres Systems unter C, a: "die menschliche Schönheit überhaupt" aufgeführt ist: die allgemeinen For- men (die Gestalt, Zustände und Altersstufen, die Geschlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie). Die besondern Formen (die Nacen und Völker, die Culturformen, das Staatsleben), die individuellen Formen (die natür- liche, die sittliche Bestimmtheit des Individuums, der Charakter, Physiog- nomik, Pathognomik). Die Kunst nun mischt die verschiedenen Theile dieses Feldes so, daß sie den letzten, nämlich das physiognomisch und pathogno- misch belauschte Individuum, getaucht in das Element der beiden ersten (der allgemeinen und besondern Formen) zur Darstellung bringt. Daß insbesondere nun auch der Charakter im untergeordneten Sinne habitueller kleiner Leidenschaft u. s. w. die Stelle findet, die ihm §. 685 Anm. in der Malerei eingeräumt hat, ergibt sich aus der Natur des Sittenbilds. Diesem ganzen Gebiete gibt die Sittenmalerei allerdings die concrete Färbung der geschichtlichen Schönheit, trägt also den gesammten Stoff in das Gebiet hinein, das jener Abschnitt unter C, b. entfaltet, aber, wie gesagt, nur so, daß das mit ausdrücklichen Datum bezeichnete Diese vom Geschichtlichen wegbleibt. Die selbständige Eintheilung dieser so beschaffe- nen Sphäre als eines Zweigs der Malerei ist nun aber erst zu suchen. Da bildet denn der Stoff, wie er sich auf die anthropologischen Unter- schiede: Geschlechter, Lebensalter u. s. w., dann auf die Unterschiede der Völker gründet, ebenso wenig eine einschneidende Theilung, als der Unterschied der Zonen, Länder in der Landschaft. Merkwürdig bezeichnend aber ist es für die moderne Zeit, wie die Kreise wachsen: italienisches Gesindel, Soldaten, dann holländische Bauern, Bürger und Vornehme waren bei der Entstehung des Zweigs fast der einzige Stoff; der natur- wissenschaftliche, entdeckende, Fernenöffnende, kosmopolitische, jede Form des Menschlichen in sein tiefes und weites Interesse ziehende Geist der Zeit hat nun aber in raschem Fortschritt alle Länder Europa's, Asien, Afrika, die malerischen Stoffe Amerika's erschlossen und sammelt in immer wei- terem Wandertriebe, wie Herder die Stimmen der Völker, den malerischen Honig aus der fernsten Blume. Dabei ist es ein Hauptzug, daß das
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liche Vertiefung in das Umgebende, eine umſtändliche Auffaſſung nach dieſer Seite mit ſich.
1. Daß das Sittenbild in ſeinem wahren und ganzen Weſen nur da gegeben iſt, wo es ſeinen Stoff im genannten Sinn außergeſchichtlich und zugleich nicht übermenſchlich behandelt, dieß bedarf keines Beweiſes. Die andern Sphären bringen ein die reinen Eintheilungs-Linien durch- kreuzendes, logiſch ſchwieriges Element herein. Ueberſehen wir nun das Gebiet des reinen Sittenbildes, ſo liegt vor uns der ganze Stoff, der im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems unter C, a: „die menſchliche Schönheit überhaupt“ aufgeführt iſt: die allgemeinen For- men (die Geſtalt, Zuſtände und Altersſtufen, die Geſchlechter, die Liebe, die Ehe, die Familie). Die beſondern Formen (die Nacen und Völker, die Culturformen, das Staatsleben), die individuellen Formen (die natür- liche, die ſittliche Beſtimmtheit des Individuums, der Charakter, Phyſiog- nomik, Pathognomik). Die Kunſt nun miſcht die verſchiedenen Theile dieſes Feldes ſo, daß ſie den letzten, nämlich das phyſiognomiſch und pathogno- miſch belauſchte Individuum, getaucht in das Element der beiden erſten (der allgemeinen und beſondern Formen) zur Darſtellung bringt. Daß insbeſondere nun auch der Charakter im untergeordneten Sinne habitueller kleiner Leidenſchaft u. ſ. w. die Stelle findet, die ihm §. 685 Anm. in der Malerei eingeräumt hat, ergibt ſich aus der Natur des Sittenbilds. Dieſem ganzen Gebiete gibt die Sittenmalerei allerdings die concrete Färbung der geſchichtlichen Schönheit, trägt alſo den geſammten Stoff in das Gebiet hinein, das jener Abſchnitt unter C, b. entfaltet, aber, wie geſagt, nur ſo, daß das mit ausdrücklichen Datum bezeichnete Dieſe vom Geſchichtlichen wegbleibt. Die ſelbſtändige Eintheilung dieſer ſo beſchaffe- nen Sphäre als eines Zweigs der Malerei iſt nun aber erſt zu ſuchen. Da bildet denn der Stoff, wie er ſich auf die anthropologiſchen Unter- ſchiede: Geſchlechter, Lebensalter u. ſ. w., dann auf die Unterſchiede der Völker gründet, ebenſo wenig eine einſchneidende Theilung, als der Unterſchied der Zonen, Länder in der Landſchaft. Merkwürdig bezeichnend aber iſt es für die moderne Zeit, wie die Kreiſe wachſen: italieniſches Geſindel, Soldaten, dann holländiſche Bauern, Bürger und Vornehme waren bei der Entſtehung des Zweigs faſt der einzige Stoff; der natur- wiſſenſchaftliche, entdeckende, Fernenöffnende, koſmopolitiſche, jede Form des Menſchlichen in ſein tiefes und weites Intereſſe ziehende Geiſt der Zeit hat nun aber in raſchem Fortſchritt alle Länder Europa’s, Aſien, Afrika, die maleriſchen Stoffe Amerika’s erſchloſſen und ſammelt in immer wei- terem Wandertriebe, wie Herder die Stimmen der Völker, den maleriſchen Honig aus der fernſten Blume. Dabei iſt es ein Hauptzug, daß das
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liche Vertiefung in das Umgebende, eine umſtändliche Auffaſſung nach dieſer
Seite mit ſich.
