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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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gewesen, er auch nackte Figuren in voller, reiner Welle der organischen
Rundung. Von ihm an geht nun der plastische Zug, der Geist der vor-
herrschenden Schönheit der Zeichnung in unverrücktem Ansteigen durch diese
florentinische Schule; auch der fromme, beschauliche Fiesole lenkt nicht
aus dieser Bahn, Benozzo Gozzoli legt sein ebenso mildes, doch
weltlich freieres Gemüth so geöffnet und klar in dieses Medium, daß
wahrhaft antik gefühlte Gestalten aus dem naiven Epos des Lebens, das
er an den Schicksalen der Patriarchen entwickelt, sich wie erwärmte Statuen
ablösen, der freundliche, schlicht warme Dom. Ghirlandajo ist voll
reiner Gestaltenfreude, die in Figuren, Gruppen, Bewegungen, wehenden
Gewändern mit classischem Hauche hervordringt, endlich aber schlägt das
Bewußtsein, daß dieß Alles noch nicht genüge, in den strengen Detail-
studien durch, die den Werken eines Andrea del Castagno, Ant. del
Polajuolo, Verocchio jene unerquickliche Härte und Schärfe der Einzel-
form ohne den harmonisch ausfüllenden und abrundenden Fluß des Lebens
und der Seele geben, bis Luca Signorelli erscheint, in das schroffe
Detail wieder die Welle der organischen Gesammtbewegung einführt, den
Strom des Affects, der in Fra Filippo Lippi in unschöner, selbst gemeiner
Form und zackiger Zeichnung unveredelt und vereinzelt durchgebrochen, in
die reinere Form leitet, an Meisterschaft der Zeichnung und Verkürzung
in großen Compositionen alle Früheren übertrifft und so als Vorläufer
des M. Angelo dasteht. Das Studium in seiner plastischen Richtung ist
und bleibt vor Allem auf das organische Gebilde der menschlichen Gestalt
gerichtet. Nimmt man nun das Malerische im Sinne des Ausdrucks un-
ergründlicher Gemüthstiefe, religiöser Innerlichkeit, so ist allerdings nur
durch die herzliche Frömmigkeit, die Sabbathfeier und Himmelsfreude des
Fiesole dafür gesorgt, daß auch dieses Moment auf der plastischen Seite
vertreten sei; die bürgerliche Behaglichkeit, die offene, schalkhafte Welt-
freude des Florentiners ist in dieser Zeit, da es den Menschen wohl und
heimisch ward auf Erden, noch weniger, als in dem vorhergegangenen
Jahrhundert, gestimmt, in den mystisch gedrängten Kern des christlichen
Geistes sich zu versenken, sondern ganz darauf bedacht, den großen In-
halt objectiv auszubreiten, in die Realität hinauszuführen. Faßt man
aber andere Seiten des Malerischen in's Auge, so sieht man diese heitere
Kühle noch weit umfassender und voller, als zur Zeit der Schule des
Giotto, mit der Wärme dieses Elements sich sättigen: Bewegtheit, Studium
der Stimmungen, Affecte, Charakterformen, Handlung, das Alles ent-
faltet sich nach Giotto's Anfängen in herrlicher Fülle weiter und weiter.
Der §. hebt aber Ein Moment ausdrücklich heraus: die vorhergehende
Epoche hatte noch stereotype Köpfe, die Grundzüge des Affects, der
allgemeineren Charaktertypen sind erkannt und wiedergegeben, aber es fehlt

geweſen, er auch nackte Figuren in voller, reiner Welle der organiſchen
Rundung. Von ihm an geht nun der plaſtiſche Zug, der Geiſt der vor-
herrſchenden Schönheit der Zeichnung in unverrücktem Anſteigen durch dieſe
florentiniſche Schule; auch der fromme, beſchauliche Fieſole lenkt nicht
aus dieſer Bahn, Benozzo Gozzoli legt ſein ebenſo mildes, doch
weltlich freieres Gemüth ſo geöffnet und klar in dieſes Medium, daß
wahrhaft antik gefühlte Geſtalten aus dem naiven Epos des Lebens, das
er an den Schickſalen der Patriarchen entwickelt, ſich wie erwärmte Statuen
ablöſen, der freundliche, ſchlicht warme Dom. Ghirlandajo iſt voll
reiner Geſtaltenfreude, die in Figuren, Gruppen, Bewegungen, wehenden
Gewändern mit claſſiſchem Hauche hervordringt, endlich aber ſchlägt das
Bewußtſein, daß dieß Alles noch nicht genüge, in den ſtrengen Detail-
ſtudien durch, die den Werken eines Andrea del Caſtagno, Ant. del
Polajuolo, Verocchio jene unerquickliche Härte und Schärfe der Einzel-
form ohne den harmoniſch ausfüllenden und abrundenden Fluß des Lebens
und der Seele geben, bis Luca Signorelli erſcheint, in das ſchroffe
Detail wieder die Welle der organiſchen Geſammtbewegung einführt, den
Strom des Affects, der in Fra Filippo Lippi in unſchöner, ſelbſt gemeiner
Form und zackiger Zeichnung unveredelt und vereinzelt durchgebrochen, in
die reinere Form leitet, an Meiſterſchaft der Zeichnung und Verkürzung
in großen Compoſitionen alle Früheren übertrifft und ſo als Vorläufer
des M. Angelo daſteht. Das Studium in ſeiner plaſtiſchen Richtung iſt
und bleibt vor Allem auf das organiſche Gebilde der menſchlichen Geſtalt
gerichtet. Nimmt man nun das Maleriſche im Sinne des Ausdrucks un-
ergründlicher Gemüthstiefe, religiöſer Innerlichkeit, ſo iſt allerdings nur
durch die herzliche Frömmigkeit, die Sabbathfeier und Himmelsfreude des
Fieſole dafür geſorgt, daß auch dieſes Moment auf der plaſtiſchen Seite
vertreten ſei; die bürgerliche Behaglichkeit, die offene, ſchalkhafte Welt-
freude des Florentiners iſt in dieſer Zeit, da es den Menſchen wohl und
heimiſch ward auf Erden, noch weniger, als in dem vorhergegangenen
Jahrhundert, geſtimmt, in den myſtiſch gedrängten Kern des chriſtlichen
Geiſtes ſich zu verſenken, ſondern ganz darauf bedacht, den großen In-
halt objectiv auszubreiten, in die Realität hinauszuführen. Faßt man
aber andere Seiten des Maleriſchen in’s Auge, ſo ſieht man dieſe heitere
Kühle noch weit umfaſſender und voller, als zur Zeit der Schule des
Giotto, mit der Wärme dieſes Elements ſich ſättigen: Bewegtheit, Studium
der Stimmungen, Affecte, Charakterformen, Handlung, das Alles ent-
faltet ſich nach Giotto’s Anfängen in herrlicher Fülle weiter und weiter.
Der §. hebt aber Ein Moment ausdrücklich heraus: die vorhergehende
Epoche hatte noch ſtereotype Köpfe, die Grundzüge des Affects, der
allgemeineren Charaktertypen ſind erkannt und wiedergegeben, aber es fehlt

