Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
oder wagt sich nur in einzelnen eingemischten Porträtfiguren hervor das
oder wagt ſich nur in einzelnen eingemiſchten Porträtfiguren hervor das <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0218" n="710"/> oder wagt ſich nur in einzelnen eingemiſchten Porträtfiguren hervor das<lb/> künſtleriſche Gefühl für die unendliche Eigenheit der Individualität; der<lb/> Maler bildet ſich für die bei allen Unterſchieden gleiche Grundſtimmung<lb/> eine gewiſſe Geſichtsform, die er ſtehend wiederholt; nicht durchgängig<lb/> gelangt die florentiniſche Schule jetzt dahin, die eigentliche Spitze des<lb/> Maleriſchen im Individuellen zu erfaſſen, namentlich Fieſole hat noch<lb/> die ſtereotype Phyſiognomie, aber die Andern führen mehr und mehr die<lb/> einzelne Geſtalt in die Form der porträtartigen Lebenswahrheit heraus.<lb/> Das Alles ſetzt eine Entwicklung des Colorits voraus, welche weit über<lb/> die einfache, ſonnige Farbenhelle eines Giotto ſich erheben mußte, und<lb/> Dom. Ghirlandajo vornehmlich iſt es, der bereits die feinen Wirkungen<lb/> haſtiger Streiflichter, einfallender Sonnenſtrahlen und ahnungsvollen Hell-<lb/> dunkels belauſcht. Es iſt nun insbeſondere das Porträtartige, was uns<lb/> zu einer weiteren Seite führt. Die Ausbildung deſſelben iſt nämlich ein<lb/> Hauptbeweis von der Stärke jenes Drangs, den tranſcendenten Stoff in<lb/> die volle Realität hineinzubilden, den wir ſchon in der vorhergehenden Epoche<lb/> gefunden haben und der ſich nun in denſelben merkwürdigen Erſcheinun-<lb/> gen, wie dort, aber in erweiterter Ausdehnung kund gibt. Das Maleriſche<lb/> entwickelt ſich denn vor Allem in dem Sinne fort, daß mit der Handlung<lb/> das <hi rendition="#g">Umgebende</hi> zu ſeiner Geltung gelangt; da waren allerdings Ein-<lb/> flüſſe von Deutſchland vorangegangen, wo das in ungetheilter Kraft wir-<lb/> kende rein maleriſche Prinzip bereits dieſe Conſequenz in Kraft geſetzt<lb/> hatte. So wird nun die Handlung in eine Landſchaft, architektoniſche<lb/> Umgebung, inneren Wohnraum mit Geräthen geſetzt, die Thierwelt ſpielt<lb/> umher, und das Alles iſt mit einem Intereſſe, in einem weit über das<lb/> Darſtellungs-Object hinausgehenden Umfang behandelt, woraus deutlich<lb/> erhellt, daß hier gewiſſe Zweige, die ſich auf dieſe Seite des Stoffes<lb/> gründen, an das Tageslicht ringen, aber ſich nicht entbinden können,<lb/> weil der mythiſche Stoff, der für den einzigen und abſoluten gilt, ihnen<lb/> nur unſelbſtändige Anlehnung geſtattet. Dieſer Zug herrſcht bei der<lb/> Schule des Giotto mehr in Beziehung auf das menſchliche Leben ſelbſt,<lb/> und auch darin bleibt die jetzige Epoche nicht zurück, ſondern macht<lb/> vielmehr die merkwürdigſten Fortſchritte: die Haupthandlung wird ſo<lb/> ganz in das Reale überſetzt, daß der Mythus eigentlich nur zu einem<lb/><hi rendition="#g">Motive</hi> wird, Anderes, rein Menſchliches auszuſprechen: Noa’s Erfin-<lb/> dung des Weinbaues dient dazu, das Bild einer fröhlichen Weinleſe, die<lb/> Geburt Eſau’s und Jakobs, der Maria, das Bild einer gemüthlichen Wochen-<lb/> ſtube zu geben, u. A. Das iſt Sittenbild, welches noch nicht zur ſelbſtän-<lb/> digen Geburt gelangen kann. Auch das Motiv, Zuſchauer um die Hand-<lb/> lung zu verſammeln, kommt nun immer ſtärker auf und hier, in den vom<lb/> Marke der Geſchichte genährten Geſtalten, den Kriegern, Staatsmännern,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [710/0218]
oder wagt ſich nur in einzelnen eingemiſchten Porträtfiguren hervor das
künſtleriſche Gefühl für die unendliche Eigenheit der Individualität; der
Maler bildet ſich für die bei allen Unterſchieden gleiche Grundſtimmung
eine gewiſſe Geſichtsform, die er ſtehend wiederholt; nicht durchgängig
gelangt die florentiniſche Schule jetzt dahin, die eigentliche Spitze des
Maleriſchen im Individuellen zu erfaſſen, namentlich Fieſole hat noch
die ſtereotype Phyſiognomie, aber die Andern führen mehr und mehr die
einzelne Geſtalt in die Form der porträtartigen Lebenswahrheit heraus.
