Trägerinn des großen Fortschritts, der sich vor Allem auf die Erforschung der Natur und die eröffnete Kenntniß der Antike gründet, erfaßt insbesondere die bisher noch mangelnde Individualität. Die Zweige, die sich rein auf die Kreise der ursprünglichen Stoffwelt gründen, streben am mythischen Stoffe zum Dasein. Die Fortbildung des ächt Malerischen im Sinne der lyrischen Ge- müthstiefe hat die umbrische Schule übernommen, die nun dem innigen Ge- fühls-Ausdruck auch die volle Wärme der Farbe gibt.
Das unendlich Anziehende, Liebenswürdige dieser Epoche, die das fünfzehnte Jahrhundert einnimmt und noch in das sechzehnte hineingeht, ist die Naivetät, der süße, rührende Rest von Dunkel und Unbewußtheit, der die aufschwellende Rose der Schönheit noch einhüllt, doppelt Herz- gewinnend, wenn man bedenkt, wie rasch die volle Reife überreif wird und die ganz entbundene Freiheit in Willkühr und falsche Bewußtheit übergeht. -- Florenz wird nun die große Akademie, insbesondere die große Zeichenschule für die Maler Italiens. Hier, in der Stätte des Wohlstandes und der Bildung, blühen alle Künste auf, hier die Wissen- schaft, die erneute Kenntniß des Alterthums, hier lehren Griechen schon vor der Eroberung Constantinopels, gründen die Mediceer die platonische Akademie; hier ist es, wo vor das urverwandte Auge des Italieners nun in wieder erkannter Schönheit die classische Kunst tritt, wo zuerst mit vollem Bewußtsein die antike Sculptur wieder gewürdigt, studirt wird, und daher in diesem Kunstgebiet ein Ghiberti, Donatello, Luca della Robbia erstehen kann. Die Antike ist eine zweite, geläuterte Natur, sie kann irreführen, kann zum Conventionellen verleiten, wenn die Kunst nicht zugleich auf die erste, die wirkliche Natur zurückgeht, ihr ewiges, ur- sprüngliches Vorbild. Das war schon in der ersten Epoche neben den innern Schätzen der Phantasie der große Hebel der Befreiung vom Typus. Die Florentiner wenden sich nun mit unbefangenem Wahrheitsdurste zu diesem Born, insbesondere kommt das Studium der Perspective, der Anatomie auf, und was nicht in ausdrücklich wissenschaftlicher Weise geschieht, das zeigt dem Maler die aufmerksamere Praxis, wie denn der große Begründer der neuen Epoche, Masaccio, durch Auffindung der wahren Gesetze der modellirenden Wirkung des Lichts, der Verkürzung, des Faltenwurfs, der Rundung, die selbständige Ablösung der Gestalt von ihrem Grunde und dadurch er zuerst den vollen malerischen Schein erzielt. Der innere Geist aber, den dieser geniale Meister in die Anwendung der neu entdeckten Kunstgesetze legt, ist ein Geist der gehaltenen Würde, des Charakterge- wichts aus Einem Gusse, der sich doch in der ganzen Leichtigkeit und Zu- fälligkeit der Natur bewegt; er schon hat jene würdigen Männergestalten, von denen bei der Darstellung des plastisch malerischen Styls die Rede
Trägerinn des großen Fortſchritts, der ſich vor Allem auf die Erforſchung der Natur und die eröffnete Kenntniß der Antike gründet, erfaßt insbeſondere die bisher noch mangelnde Individualität. Die Zweige, die ſich rein auf die Kreiſe der urſprünglichen Stoffwelt gründen, ſtreben am mythiſchen Stoffe zum Daſein. Die Fortbildung des ächt Maleriſchen im Sinne der lyriſchen Ge- müthstiefe hat die umbriſche Schule übernommen, die nun dem innigen Ge- fühls-Ausdruck auch die volle Wärme der Farbe gibt.
