nicht blos durch Massengewalt erschüttert oder gar erdrückt zu werden, sondern auch bei schönem Einzelspiel frei aufzuathmen und auszuruhen be- gehrt. Aus dieser Doppelnatur des Orchesters ergibt sich auch hier wieder eine zweifache Behandlungsweise, ein Oscilliren des Orchestersatzes zwischen zwei Polen; der eine ist die harmoniemusikartige vorwiegende Behandlung des Orchesters als Masse, die Arbeit aus dem Vollen und in's Volle, der andere die Auffassung des Orchesters mehr als "gemischten Chors," als eines Vereins verschiedener lebendig contrastirender Stimmen (wie bei Haydn); diese beiden entgegengesetzten Behandlungsweisen können selbst wieder combinirt, Massenwirkung und Auflösung in Einzelstimmen in gleich hoher Ausbildung verknüpft werden (wie bei Beethoven), oder wird der Mittelweg eingehalten, der die beiden Seiten sich nicht gegen einander in Spannung setzen, sondern Gesammtwirkung und Individualisirung das Gleichgewicht halten und stets in einander überfließen läßt (wie in der Mozart'schen Instrumentalmusik). -- Auf Werke "größern Styls" muß der Orchestersatz stets beschränkt bleiben; eine zu sehr in's Kleine figurirende, wenn auch polyphonisch kunstreiche Filigranarbeit, eine überzarte, hyper- romantische Zersplitterung, Verflüchtigung, Aetherisirung der Musik, die der ein- und mehrstimmige Solosatz (namentlich das Streichquartett) wohl zuläßt, gehört z. B. in eine Symphonie nicht, sondern kann innerhalb ihrer nur kleinlich und erschlaffend wirken, weil sie sich von der "Compactheit" des Orchesters zu weit entfernt; aber dieser größere Styl läßt verschiedenartige Modificationen zu, nicht blos das Hohe und "Große," sondern auch das einfach Schöne, das von zerfließender Weichheit sowie von überfeinem Pinsel- strich sich ferne hält und immer noch in kräftigen Zügen malt, gehört ihm nicht minder an, und der Orchestersatz hat daher eine Mannigfaltigkeit, wie der Satz für Einzelinstrumente sie nie erreicht. Mit dem innern Merkmal des größern Styls hängt auch die äußere Forderung eines größern Umfangs zusammen; innerhalb zu enger Grenzen könnte das Orchester sich weit nicht genug entfalten, es entstände ein Mißverhältniß zwischen den großen in Bewegung gesetzten Mitteln und dem schnell und leicht verfliegenden Ton- inhalt, für den sie aufgeboten würden, und das Orchester kann daher nur innerhalb umfassenderer Tonwerke Stücke von geringem Umfang ausführen. -- Die eminente Leistungsfähigkeit des Orchesters, wie sie besonders durch Beethoven enthüllt worden ist, macht die Ueberschätzung der Instrumental- musik dem Gesange gegenüber, die in §. 797 besprochen wurde, sehr leicht erklärlich, das Vermögen der Menschenstimme scheint in der That in nichts zusammenzusinken vor der Hoheit und Farbenpracht vollen Orchesterklanges; aber zu vergessen ist auch das Andere nicht, daß das Orchester nach zwei Rücksichten, nämlich sofern es Masse und sofern es Compositum ist, hinter dem Vocalchore auch wiederum zurücksteht, es hat als Masse nicht die Art
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nicht blos durch Maſſengewalt erſchüttert oder gar erdrückt zu werden, ſondern auch bei ſchönem Einzelſpiel frei aufzuathmen und auszuruhen be- gehrt. Aus dieſer Doppelnatur des Orcheſters ergibt ſich auch hier wieder eine zweifache Behandlungsweiſe, ein Oscilliren des Orcheſterſatzes zwiſchen zwei Polen; der eine iſt die harmoniemuſikartige vorwiegende Behandlung des Orcheſters als Maſſe, die Arbeit aus dem Vollen und in’s Volle, der andere die Auffaſſung des Orcheſters mehr als „gemiſchten Chors,“ als eines Vereins verſchiedener lebendig contraſtirender Stimmen (wie bei Haydn); dieſe beiden entgegengeſetzten Behandlungsweiſen können ſelbſt wieder combinirt, Maſſenwirkung und Auflöſung in Einzelſtimmen in gleich hoher Ausbildung verknüpft werden (wie bei Beethoven), oder wird der Mittelweg eingehalten, der die beiden Seiten ſich nicht gegen einander in Spannung ſetzen, ſondern Geſammtwirkung und Individualiſirung das Gleichgewicht halten und ſtets in einander überfließen läßt (wie in der Mozart’ſchen Inſtrumentalmuſik). — Auf Werke „größern Styls“ muß der Orcheſterſatz ſtets beſchränkt bleiben; eine zu ſehr in’s Kleine figurirende, wenn auch polyphoniſch kunſtreiche Filigranarbeit, eine überzarte, hyper- romantiſche Zerſplitterung, Verflüchtigung, Aetheriſirung der Muſik, die der ein- und mehrſtimmige Soloſatz (namentlich das Streichquartett) wohl zuläßt, gehört z. B. in eine Symphonie nicht, ſondern kann innerhalb ihrer nur kleinlich und erſchlaffend wirken, weil ſie ſich von der „Compactheit“ des Orcheſters zu weit entfernt; aber dieſer größere Styl läßt