das Singen, aber das inhaltbewußte Singen, Selbstzweck. So tief uns auch die Instrumentalmusik durch Reichthum, Großartigkeit, dramatische Verflechtung und Fortbewegung ergreifen und staunenmachen mag, sie geht doch über das unterscheidende, spezifische Wesen der Musik schon auch hinaus, sie ist phantasievolle Poesie, die sich in freiem Gedankenflug über den ein- fachen Gefühlsausdruck erhebt, sie ist Malerei, die ihn mit mannigfachsten Klangfarben umgibt, sie ist Zeichnung, die ihn ausschmückt mit einem ver- schlungenen Gewebe von Figurationen, deren wechselnde Formen bereits die Phantasie, die innere Anschauung, überhaupt, nicht mehr blos die em- pfindende Phantasie als solche oder die Empfindung selber ansprechen. Weil somit hier die Musik über ihren spezifischen Charakter hinaus sich erweitert und zugleich Phantasiekunst, allgemeine Kunst wird, oder weil eben in der Instrumentalmusik sich das realisirt, was §. 542 (bei der Entwicklung des Satzes, daß die einzelnen Künste nur die Wirklichkeit der Kunst an sich sind und daher vielfach in einander übergreifen) gesagt ist, daß nämlich der Ton selbst auch "als gestaltenerzeugende Kraft" auftritt, daß er auch für die Phantasie wirkt, auch vor ihr "schwebende Gestalten" aufsteigen läßt: so fühlen wir uns in ihr, sobald sie sich entschieden auf diese letztere Seite wendet, doch bereits an der Grenze des rein Musikalischen, wir stehen da gleichsam in einem Mittelgebiete allgemeinerer Gattung, in welchem wir schon mehr als bloße Musik vor uns sehen, und da das Ganze nun doch Phantasiespiel bleibt, zu keiner vollen Bestimmtheit der Gestalt oder des Ausdrucks gelangt, sondern in der Romantik des Gestaltlosen verharrt, so macht sich am Ende gebieterisch die Forderung der Rückkehr zu bestimmterem Gefühlsausdrucke geltend; von der Instrumentalmusik müssen wir schließlich (vgl. S. 830.) entweder hinweg zur concretern Kunst der reinen Phantasie, zur Poesie, zu deren Einleitung und Begleitung sie sich ebendarum so treff- lich eignet, oder wir müssen -- darum schloß gerade der größte Instrumen- talcomponist seine letzte Symphonie in dieser Weise, getrieben durch die innere Nothwendigkeit sein Herzensgefühl bestimmter auszusprechen -- zurück zum Gesange, der uns zur ursprünglichen Heimath der Musik, zum unmit- telbar klaren Empfindungsergusse, zurückführt. Als "Künstler" überhaupt, als Heros der Phantasie würde der reine Instrumentalcomponist den in seinem Fach gleich großen Vocalcomponisten uns in Schatten stellen; aber der größere "Musiker" bliebe uns doch wiederum der Letztere, weil er die Empfindungen des Herzens im Ton uns offenbart, nicht aber vorherrschend an die Phantasie sich wendet, deren Ansprüche auch die übrigen Künste, nicht blos die Musik, zu befriedigen im Stande sind. Inwiefern die In- strumentalmusik allerdings gerade durch ihren unendlichen Gestaltenreich- thum, der sie nach der einen Seite über die Grenzen der Musik hinauszu- führen droht, nach der andern doch in Einem Punkte auch musikalisch
das Singen, aber das inhaltbewußte Singen, Selbſtzweck. So tief uns auch die Inſtrumentalmuſik durch Reichthum, Großartigkeit, dramatiſche Verflechtung und Fortbewegung ergreifen und ſtaunenmachen mag, ſie geht doch über das unterſcheidende, ſpezifiſche Weſen der Muſik ſchon auch hinaus, ſie iſt phantaſievolle Poeſie, die ſich in freiem Gedankenflug über den ein- fachen Gefühlsausdruck erhebt, ſie iſt Malerei, die ihn mit mannigfachſten Klangfarben umgibt, ſie iſt Zeichnung, die ihn ausſchmückt mit einem ver- ſchlungenen Gewebe von Figurationen, deren wechſelnde Formen bereits die Phantaſie, die innere Anſchauung, überhaupt, nicht mehr blos die em- pfindende Phantaſie als ſolche oder die Empfindung ſelber anſprechen. Weil ſomit hier die Muſik über ihren ſpezifiſchen Charakter hinaus ſich erweitert und zugleich Phantaſiekunſt, allgemeine Kunſt wird, oder weil eben in der Inſtrumentalmuſik ſich das realiſirt, was §. 542 (bei der Entwicklung des Satzes, daß die einzelnen Künſte nur die Wirklichkeit der Kunſt an ſich ſind und daher vielfach in einander übergreifen) geſagt iſt, daß nämlich der Ton ſelbſt auch „als geſtaltenerzeugende Kraft“ auftritt, daß er auch für die Phantaſie wirkt, auch vor ihr „ſchwebende Geſtalten“ aufſteigen läßt: ſo fühlen wir uns in ihr, ſobald ſie ſich entſchieden auf dieſe letztere Seite wendet, doch bereits an der Grenze des rein Muſikaliſchen, wir ſtehen da gleichſam in einem Mittelgebiete allgemeinerer Gattung, in welchem wir ſchon mehr als bloße Muſik vor uns ſehen, und da das Ganze nun doch Phantaſieſpiel bleibt, zu keiner vollen Beſtimmtheit der Geſtalt oder des