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[709/0217] geweſen, er auch nackte Figuren in voller, reiner Welle der organiſchen Rundung. Von ihm an geht nun der plaſtiſche Zug, der Geiſt der vor- herrſchenden Schönheit der Zeichnung in unverrücktem Anſteigen durch dieſe florentiniſche Schule; auch der fromme, beſchauliche Fieſole lenkt nicht aus dieſer Bahn, Benozzo Gozzoli legt ſein ebenſo mildes, doch weltlich freieres Gemüth ſo geöffnet und klar in dieſes Medium, daß wahrhaft antik gefühlte Geſtalten aus dem naiven Epos des Lebens, das er an den Schickſalen der Patriarchen entwickelt, ſich wie erwärmte Statuen ablöſen, der freundliche, ſchlicht warme Dom. Ghirlandajo iſt voll reiner Geſtaltenfreude, die in Figuren, Gruppen, Bewegungen, wehenden Gewändern mit claſſiſchem Hauche hervordringt, endlich aber ſchlägt das Bewußtſein, daß dieß Alles noch nicht genüge, in den ſtrengen Detail- ſtudien durch, die den Werken eines Andrea del Caſtagno, Ant. del Polajuolo, Verocchio jene unerquickliche Härte und Schärfe der Einzel- form ohne den harmoniſch ausfüllenden und abrundenden Fluß des Lebens und der Seele geben, bis Luca Signorelli erſcheint, in das ſchroffe Detail wieder die Welle der organiſchen Geſammtbewegung einführt, den Strom des Affects, der in Fra Filippo Lippi in unſchöner, ſelbſt gemeiner Form und zackiger Zeichnung unveredelt und vereinzelt durchgebrochen, in die reinere Form leitet, an Meiſterſchaft der Zeichnung und Verkürzung in großen Compoſitionen alle Früheren übertrifft und ſo als Vorläufer des M. Angelo daſteht. Das Studium in ſeiner plaſtiſchen Richtung iſt und bleibt vor Allem auf das organiſche Gebilde der menſchlichen Geſtalt gerichtet. Nimmt man nun das Maleriſche im Sinne des Ausdrucks un- ergründlicher Gemüthstiefe, religiöſer Innerlichkeit, ſo iſt allerdings nur durch die herzliche Frömmigkeit, die Sabbathfeier und Himmelsfreude des Fieſole dafür geſorgt, daß auch dieſes Moment auf der plaſtiſchen Seite vertreten ſei; die bürgerliche Behaglichkeit, die offene, ſchalkhafte Welt- freude des Florentiners iſt in dieſer Zeit, da es den Menſchen wohl und heimiſch ward auf Erden, noch weniger, als in dem vorhergegangenen Jahrhundert, geſtimmt, in den myſtiſch gedrängten Kern des chriſtlichen Geiſtes ſich zu verſenken, ſondern ganz darauf bedacht, den großen In- halt objectiv auszubreiten, in die Realität hinauszuführen. Faßt man aber andere Seiten des Maleriſchen in’s Auge, ſo ſieht man dieſe heitere Kühle noch weit umfaſſender und voller, als zur Zeit der Schule des Giotto, mit der Wärme dieſes Elements ſich ſättigen: Bewegtheit, Studium der Stimmungen, Affecte, Charakterformen, Handlung, das Alles ent- faltet ſich nach Giotto’s Anfängen in herrlicher Fülle weiter und weiter. Der §. hebt aber Ein Moment ausdrücklich heraus: die vorhergehende Epoche hatte noch ſtereotype Köpfe, die Grundzüge des Affects, der allgemeineren Charaktertypen ſind erkannt und wiedergegeben, aber es fehlt

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 709. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/217>, abgerufen am 23.11.2024.