verſchiedenartige Modificationen zu, nicht blos das Hohe und „Große,“ ſondern auch das einfach Schöne, das von zerfließender Weichheit ſowie von überfeinem Pinſel- ſtrich ſich ferne hält und immer noch in kräftigen Zügen malt, gehört ihm nicht minder an, und der Orcheſterſatz hat daher eine Mannigfaltigkeit, wie der Satz für Einzelinſtrumente ſie nie erreicht. Mit dem innern Merkmal des größern Styls hängt auch die äußere Forderung eines größern Umfangs zuſammen; innerhalb zu enger Grenzen könnte das Orcheſter ſich weit nicht genug entfalten, es entſtände ein Mißverhältniß zwiſchen den großen in Bewegung geſetzten Mitteln und dem ſchnell und leicht verfliegenden Ton- inhalt, für den ſie aufgeboten würden, und das Orcheſter kann daher nur innerhalb umfaſſenderer Tonwerke Stücke von geringem Umfang ausführen. — Die eminente Leiſtungsfähigkeit des Orcheſters, wie ſie beſonders durch Beethoven enthüllt worden iſt, macht die Ueberſchätzung der Inſtrumental- muſik dem Geſange gegenüber, die in §. 797 beſprochen wurde, ſehr leicht erklärlich, das Vermögen der Menſchenſtimme ſcheint in der That in nichts zuſammenzuſinken vor der Hoheit und Farbenpracht vollen Orcheſterklanges; aber zu vergeſſen iſt auch das Andere nicht, daß das Orcheſter nach zwei Rückſichten, nämlich ſofern es Maſſe und ſofern es Compoſitum iſt, hinter dem Vocalchore auch wiederum zurückſteht, es hat als Maſſe nicht die Art
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nicht blos durch Maſſengewalt erſchüttert oder gar erdrückt zu werden,
ſondern auch bei ſchönem Einzelſpiel frei aufzuathmen und auszuruhen be-
gehrt. Aus dieſer Doppelnatur des Orcheſters ergibt ſich auch hier wieder
eine zweifache Behandlungsweiſe, ein Oscilliren des Orcheſterſatzes zwiſchen
zwei Polen; der eine iſt die harmoniemuſikartige vorwiegende Behandlung
des Orcheſters als Maſſe, die Arbeit aus dem Vollen und in’s Volle,
der andere die Auffaſſung des Orcheſters mehr als „gemiſchten Chors,“
als eines Vereins verſchiedener lebendig contraſtirender Stimmen (wie bei
Haydn); dieſe beiden entgegengeſetzten Behandlungsweiſen können ſelbſt
wieder combinirt, Maſſenwirkung und Auflöſung in Einzelſtimmen in gleich
hoher Ausbildung verknüpft werden (wie bei Beethoven), oder wird der
Mittelweg eingehalten, der die beiden Seiten ſich nicht gegen einander in
Spannung ſetzen, ſondern Geſammtwirkung und Individualiſirung das
Gleichgewicht halten und ſtets in einander überfließen läßt (wie in der
Mozart’ſchen Inſtrumentalmuſik). — Auf Werke „größern Styls“ muß
der Orcheſterſatz ſtets beſchränkt bleiben; eine zu ſehr in’s Kleine figurirende,
wenn auch polyphoniſch kunſtreiche Filigranarbeit, eine überzarte, hyper-
romantiſche Zerſplitterung, Verflüchtigung, Aetheriſirung der Muſik, die der
ein- und mehrſtimmige Soloſatz (namentlich das Streichquartett) wohl zuläßt,
gehört z. B. in eine Symphonie nicht, ſondern kann innerhalb ihrer nur
kleinlich und erſchlaffend wirken, weil ſie ſich von der „Compactheit“ des
Orcheſters zu weit entfernt; aber dieſer größere Styl läßt verſchiedenartige
Modificationen zu, nicht blos das Hohe und „Große,“ ſondern auch das
einfach Schöne, das von zerfließender Weichheit ſowie von überfeinem Pinſel-
ſtrich ſich ferne hält und immer noch in kräftigen Zügen malt, gehört ihm
nicht minder an, und der Orcheſterſatz hat daher eine Mannigfaltigkeit, wie
der Satz für Einzelinſtrumente ſie nie erreicht. Mit dem innern Merkmal
des größern Styls hängt auch die äußere Forderung eines größern Umfangs
zuſammen; innerhalb zu enger Grenzen könnte das Orcheſter ſich weit nicht
genug entfalten, es entſtände ein Mißverhältniß zwiſchen den großen in
Bewegung geſetzten Mitteln und dem ſchnell und leicht verfliegenden Ton-
inhalt, für den ſie aufgeboten würden, und das Orcheſter kann daher nur
innerhalb umfaſſenderer Tonwerke Stücke von geringem Umfang ausführen.
— Die eminente Leiſtungsfähigkeit des Orcheſters, wie ſie beſonders durch
Beethoven enthüllt worden iſt, macht die Ueberſchätzung der Inſtrumental-
muſik dem Geſange gegenüber, die in §. 797 beſprochen wurde, ſehr leicht
erklärlich, das Vermögen der Menſchenſtimme ſcheint in der That in nichts
zuſammenzuſinken vor der Hoheit und Farbenpracht vollen Orcheſterklanges;
aber zu vergeſſen iſt auch das Andere nicht, daß das Orcheſter nach zwei
Rückſichten, nämlich ſofern es Maſſe und ſofern es Compoſitum iſt, hinter
dem Vocalchore auch wiederum zurückſteht, es hat als Maſſe nicht die Art
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1065. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/303>, abgerufen am 22.11.2024.
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