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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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der Reiz des empfundenen Mangels, das Bewußtsein der geforderten
Versöhnung und der Widerwille gegen die Opfer, die sie fordert, zu einem
großen, vollen, langathmigen Kampfe treibt. In §. 676 ist dieß schon
ausgesprochen und hiemit der innere Hebel, die Seele der Geschichte unserer
Kunst aufgezeigt. Noch hat bis jetzt die Literatur derselben diesen rothen
Faden nicht hinreichend in das Licht gestellt; treffende Gedanken und
Ansätze hiezu enthält die sinnige Schrift von A. Teichlein: Louis
Gallait und die Malerei in Deutschland u. s. w. Das Tiefe und Schwierige
des Verhältnisses ist aber, wie sich nun zeigen wird, dieß, daß es sich
nicht um abstracte Gegensätze handelt: der plastische Styl wiederholt den
Kampf mit dem ächt malerischen, dieser den Kampf mit dem plastischen
innerhalb seines Bodens, und auch dieß nicht einfach, sondern im Kreise
sind wieder Kreise, in einer Beziehung ist das mehr Malerische wieder
plastischer, das mehr Plastische wieder malerischer, als dort das Plastische,
hier das Malerische, wie es eine andere Schule, Nationalität, ein anderer
Meister vertritt. Hiemit ist schon gesagt, daß die Geschichte der Malerei
ungleich reicher, in vielfacher Verästung fruchtbarer und dauernder sein
muß, als die der Bildnerkunst. Das liegt nun zugleich wesentlich im
engeren Anschluß an die unerschöpflich fließenden Schätze des Lebens, denn
dem naturtreuen und individualisirenden Style, wie er nun zum Rechte
gekommen ist, öffnet sich immer neu die unendliche Fundgrube der Wirk-
lichkeit, weil er nicht wählerisch eine zweite, in reiner Schönheit der
Einzelgestalt glänzende Welt in Anspruch nimmt. Durch diese Bemerkung
sind wir zu der andern Seite herübergetreten: vom Style zum Stoff. Es
ist die ursprüngliche Stoffwelt, an welche die Malerei, wie wir mehrfach
gesehen haben, gewiesen ist, in deren Bedingungen sie selbst da, wo sie
noch in der zweiten, mythischen verweilt, ihren Gegenstand hineinzieht,
aus welcher sie denn auch, wie Antäus aus der Mutter Erde, die neue
Kraft saugt, wenn ihr mythischer Lebenslauf im Welken ist. Die Geschichte
des Styls steht in der tiefsten Beziehung zur Geschichte der Stoffwahl.
In der Geschichte der Sculptur kommt gleichzeitig mit dem mehr natu-
ralisirenden und individualisirenden Style immer mehr das Sittenbild und
der rein geschichtliche Stoff in Aufnahme und beides ist hier ein Zeichen,
nicht eben des Todes, aber eines Fortlebens, das die Blüthe überlebt
In der Geschichte der Malerei wird uns zweimal diese Erscheinung be-
gegnen: am Ausgange der antiken und am Ausgange der mittelalterlichen
Kunst, aber wenn dort die wachsende Liebe zu den Stoffen der realen
Welt ohne Mythus anzeigt, daß ein Ideal, das wesentlich Götterbildend
war, und mit ihm freilich auch die besondere Kunstform, die eigentlich
auf ein anderes Ideal führt, in der Auflösung begriffen ist, so ist sie hier
ebensosehr Anfang einer neuen, als Ende einer alten Blüthe. Dieß ist

der Reiz des empfundenen Mangels, das Bewußtſein der geforderten
Verſöhnung und der Widerwille gegen die Opfer, die ſie fordert, zu einem
großen, vollen, langathmigen Kampfe treibt. In §. 676 iſt dieß ſchon
ausgeſprochen und hiemit der innere Hebel, die Seele der Geſchichte unſerer
Kunſt aufgezeigt. Noch hat bis jetzt die Literatur derſelben dieſen rothen
Faden nicht hinreichend in das Licht geſtellt; treffende Gedanken und
Anſätze hiezu enthält die ſinnige Schrift von A. Teichlein: Louis
Gallait und die Malerei in Deutſchland u. ſ. w. Das Tiefe und Schwierige
des Verhältniſſes iſt aber, wie ſich nun zeigen wird, dieß, daß es ſich
nicht um abſtracte Gegenſätze handelt: der plaſtiſche Styl wiederholt den
Kampf mit dem ächt maleriſchen, dieſer den Kampf mit dem plaſtiſchen
innerhalb ſeines Bodens, und auch dieß nicht einfach, ſondern im Kreiſe
ſind wieder Kreiſe, in einer Beziehung iſt das mehr Maleriſche wieder
plaſtiſcher, das mehr Plaſtiſche wieder maleriſcher, als dort das Plaſtiſche,
hier das Maleriſche, wie es eine andere Schule, Nationalität, ein anderer
Meiſter vertritt. Hiemit iſt ſchon geſagt, daß die Geſchichte der Malerei
ungleich reicher, in vielfacher Veräſtung fruchtbarer und dauernder ſein
muß, als die der Bildnerkunſt. Das liegt nun zugleich weſentlich im
engeren Anſchluß an die unerſchöpflich fließenden Schätze des Lebens, denn
dem naturtreuen und individualiſirenden Style, wie er nun zum Rechte
gekommen iſt, öffnet ſich immer neu die unendliche Fundgrube der Wirk-
lichkeit, weil er nicht wähleriſch eine zweite, in reiner Schönheit der
Einzelgeſtalt glänzende Welt in Anſpruch nimmt. Durch dieſe Bemerkung
ſind wir zu der andern Seite herübergetreten: vom Style zum Stoff. Es
iſt die urſprüngliche Stoffwelt, an welche die Malerei, wie wir mehrfach
geſehen haben, gewieſen iſt, in deren Bedingungen ſie ſelbſt da, wo ſie
noch in der zweiten, mythiſchen verweilt, ihren Gegenſtand hineinzieht,
aus welcher ſie denn auch, wie Antäus aus der Mutter Erde, die neue
Kraft ſaugt, wenn ihr mythiſcher Lebenslauf im Welken iſt. Die Geſchichte
des Styls ſteht in der tiefſten Beziehung zur Geſchichte der Stoffwahl.
