die freiere Sphäre der Instrumentalmusik hinübergreift wie diese in die der Vocalmusik, noch die mittelbare, indem beide mit einander zusammentreten und gerade in dieser Vereinigung, in der sie sich gegenseitig verstärken, heben und ergänzen, ebenso großartige als charakteristische Gesammtwirkungen her- vorbringen können.
§. 797.
Die Vocalmusik ist zwar insofern nicht reine Musik als der Gesang des Hinzutretens eines das Gefühl erklärenden Textes bedarf; aber sie repräsentirt nach einer andern Seite doch das eigentlich Musikalische, sofern sie auf unmit- telbaren Gefühlsausdruck sich beschränkt, wogegen die Instrumentalmusik mit ihrer objectivern, phantasiereichern Richtung auf Hinstellung selbständigerer For- men bereits dem Typus anderer, nämlich der darstellenden Künste sich anzu- nähern beginnt.
Schon in §. 749 und 764 ist die einseitige Ansicht abgelehnt, als hätte die Musik blos mit Formen, musikalischen Figuren, nicht aber mit wirklichem Gefühlsausdruck zu thun, und als wäre ebendarum nur Instru- mentalmusik, die allerdings freier in Formen spielt, wirkliche Musik. Das dort Gesagte wird nun hier geradezu dahin weiter fortbestimmt, die Vocal- musik sei in gewissem Sinne die wahre, eigentliche Musik. Jene ist, wie es S. 829 heißt, nicht reine Musik, weil sie das Gefühl nicht in seiner Reinheit, sondern in seiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtsein darstellt. D. h. die Musik tritt in ihr nicht allein, sondern zugleich mit der Rede auf, als Ausdruck eines bestimmten, in der Rede ausgedrückten Gefühles. Aber in anderer Beziehung ist gerade dieß eigentlich Musik, weil hier über den Gefühlsausdruck (wofern nicht Gesangvirtuosität Haupt- zweck ist) nicht hinausgegangen, nicht zu große Formbestimmtheit (Figuration, Malerei) erstrebt wird, was eben durch die begleitende Rede unnöthig ist. Jedes Gefühl ist, obwohl mehr oder weniger dunkel, doch ein so und nicht anders gewordenes und seiendes, ein schlechthin bestimmtes, und es ist da- her (s. S. 791) ganz dem Wesen der Musik entsprechend, daß sie bestimmt in Worten fixirte Gefühle singt und daß sie nicht singt ohne solche Fixirung; es wirkt hiezu auch der Umstand mit, daß es dem Wesen des Menschen als selbstbewußten Subjects widerspräche, blos Töne hervorzubringen, blos Instrument zu sein, der Mensch, wenn er singen will, muß Bewußtes, Bestimmtes singen wollen; er setzt entweder Worte, Gedichte in Musik, um ihren Gefühlsinhalt auch musikalisch sich vergegenständlichen, um sie auch singen zu können, oder er erfindet, wenn er singen will, musikalisch com- ponirbare Texte oder greift zu schon componirten, in beiden Fällen ist ihm
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 64
die freiere Sphäre der Inſtrumentalmuſik hinübergreift wie dieſe in die der Vocalmuſik, noch die mittelbare, indem beide mit einander zuſammentreten und gerade in dieſer Vereinigung, in der ſie ſich gegenſeitig verſtärken, heben und ergänzen, ebenſo großartige als charakteriſtiſche Geſammtwirkungen her- vorbringen können.
§. 797.
Die Vocalmuſik iſt zwar inſofern nicht reine Muſik als der Geſang des Hinzutretens eines das Gefühl erklärenden Textes bedarf; aber ſie repräſentirt nach einer andern Seite doch das eigentlich Muſikaliſche, ſofern ſie auf unmit- telbaren Gefühlsausdruck ſich beſchränkt, wogegen die Inſtrumentalmuſik mit ihrer objectivern, phantaſiereichern Richtung auf Hinſtellung ſelbſtändigerer For- men bereits dem Typus anderer, nämlich der darſtellenden Künſte ſich anzu- nähern beginnt.