Das Alles ſetzt eine Entwicklung des Colorits voraus, welche weit über
die einfache, ſonnige Farbenhelle eines Giotto ſich erheben mußte, und
Dom. Ghirlandajo vornehmlich iſt es, der bereits die feinen Wirkungen
haſtiger Streiflichter, einfallender Sonnenſtrahlen und ahnungsvollen Hell-
dunkels belauſcht. Es iſt nun insbeſondere das Porträtartige, was uns
zu einer weiteren Seite führt. Die Ausbildung deſſelben iſt nämlich ein
Hauptbeweis von der Stärke jenes Drangs, den tranſcendenten Stoff in
die volle Realität hineinzubilden, den wir ſchon in der vorhergehenden Epoche
gefunden haben und der ſich nun in denſelben merkwürdigen Erſcheinun-
gen, wie dort, aber in erweiterter Ausdehnung kund gibt. Das Maleriſche
entwickelt ſich denn vor Allem in dem Sinne fort, daß mit der Handlung
das Umgebende zu ſeiner Geltung gelangt; da waren allerdings Ein-
flüſſe von Deutſchland vorangegangen, wo das in ungetheilter Kraft wir-
kende rein maleriſche Prinzip bereits dieſe Conſequenz in Kraft geſetzt
hatte. So wird nun die Handlung in eine Landſchaft, architektoniſche
Umgebung, inneren Wohnraum mit Geräthen geſetzt, die Thierwelt ſpielt
umher, und das Alles iſt mit einem Intereſſe, in einem weit über das
Darſtellungs-Object hinausgehenden Umfang behandelt, woraus deutlich
erhellt, daß hier gewiſſe Zweige, die ſich auf dieſe Seite des Stoffes
gründen, an das Tageslicht ringen, aber ſich nicht entbinden können,
weil der mythiſche Stoff, der für den einzigen und abſoluten gilt, ihnen
nur unſelbſtändige Anlehnung geſtattet. Dieſer Zug herrſcht bei der
Schule des Giotto mehr in Beziehung auf das menſchliche Leben ſelbſt,
und auch darin bleibt die jetzige Epoche nicht zurück, ſondern macht
vielmehr die merkwürdigſten Fortſchritte: die Haupthandlung wird ſo
ganz in das Reale überſetzt, daß der Mythus eigentlich nur zu einem
Motive wird, Anderes, rein Menſchliches auszuſprechen: Noa’s Erfin-
dung des Weinbaues dient dazu, das Bild einer fröhlichen Weinleſe, die
Geburt Eſau’s und Jakobs, der Maria, das Bild einer gemüthlichen Wochen-
ſtube zu geben, u. A. Das iſt Sittenbild, welches noch nicht zur ſelbſtän-
digen Geburt gelangen kann. Auch das Motiv, Zuſchauer um die Hand-
lung zu verſammeln, kommt nun immer ſtärker auf und hier, in den vom
Marke der Geſchichte genährten Geſtalten, den Kriegern, Staatsmännern,
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