Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
Ganzes das ist, wovon es sich handelt; da ich nicht Stein, nicht Erz mehr
Ganzes das iſt, wovon es ſich handelt; da ich nicht Stein, nicht Erz mehr <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0018" n="510"/> Ganzes das iſt, wovon es ſich handelt; da ich nicht Stein, nicht Erz mehr<lb/> habe, als deſſen Grenze ich die Linie, dieß nur ideale Formweſen, ent-<lb/> ſtehen laſſen kann, ſo muß ich dieſe mit dem Griffel zeichnen. Die Linie<lb/> iſt nun für ſich da, ſichtbar für ſich allein, ſie will aber dem Anſchauen-<lb/> den nur ſagen, er müſſe ſich einen Körper vorſtellen, der auf allen den<lb/> Puncten, welche der Strich angibt, aufhört. Durch dieſe Bedeutung des<lb/> bloßen Umriſſes iſt es alſo Ernſt geworden mit dem reinen Schein,<lb/> es iſt förmlich <hi rendition="#g">geſtanden</hi>, was die Plaſtik eigentlich wollte, man kann<lb/> keinen Augenblick mehr meinen, es gelte äſthetiſch die Maſſe, nicht viel-<lb/> mehr nur ihre Grenze als reinſter Ausdruck der Kräfte, die, in ihr wirk-<lb/> ſam, den Körper auf allen Seiten eben bis zu dieſer Grenze gebildet ha-<lb/> ben, denn dieſen Ausdruck erzeuge ich am reinſten dann, wenn ich das Bild<lb/> dieſer Kräfte von aller wirklichen Maſſe befreie und nur einen Anhalt<lb/> gebe, damit der Zuſchauer ſie ſich vorſtelle. Der Umriß iſt daher gerade<lb/> der idealſte Theil der Malerei, eben nämlich, weil er die Vorſtellung der<lb/> Geſtalt, deren Grenze er bezeichnet, ganz in das Innere, die Phantaſie<lb/> des Anſchauenden wirft: nur noch ein Schritt weiter, die Nachhülfe des<lb/> Umriſſes, den der Künſtler an eine Fläche heftet, weggelaſſen, ſtatt deſſen<lb/> blos das Wort als Anhalt gegeben: und der Künſtler malt unmittelbar<lb/> in den Geiſt des — nicht mehr Anſchauenden, ſondern Hörenden, — wir<lb/> ſind in der Poeſie. Wir werden bei der beſtimmteren Erörterung der ein-<lb/> zelnen Momente darauf zurückkommen. Allein die Malerei beſinnt ſich,<lb/> daß ſie eine ſelbſtändige, ganze Form der bildenden Kunſt ſein will, nicht<lb/> ein ſchattenhafter Anſatz, der raſch in eine andere Kunſtweiſe einlenkt.<lb/><hi rendition="#g">Ihrem</hi> Wege gegenüber iſt die Erſcheinung des Umriſſes als eines für<lb/> ſich Sichtbaren noch eine Unvollkommenheit, ein Schritt zum reinen Schein,<lb/> aber zunächſt noch falſcher Schein, der Schein, als wäre das ſchöne Nichts<lb/> der reinen Grenze ein Etwas. Wenn die Malerei in ihrer Kindheit bei<lb/> dicken Umriſſen beharrt, die ſie nur dürftig mit Farbe ausfüllt, ſo iſt dieß<lb/> halb grobſinnlich, halb übergeiſtig: jenes, weil das rein Negative der Ge-<lb/> ſtaltumſchwebenden Grenze als ein ſo grell Augenfälliges ſich behauptet;<lb/> dieſes, weil das Grelle des Umriſſes und das Dürftige ſeiner Ausfüllung<lb/> doch um ſo ausdrücklicher nur eine Nothhülfe iſt für eine ſehr friſche<lb/> Phantaſie, welche äußerſt raſch, verglichen mit der ganzen Aufgabe der<lb/> Malerei <hi rendition="#g">allzuraſch</hi> vom Sichtbaren befriedigt in der Weiſe der Poeſie<lb/> ſich innerlich das vom Künſtler beabſichtigte Bild erzeugt. Die Malerei<lb/> will ja das Sichtbare im vollen Umfange ſeiner Erſcheinung ſelbſt nach-<lb/> bilden. Auf ihrem wahren und eigenen Weg muß ſie alſo den falſchen<lb/> Schein, als wäre der Umriß Etwas, wieder aufheben, ihn zu einer Vor-<lb/> arbeit herabſetzen, die verſchwindet, wenn ſie das Ihrige geleiſtet hat. Zu-<lb/> nächſt gilt es, dem Lichte den Act ſeiner Aufzeigung der wirklichen Form,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [510/0018]
