Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreise von sich
ausschließt, und daß daher die Orgel für sich allein in ihren Wirkungen
sehr beschränkt ist; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende
ist sie unentbehrlich; denn nur sie legt den leichten, frei beweglichen, dem
individuellen Belieben untergebenen, schwachen Organen der Stimme und
der Einzelinstrumente eine festruhende, gewichtig stützende, nervig aushaltende
Basis der Klangstärke und Harmoniefülle unter, welche der Gesammtbe-
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch
die mittönende Orgel erscheint die Musik als eine Tonbewegung, zu welcher
das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht
in einsamer und einseitiger Subjectivität auftritt, sondern vermählt mit den
gewaltigen Tonkräften des Universums und rings von ihnen umschlossen
und getragen sich nach oben schwingt; wie die Arie des Individuums zum
Chor der Gesammtheit, gerade so verhält sich die Musik der Einzelstimmen
und Einzelinstrumente zu orgelbegleiteter Musik, nur daß Dasjenige, was
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und substantieller ist wegen der
transscendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die subjective Musik
umbrausen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der sie den leichtern,
wechselvolleren Bewegungen der subjectiven Musikorgane gegenüber das
flüchtige Tonelement zu ruhigfester Consistenz fixiren.

Die Frage, inwieweit die Orgel sich nicht blos zur Harmonie, sondern
auch zur Polyphonie eigne, ist in verwandter Weise zu beantworten,
wie beim Clavier. Manchen wird freilich schon das Aufwerfen dieser Frage
wunderlich scheinen, da die größten Meister des polyphonen Satzes ihn
gerade auch auf die Orgel mit besonderer Vorliebe angewandt haben. Aber
die Orgel, wenigstens wie sie bisher war, hat die Helligkeit und Distinct-
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-
sprechenden Polyphonie zusammengesetzter Art erforderlich ist. Die Orgel
ist "orchestrisch polyphon" durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche
sie in ihren Registern vereinigen kann, aber zur kunstgerechten Polyphonie,
zu welcher sie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung besitzt,
paßt sie, die Sache vorurtheilsfrei angesehen, ganz vollkommen nur bei
einfachern Sätzen und nur bei langsamem Tempo, bei schnellerem blos dann,
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern
Musikorganen ausgeführten polyphonen Musik bilden; in diesem Falle wirkt
sie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intensität und
Fülle z. B. des Gesanges vortrefflich mit. Der Meister der Polyphonie
wird sich freilich getrieben fühlen, das vielstimmige Organum, bei dessen
Spiel er zudem nicht auf den Dienst der Hände beschränkt ist, zu künst-
lichern Canon's, Fugen u. s. w. zu benützen; aber hier ist einer der Fälle,
wo die Intentionen subjectiver Virtuosität und die Forderungen der Kunst

Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich
ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen
ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende
iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem
individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und
der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende
Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe-
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch
die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher
das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht
in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den
gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen
und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum
Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen
und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der
transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik
umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern,
wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das
flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren.

Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern
auch zur Polyphonie eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten,
wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage
wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn
gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber
die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat die Helligkeit und Diſtinct-
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-
ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel
iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche
ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie,
zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt,
paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei
einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann,
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern
Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt
ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und
Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie
wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen
Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt-
lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle,
wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0284" n="1046"/>
Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskrei&#x017F;e von &#x017F;ich<lb/>
aus&#x017F;chließt, und daß daher die Orgel für &#x017F;ich allein in ihren Wirkungen<lb/>
&#x017F;ehr be&#x017F;chränkt i&#x017F;t; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende<lb/>
i&#x017F;t &#x017F;ie unentbehrlich; denn nur &#x017F;ie legt den leichten, frei beweglichen, dem<lb/>
individuellen Belieben untergebenen, &#x017F;chwachen Organen der Stimme und<lb/>
der Einzelin&#x017F;trumente eine fe&#x017F;truhende, gewichtig &#x017F;tützende, nervig aushaltende<lb/>
Ba&#x017F;is der Klang&#x017F;tärke und Harmoniefülle unter, welche der Ge&#x017F;ammtbe-<lb/>
wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch<lb/>
die mittönende Orgel er&#x017F;cheint die Mu&#x017F;ik als eine Tonbewegung, zu welcher<lb/>
das Ganze der <hi rendition="#g">Weltharmonie</hi> mitklingt, als eine Bewegung, die nicht<lb/>
in ein&#x017F;amer und ein&#x017F;eitiger Subjectivität auftritt, &#x017F;ondern vermählt mit den<lb/>
gewaltigen Tonkräften des Univer&#x017F;ums und rings von ihnen um&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en<lb/>
und getragen &#x017F;ich nach oben &#x017F;chwingt; wie die Arie des Individuums zum<lb/>
Chor der Ge&#x017F;ammtheit, gerade &#x017F;o verhält &#x017F;ich die Mu&#x017F;ik der Einzel&#x017F;timmen<lb/>
und Einzelin&#x017F;trumente zu orgelbegleiteter Mu&#x017F;ik, nur daß Dasjenige, was<lb/>
die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und &#x017F;ub&#x017F;tantieller i&#x017F;t wegen der<lb/>
trans&#x017F;cendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die &#x017F;ubjective Mu&#x017F;ik<lb/>
umbrau&#x017F;en und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der &#x017F;ie den leichtern,<lb/>
wech&#x017F;elvolleren Bewegungen der &#x017F;ubjectiven Mu&#x017F;ikorgane gegenüber das<lb/>
flüchtige Tonelement zu ruhigfe&#x017F;ter Con&#x017F;i&#x017F;tenz fixiren.</hi> </p><lb/>
              <p> <hi rendition="#et">Die Frage, inwieweit die Orgel &#x017F;ich nicht blos zur Harmonie, &#x017F;ondern<lb/>
auch zur <hi rendition="#g">Polyphonie</hi> eigne, i&#x017F;t in verwandter Wei&#x017F;e zu beantworten,<lb/>
wie beim Clavier. Manchen wird freilich &#x017F;chon das Aufwerfen die&#x017F;er Frage<lb/>
wunderlich &#x017F;cheinen, da die größten Mei&#x017F;ter des polyphonen Satzes ihn<lb/>
gerade auch auf die Orgel mit be&#x017F;onderer Vorliebe angewandt haben. Aber<lb/>
die Orgel, wenig&#x017F;tens wie &#x017F;ie bisher war, hat <hi rendition="#g">die</hi> Helligkeit und Di&#x017F;tinct-<lb/>
heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an-<lb/>
&#x017F;prechenden Polyphonie zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzter Art erforderlich i&#x017F;t. Die Orgel<lb/>
i&#x017F;t &#x201E;orche&#x017F;tri&#x017F;ch polyphon&#x201C; durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche<lb/>
&#x017F;ie in ihren Regi&#x017F;tern vereinigen kann, aber zur kun&#x017F;tgerechten Polyphonie,<lb/>
