Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.§. 706. Endlich tritt in diesem Gebiete der Gegensatz der Style mit entscheiden- Die Venetianer und in der neueren Zeit Leop. Robert sind die §. 706. Endlich tritt in dieſem Gebiete der Gegenſatz der Style mit entſcheiden- Die Venetianer und in der neueren Zeit Leop. Robert ſind die <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0180" n="672"/> <div n="4"> <head>§. 706.</head><lb/> <p> <hi rendition="#fr">Endlich tritt in dieſem Gebiete der Gegenſatz der <hi rendition="#g">Style</hi> mit entſcheiden-<lb/> der Bedeutung auf. Die plaſtiſche Richtung hält ſich an Culturformen, die<lb/> entweder den Charakter einfacher Urſprünglichkeit tragen oder einen edeln und<lb/> ſchwungvollen Luxus entfalten; ſie ſättigt das Sittenbild mit hiſtoriſchem Geiſte.<lb/> Die mythiſchen Stoffe dienen vorzüglich ihr als Motiv für ihre erhöhte<lb/> Auffaſſung. Der Unterſchied der Style ſchafft ſich auch verſchiedene <hi rendition="#g">Technik</hi>.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Die Venetianer und in der neueren Zeit Leop. Robert ſind die<lb/> Begründer des ſogen. höheren Genre, das ſeinen Stoff in plaſtiſchem<lb/> Geiſte ſtyliſirt. Bei jenen fällt der große Wurf dadurch in’s Unklare,<lb/> daß der ganze Zweig noch nicht zur Selbſtändigkeit gelangen kann, daß<lb/> daher ihr Bedürfniß hoher Styliſirung ſich an mythiſche, namentlich chriſt-<lb/> lich mythiſche Stoffe anklammert; Leopold Robert darf daher der wahre<lb/> Schöpfer dieſer Gattung genannt werden und er hat auch den entſprechend-<lb/> ſten Stoff ergriffen, die an ſich ſchon ſtylvolle Natur des ächten italieniſchen<lb/> Landvolks, ſeine Würde in der Naturnachläßigkeit, die racemäßig ſchöne<lb/> Form und edle Bewegung, woraus ein Gefühl und Nachklang der al-<lb/> ten Größe Roms ſpricht; dieſe Bauern, Fiſcher, Winzer gehaben ſich<lb/> ſo natürlich heldenmäßig, daß in jedem ein Cincinnatus zu ſchlummern<lb/> ſcheint, den man nur vom Pfluge zur Herrſchaft und Heeresleitung holen<lb/> dürfte. Es iſt Sittenbild mit hiſtoriſchem <hi rendition="#g">Geiſte</hi> geſchwängert. Dieſe<lb/> Behandlung bleibt jedoch ganz in den Grenzen des Kunſtzweigs: die<lb/> Geſtalten ſind nicht dem Stoffe nach geſchichtlich, ihr Thun ein anſpruchloſes,<lb/> gewöhnliches Tagewerk, freilich ehrwürdig an ſich wie alle Urbeſchäftigung<lb/> des Menſchen, ihre Freude ein Jubel, der gemeſſen und würdig bleibt<lb/> und mit geringer Zurüſtung glücklich iſt (die tiefe Poeſie der ächten Kinder-<lb/> freude und der „von geringem Trank begeiſterten“ Cikade), ihr Daſein<lb/> namenlos, das heldenhaft Geſchichtliche bleibt bloße Fähigkeit, Möglichkeit,<lb/> „Grundlage“ (§. 702 Anm.). Schwerer iſt es, die formloſere Menſchen-<lb/> race ſo zu behandeln, doch iſt unter der Hand des Rubens ſelbſt eine<lb/> niederländiſche Bauernkirchweih in das ſtylvoll Große gewachſen, und es<lb/> ſchlummert auch im norddeutſchen Bauern und Seemann, im Flözer des<lb/> Schwarzwalds ein Nibelungen-Recke, der nur auf den rechten Pinſel<lb/> wartet. Sollen die höheren Stände in dieſer plaſtiſchen Großheit aufgefaßt<lb/> werden, ſo iſt eine Bildung vorausgeſetzt, worin die Natur veredelt, nicht ab-<lb/> gerieben wird, und ein Luxus, deſſen Formen großartig, ſchwungvoll ſind:<lb/> die Venetianer, ein Paolo Veroneſe vor Allen, bleiben hierin Vorbild. —<lb/> Dieſer Styl wird ſich nun aber in ſeiner plaſtiſchen Auffaſſung beſonders<lb/> gern auch auf die Schönheit der Geſtalt an ſich, natürlich nicht ohne<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [672/0180]
§. 706.