1. Daß das Sittenbild in ſeinem wahren und ganzen Weſen nur
da gegeben iſt, wo es ſeinen Stoff im genannten Sinn außergeſchichtlich
und zugleich nicht übermenſchlich behandelt, dieß bedarf keines Beweiſes.
Die andern Sphären bringen ein die reinen Eintheilungs-Linien durch-
kreuzendes, logiſch ſchwieriges Element herein. Ueberſehen wir nun das
Gebiet des reinen Sittenbildes, ſo liegt vor uns der ganze Stoff, der
im erſten Abſchnitte des zweiten Theils unſeres Syſtems unter C, a:
„die menſchliche Schönheit überhaupt“ aufgeführt iſt: die allgemeinen For-
men (die Geſtalt, Zuſtände und Altersſtufen, die Geſchlechter, die Liebe,
die Ehe, die Familie). Die beſondern Formen (die Nacen und Völker,
die Culturformen, das Staatsleben), die individuellen Formen (die natür-
liche, die ſittliche Beſtimmtheit des Individuums, der Charakter, Phyſiog-
nomik, Pathognomik). Die Kunſt nun miſcht die verſchiedenen Theile dieſes
Feldes ſo, daß ſie den letzten, nämlich das phyſiognomiſch und pathogno-
miſch belauſchte Individuum, getaucht in das Element der beiden erſten
(der allgemeinen und beſondern Formen) zur Darſtellung bringt. Daß
insbeſondere nun auch der Charakter im untergeordneten Sinne habitueller
kleiner Leidenſchaft u. ſ. w. die Stelle findet, die ihm §. 685 Anm. in
der Malerei eingeräumt hat, ergibt ſich aus der Natur des Sittenbilds.
Dieſem ganzen Gebiete gibt die Sittenmalerei allerdings die concrete
Färbung der geſchichtlichen Schönheit, trägt alſo den geſammten Stoff in
das Gebiet hinein, das jener Abſchnitt unter C, b. entfaltet, aber, wie
geſagt, nur ſo, daß das mit ausdrücklichen Datum bezeichnete Dieſe vom
Geſchichtlichen wegbleibt. Die ſelbſtändige Eintheilung dieſer ſo beſchaffe-
nen Sphäre als eines Zweigs der Malerei iſt nun aber erſt zu ſuchen.
Da bildet denn der Stoff, wie er ſich auf die anthropologiſchen Unter-
ſchiede: Geſchlechter, Lebensalter u. ſ. w., dann auf die Unterſchiede
der Völker gründet, ebenſo wenig eine einſchneidende Theilung, als der
Unterſchied der Zonen, Länder in der Landſchaft. Merkwürdig bezeichnend
aber iſt es für die moderne Zeit, wie die Kreiſe wachſen: italieniſches
Geſindel, Soldaten, dann holländiſche Bauern, Bürger und Vornehme
waren bei der Entſtehung des Zweigs faſt der einzige Stoff; der natur-
wiſſenſchaftliche, entdeckende, Fernenöffnende, koſmopolitiſche, jede Form des
Menſchlichen in ſein tiefes und weites Intereſſe ziehende Geiſt der Zeit
hat nun aber in raſchem Fortſchritt alle Länder Europa’s, Aſien, Afrika,
die maleriſchen Stoffe Amerika’s erſchloſſen und ſammelt in immer wei-
terem Wandertriebe, wie Herder die Stimmen der Völker, den maleriſchen
Honig aus der fernſten Blume. Dabei iſt es ein Hauptzug, daß das
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 667. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/175>, abgerufen am 16.02.2025.
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