Das unendlich Anziehende, Liebenswürdige dieſer Epoche, die das fünfzehnte Jahrhundert einnimmt und noch in das ſechzehnte hineingeht, iſt die Naivetät, der ſüße, rührende Reſt von Dunkel und Unbewußtheit, der die aufſchwellende Roſe der Schönheit noch einhüllt, doppelt Herz- gewinnend, wenn man bedenkt, wie raſch die volle Reife überreif wird und die ganz entbundene Freiheit in Willkühr und falſche Bewußtheit übergeht. — Florenz wird nun die große Akademie, insbeſondere die große Zeichenſchule für die Maler Italiens. Hier, in der Stätte des Wohlſtandes und der Bildung, blühen alle Künſte auf, hier die Wiſſen- ſchaft, die erneute Kenntniß des Alterthums, hier lehren Griechen ſchon vor der Eroberung Conſtantinopels, gründen die Mediceer die platoniſche Akademie; hier iſt es, wo vor das urverwandte Auge des Italieners nun in wieder erkannter Schönheit die claſſiſche Kunſt tritt, wo zuerſt mit vollem Bewußtſein die antike Sculptur wieder gewürdigt, ſtudirt wird, und daher in dieſem Kunſtgebiet ein Ghiberti, Donatello, Luca della Robbia erſtehen kann. Die Antike iſt eine zweite, geläuterte Natur, ſie kann irreführen, kann zum Conventionellen verleiten, wenn die Kunſt nicht zugleich auf die erſte, die wirkliche Natur zurückgeht, ihr ewiges, ur- ſprüngliches Vorbild. Das war ſchon in der erſten Epoche neben den innern Schätzen der Phantaſie der große Hebel der Befreiung vom Typus. Die Florentiner wenden ſich nun mit unbefangenem Wahrheitsdurſte zu dieſem Born, insbeſondere kommt das Studium der Perſpective, der Anatomie auf, und was nicht in ausdrücklich wiſſenſchaftlicher Weiſe geſchieht, das zeigt dem Maler die aufmerkſamere Praxis, wie denn der große Begründer der neuen Epoche, Maſaccio, durch Auffindung der wahren Geſetze der modellirenden Wirkung des Lichts, der Verkürzung, des Faltenwurfs, der Rundung, die ſelbſtändige Ablöſung der Geſtalt von ihrem Grunde und dadurch er zuerſt den vollen maleriſchen Schein erzielt. Der innere Geiſt aber, den dieſer geniale Meiſter in die Anwendung der neu entdeckten Kunſtgeſetze legt, iſt ein Geiſt der gehaltenen Würde, des Charakterge- wichts aus Einem Guſſe, der ſich doch in der ganzen Leichtigkeit und Zu- fälligkeit der Natur bewegt; er ſchon hat jene würdigen Männergeſtalten, von denen bei der Darſtellung des plaſtiſch maleriſchen Styls die Rede
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Trägerinn des großen Fortſchritts, der ſich vor Allem auf die Erforſchung der
Natur und die eröffnete Kenntniß der Antike gründet, erfaßt insbeſondere die
bisher noch mangelnde Individualität. Die Zweige, die ſich rein auf die
Kreiſe der urſprünglichen Stoffwelt gründen, ſtreben am mythiſchen Stoffe zum
Daſein. Die Fortbildung des ächt Maleriſchen im Sinne der lyriſchen Ge-
müthstiefe hat die umbriſche Schule übernommen, die nun dem innigen Ge-
fühls-Ausdruck auch die volle Wärme der Farbe gibt.
Das unendlich Anziehende, Liebenswürdige dieſer Epoche, die das
fünfzehnte Jahrhundert einnimmt und noch in das ſechzehnte hineingeht,
iſt die Naivetät, der ſüße, rührende Reſt von Dunkel und Unbewußtheit,
der die aufſchwellende Roſe der Schönheit noch einhüllt, doppelt Herz-
gewinnend, wenn man bedenkt, wie raſch die volle Reife überreif wird
und die ganz entbundene Freiheit in Willkühr und falſche Bewußtheit
übergeht. — Florenz wird nun die große Akademie, insbeſondere die
große Zeichenſchule für die Maler Italiens. Hier, in der Stätte des
Wohlſtandes und der Bildung, blühen alle Künſte auf, hier die Wiſſen-
ſchaft, die erneute Kenntniß des Alterthums, hier lehren Griechen ſchon
vor der Eroberung Conſtantinopels, gründen die Mediceer die platoniſche
Akademie; hier iſt es, wo vor das urverwandte Auge des Italieners nun
in wieder erkannter Schönheit die claſſiſche Kunſt tritt, wo zuerſt mit
vollem Bewußtſein die antike Sculptur wieder gewürdigt, ſtudirt wird,
und daher in dieſem Kunſtgebiet ein Ghiberti, Donatello, Luca della
Robbia erſtehen kann. Die Antike iſt eine zweite, geläuterte Natur, ſie
kann irreführen, kann zum Conventionellen verleiten, wenn die Kunſt nicht
zugleich auf die erſte, die wirkliche Natur zurückgeht, ihr ewiges, ur-
ſprüngliches Vorbild. Das war ſchon in der erſten Epoche neben den
innern Schätzen der Phantaſie der große Hebel der Befreiung vom Typus.
Die Florentiner wenden ſich nun mit unbefangenem Wahrheitsdurſte zu dieſem
Born, insbeſondere kommt das Studium der Perſpective, der Anatomie
auf, und was nicht in ausdrücklich wiſſenſchaftlicher Weiſe geſchieht, das
zeigt dem Maler die aufmerkſamere Praxis, wie denn der große Begründer
der neuen Epoche, Maſaccio, durch Auffindung der wahren Geſetze der
modellirenden Wirkung des Lichts, der Verkürzung, des Faltenwurfs, der
Rundung, die ſelbſtändige Ablöſung der Geſtalt von ihrem Grunde und
dadurch er zuerſt den vollen maleriſchen Schein erzielt. Der innere Geiſt
aber, den dieſer geniale Meiſter in die Anwendung der neu entdeckten
Kunſtgeſetze legt, iſt ein Geiſt der gehaltenen Würde, des Charakterge-
wichts aus Einem Guſſe, der ſich doch in der ganzen Leichtigkeit und Zu-
fälligkeit der Natur bewegt; er ſchon hat jene würdigen Männergeſtalten,
von denen bei der Darſtellung des plaſtiſch maleriſchen Styls die Rede
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 708. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/216>, abgerufen am 16.07.2024.
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