Endlich tritt in dieſem Gebiete der Gegenſatz der Style mit entſcheiden-
der Bedeutung auf. Die plaſtiſche Richtung hält ſich an Culturformen, die
entweder den Charakter einfacher Urſprünglichkeit tragen oder einen edeln und
ſchwungvollen Luxus entfalten; ſie ſättigt das Sittenbild mit hiſtoriſchem Geiſte.
Die mythiſchen Stoffe dienen vorzüglich ihr als Motiv für ihre erhöhte
Auffaſſung. Der Unterſchied der Style ſchafft ſich auch verſchiedene Technik.
Die Venetianer und in der neueren Zeit Leop. Robert ſind die
Begründer des ſogen. höheren Genre, das ſeinen Stoff in plaſtiſchem
Geiſte ſtyliſirt. Bei jenen fällt der große Wurf dadurch in’s Unklare,
daß der ganze Zweig noch nicht zur Selbſtändigkeit gelangen kann, daß
daher ihr Bedürfniß hoher Styliſirung ſich an mythiſche, namentlich chriſt-
lich mythiſche Stoffe anklammert; Leopold Robert darf daher der wahre
Schöpfer dieſer Gattung genannt werden und er hat auch den entſprechend-
ſten Stoff ergriffen, die an ſich ſchon ſtylvolle Natur des ächten italieniſchen
Landvolks, ſeine Würde in der Naturnachläßigkeit, die racemäßig ſchöne
Form und edle Bewegung, woraus ein Gefühl und Nachklang der al-
ten Größe Roms ſpricht; dieſe Bauern, Fiſcher, Winzer gehaben ſich
ſo natürlich heldenmäßig, daß in jedem ein Cincinnatus zu ſchlummern
ſcheint, den man nur vom Pfluge zur Herrſchaft und Heeresleitung holen
dürfte. Es iſt Sittenbild mit hiſtoriſchem Geiſte geſchwängert. Dieſe
Behandlung bleibt jedoch ganz in den Grenzen des Kunſtzweigs: die
Geſtalten ſind nicht dem Stoffe nach geſchichtlich, ihr Thun ein anſpruchloſes,
gewöhnliches Tagewerk, freilich ehrwürdig an ſich wie alle Urbeſchäftigung
des Menſchen, ihre Freude ein Jubel, der gemeſſen und würdig bleibt
und mit geringer Zurüſtung glücklich iſt (die tiefe Poeſie der ächten Kinder-
freude und der „von geringem Trank begeiſterten“ Cikade), ihr Daſein
namenlos, das heldenhaft Geſchichtliche bleibt bloße Fähigkeit, Möglichkeit,
„Grundlage“ (§. 702 Anm.). Schwerer iſt es, die formloſere Menſchen-
race ſo zu behandeln, doch iſt unter der Hand des Rubens ſelbſt eine
niederländiſche Bauernkirchweih in das ſtylvoll Große gewachſen, und es
ſchlummert auch im norddeutſchen Bauern und Seemann, im Flözer des
Schwarzwalds ein Nibelungen-Recke, der nur auf den rechten Pinſel
wartet. Sollen die höheren Stände in dieſer plaſtiſchen Großheit aufgefaßt
werden, ſo iſt eine Bildung vorausgeſetzt, worin die Natur veredelt, nicht ab-
gerieben wird, und ein Luxus, deſſen Formen großartig, ſchwungvoll ſind:
die Venetianer, ein Paolo Veroneſe vor Allen, bleiben hierin Vorbild. —
Dieſer Styl wird ſich nun aber in ſeiner plaſtiſchen Auffaſſung beſonders
gern auch auf die Schönheit der Geſtalt an ſich, natürlich nicht ohne
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