des zweiten Theils in großen Strichen gezeichneten Schauplatz mit dem Maaßstab in der Hand, den die Lehre vom Wesen der Malerei gegeben hat, so erhellt, daß die Stoffe der alten Geschichte weniger malerisch sind, als die der mittleren und neueren Zeit bis zum Eintritte der ganz un- günstigen Culturformen. Wir mußten dieß auch schon mehrmals so be- stimmt aussprechen, daß gerade an dieser Stelle die Erörterung reif ist, um den Satz wieder zu beschränken. Der Orient ist despotisch, stabil, aber er hat seine Kämpfe, seine Revolutionen und Kriege, seine tragischen Einzelschicksale, dazu sind seine Culturformen mehr malerisch, als die clas- sischen. Schon diese Fundgrube ist lange nicht erschöpft, ein Herodot, die hebräische National-Literatur und andere Quellen sind noch unendlich reich an ungehobenen Schätzen. Da wir die Kenntniß der alten Culturformen des Orients jetzt aus reichlichen Anschauungsmitteln schöpfen und auch in den gegenwärtigen und zugänglichen noch Vieles von jenen sich erhal- ten hat, so ist die Thüre zu diesem glänzenden Stoffgebiete weit aufgethan. Aber auch die griechische und römische Geschichte läßt sich trotz dem pla- stischen Charakter der Formen recht wohl im bewegten malerischen Geist auffassen. Nachdem die David'sche Schule in akademisch correcter, theatra- lisch pathetischer, die deutschen Reformatoren, ein Karstens und Wächter, in schlicht großem, aber zu plastischem und allegorisirendem Styl diese Stoffe ergriffen haben, warf sich der Zug des ächt malerischen Sinns mit Recht auf die mittelalterlichen, dann die neueren Stoffe, aber gesichert durch die Frucht dieser Richtung dürfte die Kunst nunmehr einsehen, daß sie in der Oppositionsstellung jener classischen Welt auch Unrecht gethan und sich eine Fülle der großartigsten Motive verschüttet hat. Wächter mit seinem schlafenden Sokrates, seinem Julius Cäsar auf den Ruinen Troja's, Hetsch mit seinem Papirius Cursor und Marius auf den Trüm- mern von Karthago hatten doch ganz würdig, dieser weniger groß, aber in malerisch wärmerer Behandlung begonnen; die Stoffnoth, in der so mancher tüchtige Künstler seufzt, ist lächerlich neben dieser frischen, grünen Weide ringsherum. Wir haben im genannten Abschnitt reiche Finger- zeige zu gewaltigen Stoffen gegeben. Derselbe erspart uns auch eine weitere Ausführung über die Epochen der Geschichte, die an sich mehr malerisch sind. Das sechzehnte Jahrhundert ist besonders günstig, weil es dem Geiste nach der Aufgang der modernen Zeit ist, seine Kämpfe den unsrigen so tief verwandt und seine Culturformen so phantasiereich sind. Der Inhalt jedes Kunstwerks soll die Herzen und Geister im Mit- telpuncte dessen ergreifen und erschüttern, was sie allgemein menschlich und zugleich mit besonderer Gewalt in der Gegenwart bewegt. Das Schöne aber, das Gesetz der reinen Form, der Tendenzlosigkeit, der unbefangenen Bewegung des Künstlergeistes fordert vergangenen Stoff.
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 45
des zweiten Theils in großen Strichen gezeichneten Schauplatz mit dem Maaßſtab in der Hand, den die Lehre vom Weſen der Malerei gegeben hat, ſo erhellt, daß die Stoffe der alten Geſchichte weniger maleriſch ſind, als die der mittleren und neueren Zeit bis zum Eintritte der ganz un- günſtigen Culturformen. Wir mußten dieß auch ſchon mehrmals ſo be- ſtimmt ausſprechen, daß gerade an dieſer Stelle die Erörterung reif iſt, um den Satz wieder zu beſchränken. Der Orient iſt deſpotiſch, ſtabil, aber er hat ſeine Kämpfe, ſeine Revolutionen und Kriege, ſeine tragiſchen Einzelſchickſale, dazu ſind ſeine Culturformen mehr maleriſch, als die claſ- ſiſchen. Schon dieſe Fundgrube iſt lange nicht erſchöpft, ein Herodot, die hebräiſche National-Literatur und andere Quellen ſind noch unendlich reich an ungehobenen Schätzen. Da wir die Kenntniß der alten Culturformen des Orients jetzt aus reichlichen Anſchauungsmitteln ſchöpfen und auch in den gegenwärtigen und zugänglichen noch Vieles von jenen ſich erhal- ten hat, ſo iſt die Thüre zu dieſem glänzenden Stoffgebiete weit aufgethan. Aber auch die griechiſche und römiſche Geſchichte läßt ſich trotz dem pla- ſtiſchen Charakter der Formen recht wohl im bewegten maleriſchen Geiſt auffaſſen. Nachdem die David’ſche Schule in akademiſch correcter, theatra- liſch pathetiſcher, die deutſchen Reformatoren, ein Karſtens und Wächter, in ſchlicht großem, aber zu plaſtiſchem und allegoriſirendem Styl dieſe Stoffe ergriffen haben, warf ſich der Zug des ächt maleriſchen Sinns mit Recht auf die mittelalterlichen, dann die neueren Stoffe, aber geſichert durch die Frucht dieſer Richtung dürfte die Kunſt nunmehr einſehen, daß ſie in der Oppoſitionsſtellung jener claſſiſchen Welt auch Unrecht gethan und ſich eine Fülle der großartigſten Motive verſchüttet hat. Wächter mit ſeinem ſchlafenden Sokrates, ſeinem Julius Cäſar auf den Ruinen Troja’s, Hetſch mit ſeinem Papirius Curſor und Marius auf den Trüm- mern von Karthago hatten doch ganz würdig, dieſer weniger groß, aber in maleriſch wärmerer Behandlung begonnen; die Stoffnoth, in der ſo mancher tüchtige Künſtler ſeufzt, iſt lächerlich neben dieſer friſchen, grünen Weide ringsherum. Wir haben im genannten Abſchnitt reiche Finger- zeige zu gewaltigen Stoffen gegeben. Derſelbe erſpart uns auch eine weitere Ausführung über die Epochen der Geſchichte, die an ſich mehr maleriſch ſind. Das ſechzehnte Jahrhundert iſt beſonders günſtig, weil es dem Geiſte nach der Aufgang der modernen Zeit iſt, ſeine Kämpfe den unſrigen ſo tief verwandt und ſeine Culturformen ſo phantaſiereich ſind. Der Inhalt jedes Kunſtwerks ſoll die Herzen und Geiſter im Mit- telpuncte deſſen ergreifen und erſchüttern, was ſie allgemein menſchlich und zugleich mit beſonderer Gewalt in der Gegenwart bewegt. Das Schöne aber, das Geſetz der reinen Form, der Tendenzloſigkeit, der unbefangenen Bewegung des Künſtlergeiſtes fordert vergangenen Stoff.
