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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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nun, was wir schon zu §. 715 vorausgeschickt haben: was in einer
Malerei, deren Leben und Dauer in dem Kunst-Ideale, dem sie angehört,
ursprünglich und organisch begründet ist, als Anfang neuen Lebens er-
scheint, das ist hier das Ende. Die alte Kunst kann das volle Maaß des
mythenlosen Naturalismus und Individualismus nicht ertragen, das die
Malerei ihrem Geiste nach fordert; was diesem entspricht, widerspricht
dem Ganzen des Kunstlebens, worin hier die Malerei wie eine fremde
Pflanze mit schönen und doch nur halb durchgohrenen Früchten dasteht.

§. 717.

Die Kunst des antiken Ideals als des elassischen (vergl. §. 438)
hat aber auch in der Malerei die Bedeutung, eine bleibende Vorlage und Bil-
dungsquelle für das Formgefühl der neueren Völker zu sein. Daß sie diesen
zunächst im Zustande des Verfalls überliefert wurde, war jedoch günstig für
die Lösung der Aufgabe, einen neuen Geist in ihre Formen zu gießen.

Die antike Malerei steht der neueren, wie gezeigt, als eine Welt für
sich, getrennt durch die Kluft der Zeiten, entnommen dem Zusammenhang
ihrer Entwicklung gegenüber. Allein dieß ist nicht das einzige Verhältniß.
Alle antike Kunst hat die bleibende Bedeutung des reinen Musters. Einer
falschen Deutung dieses Begriffs ist in §. 438 durch die Bestimmung
vorgebeugt: es müsse zwar auch ein Ideal geben können, worin das
Verhältniß des Gehalts zur Gestalt ein ganz anderes sei, aber auch für
die Vollendung eines solchen werde die völlige Lösung der zwar einfachern
Aufgabe der griechischen Phantasie, worin es keinen Bruch des Geistes
mit der Natur gab, musterhaft bleiben. Aus verklärter Ferne leuchtet die
classische Kunst in dieser ewigen Bedeutung zu uns herüber. Für die
gesammte neuere Malerei ist allerdings genauer betrachtet nicht die
antike Malerei selbst, sondern die Plastik die Quelle, woraus sie in
immer erneuten Zügen das reinere Formgefühl trinken soll, denn von
den Schätzen der alten Malerei hat uns erst spät und nur annähernd
die Aufgrabung der vom Vesuv verschütteten Städte ein Bild gegeben.
Dieß macht jedoch für die mustergebende Einwirkung im Ganzen und
Großen keinen Unterschied, weil ja die alte Malerei selbst eine von pla-
stischem Geiste durchdrungene war. Es ist aber hievon eine unmittel-
bare Einwirkung zu unterscheiden, nämlich die auf das christliche Alterthum.
Diesem lag die alte Kunst auch speziell als Malerei noch in unmittelbarer
Anschauung vor; das classisch Vollkommene aber, was noch bestand, konnte
keinen mustergebenden Einfluß äußern, weil die wirkliche Kunst-Uebung der
damaligen Gegenwart, mitten unter diesen Schätzen erblindet für ihre

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nun, was wir ſchon zu §. 715 vorausgeſchickt haben: was in einer
Malerei, deren Leben und Dauer in dem Kunſt-Ideale, dem ſie angehört,
urſprünglich und organiſch begründet iſt, als Anfang neuen Lebens er-
ſcheint, das iſt hier das Ende. Die alte Kunſt kann das volle Maaß des
mythenloſen Naturalismus und Individualismus nicht ertragen, das die
Malerei ihrem Geiſte nach fordert; was dieſem entſpricht, widerſpricht
dem Ganzen des Kunſtlebens, worin hier die Malerei wie eine fremde
Pflanze mit ſchönen und doch nur halb durchgohrenen Früchten daſteht.

§. 717.

Die Kunſt des antiken Ideals als des elaſſiſchen (vergl. §. 438)
hat aber auch in der Malerei die Bedeutung, eine bleibende Vorlage und Bil-
dungsquelle für das Formgefühl der neueren Völker zu ſein. Daß ſie dieſen
zunächſt im Zuſtande des Verfalls überliefert wurde, war jedoch günſtig für
die Löſung der Aufgabe, einen neuen Geiſt in ihre Formen zu gießen.

Die antike Malerei ſteht der neueren, wie gezeigt, als eine Welt für
ſich, getrennt durch die Kluft der Zeiten, entnommen dem Zuſammenhang
ihrer Entwicklung gegenüber. Allein dieß iſt nicht das einzige Verhältniß.
Alle antike Kunſt hat die bleibende Bedeutung des reinen Muſters. Einer
falſchen Deutung dieſes Begriffs iſt in §. 438 durch die Beſtimmung
vorgebeugt: es müſſe zwar auch ein Ideal geben können, worin das
Verhältniß des Gehalts zur Geſtalt ein ganz anderes ſei, aber auch für
die Vollendung eines ſolchen werde die völlige Löſung der zwar einfachern
Aufgabe der griechiſchen Phantaſie, worin es keinen Bruch des Geiſtes
mit der Natur gab, muſterhaft bleiben. Aus verklärter Ferne leuchtet die
claſſiſche Kunſt in dieſer ewigen Bedeutung zu uns herüber. Für die
geſammte neuere Malerei iſt allerdings genauer betrachtet nicht die
antike Malerei ſelbſt, ſondern die Plaſtik die Quelle, woraus ſie in
immer erneuten Zügen das reinere Formgefühl trinken ſoll, denn von
den Schätzen der alten Malerei hat uns erſt ſpät und nur annähernd
die Aufgrabung der vom Veſuv verſchütteten Städte ein Bild gegeben.
Dieß macht jedoch für die muſtergebende Einwirkung im Ganzen und
Großen keinen Unterſchied, weil ja die alte Malerei ſelbſt eine von pla-
ſtiſchem Geiſte durchdrungene war. Es iſt aber hievon eine unmittel-
bare Einwirkung zu unterſcheiden, nämlich die auf das chriſtliche Alterthum.
Dieſem lag die alte Kunſt auch ſpeziell als Malerei noch in unmittelbarer
Anſchauung vor; das claſſiſch Vollkommene aber, was noch beſtand, konnte
keinen muſtergebenden Einfluß äußern, weil die wirkliche Kunſt-Uebung der
damaligen Gegenwart, mitten unter dieſen Schätzen erblindet für ihre

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 699. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/207>, abgerufen am 23.11.2024.