zu welcher &#x017F;ie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung be&#x017F;itzt,<lb/>
paßt &#x017F;ie, die Sache vorurtheilsfrei ange&#x017F;ehen, ganz vollkommen nur bei<lb/>
einfachern Sätzen und nur bei lang&#x017F;amem Tempo, bei &#x017F;chnellerem blos dann,<lb/>
wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern<lb/>
Mu&#x017F;ikorganen ausgeführten polyphonen Mu&#x017F;ik bilden; in die&#x017F;em Falle wirkt<lb/>
&#x017F;ie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Inten&#x017F;ität und<lb/>
Fülle z. B. des Ge&#x017F;anges vortrefflich mit. Der Mei&#x017F;ter der Polyphonie<lb/>
wird &#x017F;ich freilich getrieben fühlen, das viel&#x017F;timmige Organum, bei de&#x017F;&#x017F;en<lb/>
Spiel er zudem nicht auf den Dien&#x017F;t der Hände be&#x017F;chränkt i&#x017F;t, zu kün&#x017F;t-<lb/>
lichern Canon&#x2019;s, Fugen u. &#x017F;. w. zu benützen; aber hier i&#x017F;t einer der Fälle,<lb/>
wo die Intentionen &#x017F;ubjectiver Virtuo&#x017F;ität und die Forderungen der Kun&#x017F;t<lb/></hi> </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1046/0284] Freiheit, der Mannigfaltigkeit der individuellen Stimmungskreiſe von ſich ausſchließt, und daß daher die Orgel für ſich allein in ihren Wirkungen ſehr beſchränkt iſt; aber für das wirklich Großartige, Tiefe, Weltbewegende iſt ſie unentbehrlich; denn nur ſie legt den leichten, frei beweglichen, dem individuellen Belieben untergebenen, ſchwachen Organen der Stimme und der Einzelinſtrumente eine feſtruhende, gewichtig ſtützende, nervig aushaltende Baſis der Klangſtärke und Harmoniefülle unter, welche der Geſammtbe- wegung Kraft aus der Tiefe und gediegene Haltung verleiht; nur durch die mittönende Orgel erſcheint die Muſik als eine Tonbewegung, zu welcher das Ganze der Weltharmonie mitklingt, als eine Bewegung, die nicht in einſamer und einſeitiger Subjectivität auftritt, ſondern vermählt mit den gewaltigen Tonkräften des Univerſums und rings von ihnen umſchloſſen und getragen ſich nach oben ſchwingt; wie die Arie des Individuums zum Chor der Geſammtheit, gerade ſo verhält ſich die Muſik der Einzelſtimmen und Einzelinſtrumente zu orgelbegleiteter Muſik, nur daß Dasjenige, was die Orgel hinzuthut, noch übergreifender und ſubſtantieller iſt wegen der transſcendenten elementaren Gewalt, mit der ihre Töne die ſubjective Muſik umbrauſen und durchwehen, und wegen der Kraft, mit der ſie den leichtern, wechſelvolleren Bewegungen der ſubjectiven Muſikorgane gegenüber das flüchtige Tonelement zu ruhigfeſter Conſiſtenz fixiren. Die Frage, inwieweit die Orgel ſich nicht blos zur Harmonie, ſondern auch zur Polyphonie eigne, iſt in verwandter Weiſe zu beantworten, wie beim Clavier. Manchen wird freilich ſchon das Aufwerfen dieſer Frage wunderlich ſcheinen, da die größten Meiſter des polyphonen Satzes ihn gerade auch auf die Orgel mit beſonderer Vorliebe angewandt haben. Aber die Orgel, wenigſtens wie ſie bisher war, hat die Helligkeit und Diſtinct- heit aller Tonlagen nicht, welche zu einer wirklich hörbaren und klar an- ſprechenden Polyphonie zuſammengeſetzter Art erforderlich iſt. Die Orgel iſt „orcheſtriſch polyphon“ durch die Mannigfaltigkeit der Klangfarben, welche ſie in ihren Regiſtern vereinigen kann, aber zur kunſtgerechten Polyphonie, zu welcher ſie auch nicht die gehörige Leichtigkeit der Tonerzeugung beſitzt, paßt ſie, die Sache vorurtheilsfrei angeſehen, ganz vollkommen nur bei einfachern Sätzen und nur bei langſamem Tempo, bei ſchnellerem blos dann, wenn ihre polyphonen Stimmen die Begleitung einer von andern, hellern Muſikorganen ausgeführten polyphonen Muſik bilden; in dieſem Falle wirkt ſie, wenn auch nicht überall deutlich vernommen, doch zur Intenſität und Fülle z. B. des Geſanges vortrefflich mit. Der Meiſter der Polyphonie wird ſich freilich getrieben fühlen, das vielſtimmige Organum, bei deſſen Spiel er zudem nicht auf den Dienſt der Hände beſchränkt iſt, zu künſt- lichern Canon’s, Fugen u. ſ. w. zu benützen; aber hier iſt einer der Fälle, wo die Intentionen ſubjectiver Virtuoſität und die Forderungen der Kunſt

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/284
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1046. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/284>, abgerufen am 22.11.2024.