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 45
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des zweiten Theils in großen Strichen gezeichneten Schauplatz mit dem
Maaßſtab in der Hand, den die Lehre vom Weſen der Malerei gegeben
hat, ſo erhellt, daß die Stoffe der alten Geſchichte weniger maleriſch ſind,
als die der mittleren und neueren Zeit bis zum Eintritte der ganz un-
günſtigen Culturformen. Wir mußten dieß auch ſchon mehrmals ſo be-
ſtimmt ausſprechen, daß gerade an dieſer Stelle die Erörterung reif iſt,
um den Satz wieder zu beſchränken. Der Orient iſt deſpotiſch, ſtabil,
aber er hat ſeine Kämpfe, ſeine Revolutionen und Kriege, ſeine tragiſchen
Einzelſchickſale, dazu ſind ſeine Culturformen mehr maleriſch, als die claſ-
ſiſchen. Schon dieſe Fundgrube iſt lange nicht erſchöpft, ein Herodot, die
hebräiſche National-Literatur und andere Quellen ſind noch unendlich reich
an ungehobenen Schätzen. Da wir die Kenntniß der alten Culturformen
des Orients jetzt aus reichlichen Anſchauungsmitteln ſchöpfen und auch
in den gegenwärtigen und zugänglichen noch Vieles von jenen ſich erhal-
ten hat, ſo iſt die Thüre zu dieſem glänzenden Stoffgebiete weit aufgethan.
Aber auch die griechiſche und römiſche Geſchichte läßt ſich trotz dem pla-
ſtiſchen Charakter der Formen recht wohl im bewegten maleriſchen Geiſt
auffaſſen. Nachdem die David’ſche Schule in akademiſch correcter, theatra-
liſch pathetiſcher, die deutſchen Reformatoren, ein Karſtens und Wächter,
in ſchlicht großem, aber zu plaſtiſchem und allegoriſirendem Styl dieſe
Stoffe ergriffen haben, warf ſich der Zug des ächt maleriſchen Sinns mit
Recht auf die mittelalterlichen, dann die neueren Stoffe, aber geſichert
durch die Frucht dieſer Richtung dürfte die Kunſt nunmehr einſehen, daß
ſie in der Oppoſitionsſtellung jener claſſiſchen Welt auch Unrecht gethan
und ſich eine Fülle der großartigſten Motive verſchüttet hat. Wächter
mit ſeinem ſchlafenden Sokrates, ſeinem Julius Cäſar auf den Ruinen
Troja’s, Hetſch mit ſeinem Papirius Curſor und Marius auf den Trüm-
mern von Karthago hatten doch ganz würdig, dieſer weniger groß, aber
in maleriſch wärmerer Behandlung begonnen; die Stoffnoth, in der ſo
mancher tüchtige Künſtler ſeufzt, iſt lächerlich neben dieſer friſchen, grünen
Weide ringsherum. Wir haben im genannten Abſchnitt reiche Finger-
zeige zu gewaltigen Stoffen gegeben. Derſelbe erſpart uns auch eine
weitere Ausführung über die Epochen der Geſchichte, die an ſich mehr
maleriſch ſind. Das ſechzehnte Jahrhundert iſt beſonders günſtig, weil
es dem Geiſte nach der Aufgang der modernen Zeit iſt, ſeine Kämpfe
den unſrigen ſo tief verwandt und ſeine Culturformen ſo phantaſiereich
ſind. Der Inhalt jedes Kunſtwerks ſoll die Herzen und Geiſter im Mit-
telpuncte deſſen ergreifen und erſchüttern, was ſie allgemein menſchlich
und zugleich mit beſonderer Gewalt in der Gegenwart bewegt. Das
Schöne aber, das Geſetz der reinen Form, der Tendenzloſigkeit, der
unbefangenen Bewegung des Künſtlergeiſtes fordert vergangenen Stoff.
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 681. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/189>, abgerufen am 16.02.2025.
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