Ganzes das iſt, wovon es ſich handelt; da ich nicht Stein, nicht Erz mehr
habe, als deſſen Grenze ich die Linie, dieß nur ideale Formweſen, ent-
ſtehen laſſen kann, ſo muß ich dieſe mit dem Griffel zeichnen. Die Linie
iſt nun für ſich da, ſichtbar für ſich allein, ſie will aber dem Anſchauen-
den nur ſagen, er müſſe ſich einen Körper vorſtellen, der auf allen den
Puncten, welche der Strich angibt, aufhört. Durch dieſe Bedeutung des
bloßen Umriſſes iſt es alſo Ernſt geworden mit dem reinen Schein,
es iſt förmlich geſtanden, was die Plaſtik eigentlich wollte, man kann
keinen Augenblick mehr meinen, es gelte äſthetiſch die Maſſe, nicht viel-
mehr nur ihre Grenze als reinſter Ausdruck der Kräfte, die, in ihr wirk-
ſam, den Körper auf allen Seiten eben bis zu dieſer Grenze gebildet ha-
ben, denn dieſen Ausdruck erzeuge ich am reinſten dann, wenn ich das Bild
dieſer Kräfte von aller wirklichen Maſſe befreie und nur einen Anhalt
gebe, damit der Zuſchauer ſie ſich vorſtelle. Der Umriß iſt daher gerade
der idealſte Theil der Malerei, eben nämlich, weil er die Vorſtellung der
Geſtalt, deren Grenze er bezeichnet, ganz in das Innere, die Phantaſie
des Anſchauenden wirft: nur noch ein Schritt weiter, die Nachhülfe des
Umriſſes, den der Künſtler an eine Fläche heftet, weggelaſſen, ſtatt deſſen
blos das Wort als Anhalt gegeben: und der Künſtler malt unmittelbar
in den Geiſt des — nicht mehr Anſchauenden, ſondern Hörenden, — wir
ſind in der Poeſie. Wir werden bei der beſtimmteren Erörterung der ein-
zelnen Momente darauf zurückkommen. Allein die Malerei beſinnt ſich,
daß ſie eine ſelbſtändige, ganze Form der bildenden Kunſt ſein will, nicht
ein ſchattenhafter Anſatz, der raſch in eine andere Kunſtweiſe einlenkt.
Ihrem Wege gegenüber iſt die Erſcheinung des Umriſſes als eines für
ſich Sichtbaren noch eine Unvollkommenheit, ein Schritt zum reinen Schein,
aber zunächſt noch falſcher Schein, der Schein, als wäre das ſchöne Nichts
der reinen Grenze ein Etwas. Wenn die Malerei in ihrer Kindheit bei
dicken Umriſſen beharrt, die ſie nur dürftig mit Farbe ausfüllt, ſo iſt dieß
halb grobſinnlich, halb übergeiſtig: jenes, weil das rein Negative der Ge-
ſtaltumſchwebenden Grenze als ein ſo grell Augenfälliges ſich behauptet;
dieſes, weil das Grelle des Umriſſes und das Dürftige ſeiner Ausfüllung
doch um ſo ausdrücklicher nur eine Nothhülfe iſt für eine ſehr friſche
Phantaſie, welche äußerſt raſch, verglichen mit der ganzen Aufgabe der
Malerei allzuraſch vom Sichtbaren befriedigt in der Weiſe der Poeſie
ſich innerlich das vom Künſtler beabſichtigte Bild erzeugt. Die Malerei
will ja das Sichtbare im vollen Umfange ſeiner Erſcheinung ſelbſt nach-
bilden. Auf ihrem wahren und eigenen Weg muß ſie alſo den falſchen
Schein, als wäre der Umriß Etwas, wieder aufheben, ihn zu einer Vor-
arbeit herabſetzen, die verſchwindet, wenn ſie das Ihrige geleiſtet hat. Zu-
nächſt gilt es, dem Lichte den Act ſeiner Aufzeigung der wirklichen Form,
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