Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.stürmische Bewegtheit, aber in besonders ausgesprochenem Sinne plastisch Neben diesem Maler der Erhabenheit, diesem gewaltsamen M. Angelo, ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo, <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <p> <pb facs="#f0224" n="716"/> <hi rendition="#et">ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch<lb/> durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte<lb/> Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen<lb/> der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt ſie nicht durch<lb/> plaſtiſch ſchönes Profil, ſeine Köpfe ſind bisweilen gemein. Dieß ſcheint<lb/> wieder eine maleriſche Verirrung, allein was ihn vom ſchönen Ebenmaaß<lb/> abführt, iſt nicht Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form, ſondern ein<lb/> Ideal der <hi rendition="#g">Kraft</hi>, das ein Rieſengeſchlecht von übergewaltigen Muskeln<lb/> und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die<lb/> nicht im linden Säuſeln, ſondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken<lb/> fahrenden Jehovah erſcheint. Dieſes Kraft-Ideal iſt und bleibt aber<lb/> mehr plaſtiſch, als ächt maleriſch; es iſt das Erhabene im Sinne bildneri-<lb/> ſcher Auffaſſung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch<lb/> ſie wird in ſeiner Hand erhaben und führt uns weibliche Geſtalten vor<lb/> Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demſelben Rieſen-<lb/> geſchlecht angehören wie ſeine ſchrecklichen Männer. Am meiſten maleriſch<lb/> iſt ein Ausdruck tiefer, divinatoriſcher Verzückung, den er beſonders jenen<lb/> Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieſer Zug vererbt<lb/> ſich vorzüglich auf einen Meiſter aus jener florentiniſchen, an die großen<lb/> Vorbilder ſich anſchließenden Gruppe von Claſſikern im Sinne vollende-<lb/> ter Virtuoſität, denen in der durchgebildeten Beherrſchung der Form<lb/> öfters die Seele entſchwindet, auf <hi rendition="#g">Fra Bartolomeo. Andrea del<lb/> Sarto</hi>, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus-<lb/> druck, hat doch auch häufig dieſes myſtiſche Blicken und Kreiſen der in<lb/> beſchattete Höhle geſtellten Augen.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo,<lb/> ſteht nun die reinſte Blume italieniſcher Malerei, <hi rendition="#g">Raphael</hi>, mit dem vollen<lb/> Dufte der Anmuth. Dieſe Anmuth iſt die der inneren Seelenſchönheit;<lb/> Raphael iſt Umbrier und geht von der umbriſchen Schule aus, von welcher<lb/> er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So ſcheint er zu ſtehen oder ſteht<lb/> wirklich, was die Grundformen des Schönen an ſich betrifft, auf der<lb/> Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geſchicht-<lb/> lichen Hauptſtufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen,<lb/> auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen,<lb/> und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ<lb/> maleriſchen im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. Allein Raphael ergreift von<lb/> ſeinem Boden aus die gegenüberſtehenden Formen in ganz anderer Tiefe,<lb/> Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet<lb/> den geſchloſſenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als<lb/> ſtilles Leben der Liebe ſich zuſammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen<lb/> Energie der Charaktere; ſtarke Männerſeelen in ſtarken Körpern ſchreiten<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [716/0224]
ſtürmiſche Bewegtheit, aber in beſonders ausgeſprochenem Sinne plaſtiſch
durch das volle Uebergewicht, das er auf die Form, recht auf die nackte
Form legt. Er hat wenig Individualität, nur die allgemeineren Typen
der Affecte und Charaktere nimmt er auf; er veredelt ſie nicht durch
plaſtiſch ſchönes Profil, ſeine Köpfe ſind bisweilen gemein. Dieß ſcheint
wieder eine maleriſche Verirrung, allein was ihn vom ſchönen Ebenmaaß
abführt, iſt nicht Ueberſchuß des Ausdrucks über die Form, ſondern ein
Ideal der Kraft, das ein Rieſengeſchlecht von übergewaltigen Muskeln
und Knochen in den Titanenkampf mit einer göttlichen Macht führt, die
nicht im linden Säuſeln, ſondern im Zorneseifer des auf Wetterwolken
fahrenden Jehovah erſcheint. Dieſes Kraft-Ideal iſt und bleibt aber
mehr plaſtiſch, als ächt maleriſch; es iſt das Erhabene im Sinne bildneri-
ſcher Auffaſſung. Selten ergreift M. Angelo auch die Grazie, aber auch
ſie wird in ſeiner Hand erhaben und führt uns weibliche Geſtalten vor
Augen, die bei aller runderen Welle der Form doch demſelben Rieſen-
geſchlecht angehören wie ſeine ſchrecklichen Männer. Am meiſten maleriſch
iſt ein Ausdruck tiefer, divinatoriſcher Verzückung, den er beſonders jenen
Sibyllen, Propheten, Vorfahren der Maria geliehen. Dieſer Zug vererbt
ſich vorzüglich auf einen Meiſter aus jener florentiniſchen, an die großen
Vorbilder ſich anſchließenden Gruppe von Claſſikern im Sinne vollende-
ter Virtuoſität, denen in der durchgebildeten Beherrſchung der Form
öfters die Seele entſchwindet, auf Fra Bartolomeo. Andrea del
Sarto, bald würdig, bald bürgerlich gemüthlich, oft gewöhnlich im Aus-
druck, hat doch auch häufig dieſes myſtiſche Blicken und Kreiſen der in
beſchattete Höhle geſtellten Augen.
Neben dieſem Maler der Erhabenheit, dieſem gewaltſamen M. Angelo,
ſteht nun die reinſte Blume italieniſcher Malerei, Raphael, mit dem vollen
Dufte der Anmuth. Dieſe Anmuth iſt die der inneren Seelenſchönheit;
Raphael iſt Umbrier und geht von der umbriſchen Schule aus, von welcher
er auch die Wärme der Farbe mitbringt. So ſcheint er zu ſtehen oder ſteht
wirklich, was die Grundformen des Schönen an ſich betrifft, auf der
Seite des einfach Schönen gegenüber dem Erhabenen; was die geſchicht-
lichen Hauptſtufen des Styls betrifft, die wir nun hier wieder aufnehmen,
auf dem Boden des reizenden und rührenden Styls gegenüber dem hohen,
und was die Richtungen der Malerei betrifft, auf der Linie der relativ
maleriſchen im Gegenſatze gegen die plaſtiſche. Allein Raphael ergreift von
ſeinem Boden aus die gegenüberſtehenden Formen in ganz anderer Tiefe,
Fülle, Ausdehnung, als von umgekehrter Seite M. Angelo: er öffnet
den geſchloſſenen Kern, worin der Eintritt des Göttlichen in die Welt als
ſtilles Leben der Liebe ſich zuſammenhält, zur reichen Handlung, zur vollen
Energie der Charaktere; ſtarke Männerſeelen in ſtarken Körpern ſchreiten
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