In der Geſchichte der Sculptur kommt gleichzeitig mit dem mehr natu-
raliſirenden und individualiſirenden Style immer mehr das Sittenbild und
der rein geſchichtliche Stoff in Aufnahme und beides iſt hier ein Zeichen,
nicht eben des Todes, aber eines Fortlebens, das die Blüthe überlebt
In der Geſchichte der Malerei wird uns zweimal dieſe Erſcheinung be-
gegnen: am Ausgange der antiken und am Ausgange der mittelalterlichen
Kunſt, aber wenn dort die wachſende Liebe zu den Stoffen der realen
Welt ohne Mythus anzeigt, daß ein Ideal, das weſentlich Götterbildend
war, und mit ihm freilich auch die beſondere Kunſtform, die eigentlich
auf ein anderes Ideal führt, in der Auflöſung begriffen iſt, ſo iſt ſie hier
ebenſoſehr Anfang einer neuen, als Ende einer alten Blüthe. Dieß iſt

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[693/0201] der Reiz des empfundenen Mangels, das Bewußtſein der geforderten Verſöhnung und der Widerwille gegen die Opfer, die ſie fordert, zu einem großen, vollen, langathmigen Kampfe treibt. In §. 676 iſt dieß ſchon ausgeſprochen und hiemit der innere Hebel, die Seele der Geſchichte unſerer Kunſt aufgezeigt. Noch hat bis jetzt die Literatur derſelben dieſen rothen Faden nicht hinreichend in das Licht geſtellt; treffende Gedanken und Anſätze hiezu enthält die ſinnige Schrift von A. Teichlein: Louis Gallait und die Malerei in Deutſchland u. ſ. w. Das Tiefe und Schwierige des Verhältniſſes iſt aber, wie ſich nun zeigen wird, dieß, daß es ſich nicht um abſtracte Gegenſätze handelt: der plaſtiſche Styl wiederholt den Kampf mit dem ächt maleriſchen, dieſer den Kampf mit dem plaſtiſchen innerhalb ſeines Bodens, und auch dieß nicht einfach, ſondern im Kreiſe ſind wieder Kreiſe, in einer Beziehung iſt das mehr Maleriſche wieder plaſtiſcher, das mehr Plaſtiſche wieder maleriſcher, als dort das Plaſtiſche, hier das Maleriſche, wie es eine andere Schule, Nationalität, ein anderer Meiſter vertritt. Hiemit iſt ſchon geſagt, daß die Geſchichte der Malerei ungleich reicher, in vielfacher Veräſtung fruchtbarer und dauernder ſein muß, als die der Bildnerkunſt. Das liegt nun zugleich weſentlich im engeren Anſchluß an die unerſchöpflich fließenden Schätze des Lebens, denn dem naturtreuen und individualiſirenden Style, wie er nun zum Rechte gekommen iſt, öffnet ſich immer neu die unendliche Fundgrube der Wirk- lichkeit, weil er nicht wähleriſch eine zweite, in reiner Schönheit der Einzelgeſtalt glänzende Welt in Anſpruch nimmt. Durch dieſe Bemerkung ſind wir zu der andern Seite herübergetreten: vom Style zum Stoff. Es iſt die urſprüngliche Stoffwelt, an welche die Malerei, wie wir mehrfach geſehen haben, gewieſen iſt, in deren Bedingungen ſie ſelbſt da, wo ſie noch in der zweiten, mythiſchen verweilt, ihren Gegenſtand hineinzieht, aus welcher ſie denn auch, wie Antäus aus der Mutter Erde, die neue Kraft ſaugt, wenn ihr mythiſcher Lebenslauf im Welken iſt. Die Geſchichte des Styls ſteht in der tiefſten Beziehung zur Geſchichte der Stoffwahl. In der Geſchichte der Sculptur kommt gleichzeitig mit dem mehr natu- raliſirenden und individualiſirenden Style immer mehr das Sittenbild und der rein geſchichtliche Stoff in Aufnahme und beides iſt hier ein Zeichen, nicht eben des Todes, aber eines Fortlebens, das die Blüthe überlebt In der Geſchichte der Malerei wird uns zweimal dieſe Erſcheinung be- gegnen: am Ausgange der antiken und am Ausgange der mittelalterlichen Kunſt, aber wenn dort die wachſende Liebe zu den Stoffen der realen Welt ohne Mythus anzeigt, daß ein Ideal, das weſentlich Götterbildend war, und mit ihm freilich auch die beſondere Kunſtform, die eigentlich auf ein anderes Ideal führt, in der Auflöſung begriffen iſt, ſo iſt ſie hier ebenſoſehr Anfang einer neuen, als Ende einer alten Blüthe. Dieß iſt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 693. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/201>, abgerufen am 23.11.2024.