Schon in §. 749 und 764 iſt die einſeitige Anſicht abgelehnt, als hätte die Muſik blos mit Formen, muſikaliſchen Figuren, nicht aber mit wirklichem Gefühlsausdruck zu thun, und als wäre ebendarum nur Inſtru- mentalmuſik, die allerdings freier in Formen ſpielt, wirkliche Muſik. Das dort Geſagte wird nun hier geradezu dahin weiter fortbeſtimmt, die Vocal- muſik ſei in gewiſſem Sinne die wahre, eigentliche Muſik. Jene iſt, wie es S. 829 heißt, nicht reine Muſik, weil ſie das Gefühl nicht in ſeiner Reinheit, ſondern in ſeiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtſein darſtellt. D. h. die Muſik tritt in ihr nicht allein, ſondern zugleich mit der Rede auf, als Ausdruck eines beſtimmten, in der Rede ausgedrückten Gefühles. Aber in anderer Beziehung iſt gerade dieß eigentlich Muſik, weil hier über den Gefühlsausdruck (wofern nicht Geſangvirtuoſität Haupt- zweck iſt) nicht hinausgegangen, nicht zu große Formbeſtimmtheit (Figuration, Malerei) erſtrebt wird, was eben durch die begleitende Rede unnöthig iſt. Jedes Gefühl iſt, obwohl mehr oder weniger dunkel, doch ein ſo und nicht anders gewordenes und ſeiendes, ein ſchlechthin beſtimmtes, und es iſt da- her (ſ. S. 791) ganz dem Weſen der Muſik entſprechend, daß ſie beſtimmt in Worten fixirte Gefühle ſingt und daß ſie nicht ſingt ohne ſolche Fixirung; es wirkt hiezu auch der Umſtand mit, daß es dem Weſen des Menſchen als ſelbſtbewußten Subjects widerſpräche, blos Töne hervorzubringen, blos Inſtrument zu ſein, der Menſch, wenn er ſingen will, muß Bewußtes, Beſtimmtes ſingen wollen; er ſetzt entweder Worte, Gedichte in Muſik, um ihren Gefühlsinhalt auch muſikaliſch ſich vergegenſtändlichen, um ſie auch ſingen zu können, oder er erfindet, wenn er ſingen will, muſikaliſch com- ponirbare Texte oder greift zu ſchon componirten, in beiden Fällen iſt ihm
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 64
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die freiere Sphäre der Inſtrumentalmuſik hinübergreift wie dieſe in die der
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und gerade in dieſer Vereinigung, in der ſie ſich gegenſeitig verſtärken, heben
und ergänzen, ebenſo großartige als charakteriſtiſche Geſammtwirkungen her-
vorbringen können.
§. 797.
Die Vocalmuſik iſt zwar inſofern nicht reine Muſik als der Geſang des
Hinzutretens eines das Gefühl erklärenden Textes bedarf; aber ſie repräſentirt
nach einer andern Seite doch das eigentlich Muſikaliſche, ſofern ſie auf unmit-
telbaren Gefühlsausdruck ſich beſchränkt, wogegen die Inſtrumentalmuſik mit
ihrer objectivern, phantaſiereichern Richtung auf Hinſtellung ſelbſtändigerer For-
men bereits dem Typus anderer, nämlich der darſtellenden Künſte ſich anzu-
nähern beginnt.
Schon in §. 749 und 764 iſt die einſeitige Anſicht abgelehnt, als
hätte die Muſik blos mit Formen, muſikaliſchen Figuren, nicht aber mit
wirklichem Gefühlsausdruck zu thun, und als wäre ebendarum nur Inſtru-
mentalmuſik, die allerdings freier in Formen ſpielt, wirkliche Muſik. Das
dort Geſagte wird nun hier geradezu dahin weiter fortbeſtimmt, die Vocal-
muſik ſei in gewiſſem Sinne die wahre, eigentliche Muſik. Jene iſt, wie
es S. 829 heißt, nicht reine Muſik, weil ſie das Gefühl nicht in ſeiner
Reinheit, ſondern in ſeiner Verbindung mit dem begleitenden Bewußtſein
darſtellt. D. h. die Muſik tritt in ihr nicht allein, ſondern zugleich mit
der Rede auf, als Ausdruck eines beſtimmten, in der Rede ausgedrückten
Gefühles. Aber in anderer Beziehung iſt gerade dieß eigentlich Muſik,
weil hier über den Gefühlsausdruck (wofern nicht Geſangvirtuoſität Haupt-
zweck iſt) nicht hinausgegangen, nicht zu große Formbeſtimmtheit (Figuration,
Malerei) erſtrebt wird, was eben durch die begleitende Rede unnöthig iſt.
Jedes Gefühl iſt, obwohl mehr oder weniger dunkel, doch ein ſo und nicht
anders gewordenes und ſeiendes, ein ſchlechthin beſtimmtes, und es iſt da-
her (ſ. S. 791) ganz dem Weſen der Muſik entſprechend, daß ſie beſtimmt
in Worten fixirte Gefühle ſingt und daß ſie nicht ſingt ohne ſolche Fixirung;
es wirkt hiezu auch der Umſtand mit, daß es dem Weſen des Menſchen
als ſelbſtbewußten Subjects widerſpräche, blos Töne hervorzubringen, blos
Inſtrument zu ſein, der Menſch, wenn er ſingen will, muß Bewußtes,
Beſtimmtes ſingen wollen; er ſetzt entweder Worte, Gedichte in Muſik, um
ihren Gefühlsinhalt auch muſikaliſch ſich vergegenſtändlichen, um ſie auch
ſingen zu können, oder er erfindet, wenn er ſingen will, muſikaliſch com-
ponirbare Texte oder greift zu ſchon componirten, in beiden Fällen iſt ihm
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 983. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/221>, abgerufen am 04.12.2024.
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