Ausdrucks gelangt, ſondern in der Romantik des Geſtaltloſen verharrt, ſo macht ſich am Ende gebieteriſch die Forderung der Rückkehr zu beſtimmterem Gefühlsausdrucke geltend; von der Inſtrumentalmuſik müſſen wir ſchließlich (vgl. S. 830.) entweder hinweg zur concretern Kunſt der reinen Phantaſie, zur Poeſie, zu deren Einleitung und Begleitung ſie ſich ebendarum ſo treff- lich eignet, oder wir müſſen — darum ſchloß gerade der größte Inſtrumen- talcomponiſt ſeine letzte Symphonie in dieſer Weiſe, getrieben durch die innere Nothwendigkeit ſein Herzensgefühl beſtimmter auszuſprechen — zurück zum Geſange, der uns zur urſprünglichen Heimath der Muſik, zum unmit- telbar klaren Empfindungserguſſe, zurückführt. Als „Künſtler“ überhaupt, als Heros der Phantaſie würde der reine Inſtrumentalcomponiſt den in ſeinem Fach gleich großen Vocalcomponiſten uns in Schatten ſtellen; aber der größere „Muſiker“ bliebe uns doch wiederum der Letztere, weil er die Empfindungen des Herzens im Ton uns offenbart, nicht aber vorherrſchend an die Phantaſie ſich wendet, deren Anſprüche auch die übrigen Künſte, nicht blos die Muſik, zu befriedigen im Stande ſind. Inwiefern die In- ſtrumentalmuſik allerdings gerade durch ihren unendlichen Geſtaltenreich- thum, der ſie nach der einen Seite über die Grenzen der Muſik hinauszu- führen droht, nach der andern doch in Einem Punkte auch muſikaliſch
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das Singen, aber das inhaltbewußte Singen, Selbſtzweck. So tief uns
auch die Inſtrumentalmuſik durch Reichthum, Großartigkeit, dramatiſche
Verflechtung und Fortbewegung ergreifen und ſtaunenmachen mag, ſie geht
doch über das unterſcheidende, ſpezifiſche Weſen der Muſik ſchon auch hinaus,
ſie iſt phantaſievolle Poeſie, die ſich in freiem Gedankenflug über den ein-
fachen Gefühlsausdruck erhebt, ſie iſt Malerei, die ihn mit mannigfachſten
Klangfarben umgibt, ſie iſt Zeichnung, die ihn ausſchmückt mit einem ver-
ſchlungenen Gewebe von Figurationen, deren wechſelnde Formen bereits die
Phantaſie, die innere Anſchauung, überhaupt, nicht mehr blos die em-
pfindende Phantaſie als ſolche oder die Empfindung ſelber anſprechen. Weil
ſomit hier die Muſik über ihren ſpezifiſchen Charakter hinaus ſich erweitert
und zugleich Phantaſiekunſt, allgemeine Kunſt wird, oder weil eben in der
Inſtrumentalmuſik ſich das realiſirt, was §. 542 (bei der Entwicklung des
Satzes, daß die einzelnen Künſte nur die Wirklichkeit der Kunſt an ſich
ſind und daher vielfach in einander übergreifen) geſagt iſt, daß nämlich der
Ton ſelbſt auch „als geſtaltenerzeugende Kraft“ auftritt, daß er auch für
die Phantaſie wirkt, auch vor ihr „ſchwebende Geſtalten“ aufſteigen läßt:
ſo fühlen wir uns in ihr, ſobald ſie ſich entſchieden auf dieſe letztere
Seite wendet, doch bereits an der Grenze des rein Muſikaliſchen, wir ſtehen
da gleichſam in einem Mittelgebiete allgemeinerer Gattung, in welchem wir
ſchon mehr als bloße Muſik vor uns ſehen, und da das Ganze nun doch
Phantaſieſpiel bleibt, zu keiner vollen Beſtimmtheit der Geſtalt oder des
Ausdrucks gelangt, ſondern in der Romantik des Geſtaltloſen verharrt, ſo
macht ſich am Ende gebieteriſch die Forderung der Rückkehr zu beſtimmterem
Gefühlsausdrucke geltend; von der Inſtrumentalmuſik müſſen wir ſchließlich
(vgl. S. 830.) entweder hinweg zur concretern Kunſt der reinen Phantaſie,
zur Poeſie, zu deren Einleitung und Begleitung ſie ſich ebendarum ſo treff-
lich eignet, oder wir müſſen — darum ſchloß gerade der größte Inſtrumen-
talcomponiſt ſeine letzte Symphonie in dieſer Weiſe, getrieben durch die
innere Nothwendigkeit ſein Herzensgefühl beſtimmter auszuſprechen — zurück
zum Geſange, der uns zur urſprünglichen Heimath der Muſik, zum unmit-
telbar klaren Empfindungserguſſe, zurückführt. Als „Künſtler“ überhaupt,
als Heros der Phantaſie würde der reine Inſtrumentalcomponiſt den in
ſeinem Fach gleich großen Vocalcomponiſten uns in Schatten ſtellen; aber
der größere „Muſiker“ bliebe uns doch wiederum der Letztere, weil er die
Empfindungen des Herzens im Ton uns offenbart, nicht aber vorherrſchend
an die Phantaſie ſich wendet, deren Anſprüche auch die übrigen Künſte,
nicht blos die Muſik, zu befriedigen im Stande ſind. Inwiefern die In-
ſtrumentalmuſik allerdings gerade durch ihren unendlichen Geſtaltenreich-
thum, der ſie nach der einen Seite über die Grenzen der Muſik hinauszu-
führen droht, nach der andern doch in Einem Punkte auch muſikaliſch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 984. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/222>, abgerufen am 04.12.2024.
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