von Beweglichkeit, die der Gesang hat, d. h. nicht die dem Empfindungs- inhalt überall hin bis in's Einzelnste folgende ausdrucksreiche Schmiegsamkeit, und es hat als Compositum nicht die ideale Einfachheit, die auch dem vollesten Chore beiwohnt und ihm eine so unendliche Würde verleiht (§. 804), es kann sich dessen, daß es ein Product reflectirter Technik aus mannig- fachen heterogenen Stoffen ist, niemals ganz entäußern, es besitzt die Un- mittelbarkeit und Frische des Naturorganes nicht, und es kann daher ihm wohl zur Seite, aber niemals über es gestellt werden; ächt modern wäre ein einseitiger Cultus der Orchestermusik, aber mit den Gesetzen der Natur und der Tonkunst, die als Kunst des Empfindungsausdrucks ein so bieg- sames und sprechendes Organ wie die Menschenstimme nicht hintansetzen darf, wird er in stetem Streite sein. In dynamischer Beziehung freilich kann der Chor mit dem Orchester nicht wetteifern, aber es ist dieß ein Vorzug des letztern, der auch seine Zweideutigkeit und bereits außerordentlich viel zur Veräußerlichung der Instrumentalmusik beigetragen hat. Ein Riesen- orchester, wie es H. Berlioz in Vorschlag brachte, wird für innerlich gediegene und kraftvolle Werke, wie die Beethoven'schen, ein würdiges Organ der Ausführung sein; aber mehr als dieß kann man sich von ihm nicht ver- sprechen; ein Orchester, das noch verständlich und schön sein soll, muß seine Tonkraft stets innerhalb gewisser Grenzen halten, und ein gewisses Maaß der Stärke seines Gesammtklanges ist ohnedieß dadurch geboten, daß dieser zu der Klangkraft der in der Orchestermusik mitauftretenden Soloinstrumente nothwendig in passendem Verhältnisse stehen muß. Die absolute Giganti- sirung des Orchesters ist derselbe unwirkliche Traum wie die Orchestrirung des Claviers es war.
§. 811.
Die concreten Gattungen der Instrumentalmusik (§. 807. Anm. 786 ff.) sind: 1) einfaches Tonstück, insbesondere Lied; 2) mehrtheiliges Ton- stück, Marsch, Tanz, Rondo, Variation, zweitheiliger Satz mit "freier Ge- dankenentwicklung," besonders Ouvertüre; 3) das größere Tonstück aus mehrern Sätzen bestehend, Sonate, Duett, Trio u. s. w., Concert, Symphonie, denen sich als untergeordnet die mehr willkürlichen Phantasieformen anreihen.
Die Instrumentalmusik ist ursprünglich einfaches Spiel mit dem vor- gefundenen oder auch selbst gefertigten Naturinstrument, Muschel, Rohr u. s. w., ein Spiel, welches, sobald es über ein bloßes Hervorstoßen von Einzeltönen, an denen die Phantasie sich ergötzt oder die zu Rufen, Signalen dienen, hinausgekommen ist, zu Anfängen melodiöser oder wirklich melodischer Ton- bewegung fortschreiten wird, wie die Singstimme allmälig das Lied aus sich herausbildet. So ergibt sich das einfache Instrumentaltonproduct, das
von Beweglichkeit, die der Geſang hat, d. h. nicht die dem Empfindungs- inhalt überall hin bis in’s Einzelnſte folgende ausdrucksreiche Schmiegſamkeit, und es hat als Compoſitum nicht die ideale Einfachheit, die auch dem volleſten Chore beiwohnt und ihm eine ſo unendliche Würde verleiht (§. 804), es kann ſich deſſen, daß es ein Product reflectirter Technik aus mannig- fachen heterogenen Stoffen iſt, niemals ganz entäußern, es beſitzt die Un- mittelbarkeit und Friſche des Naturorganes nicht, und es kann daher ihm wohl zur Seite, aber niemals über es geſtellt werden; ächt modern wäre ein einſeitiger Cultus der Orcheſtermuſik, aber mit den Geſetzen der Natur und der Tonkunſt, die als Kunſt des Empfindungsausdrucks ein ſo bieg- ſames und ſprechendes Organ wie die Menſchenſtimme nicht hintanſetzen darf, wird er in ſtetem Streite ſein. In dynamiſcher Beziehung freilich kann der Chor mit dem Orcheſter nicht wetteifern, aber es iſt dieß ein Vorzug des letztern, der auch ſeine Zweideutigkeit und bereits außerordentlich viel zur Veräußerlichung der Inſtrumentalmuſik beigetragen hat. Ein Rieſen- orcheſter, wie es H. Berlioz in Vorſchlag brachte, wird für innerlich gediegene und kraftvolle Werke, wie die Beethoven’ſchen, ein würdiges Organ der Ausführung ſein; aber mehr als dieß kann man ſich von ihm nicht ver- ſprechen; ein Orcheſter, das noch verſtändlich und ſchön ſein ſoll, muß ſeine Tonkraft ſtets innerhalb gewiſſer Grenzen halten, und ein gewiſſes Maaß der Stärke ſeines Geſammtklanges iſt ohnedieß dadurch geboten, daß dieſer zu der Klangkraft der in der Orcheſtermuſik mitauftretenden Soloinſtrumente nothwendig in paſſendem Verhältniſſe ſtehen muß. Die abſolute Giganti- ſirung des Orcheſters iſt derſelbe unwirkliche Traum wie die Orcheſtrirung des Claviers es war.
§. 811.
Die concreten Gattungen der Inſtrumentalmuſik (§. 807. Anm. 786 ff.) ſind: 1) einfaches Tonſtück, insbeſondere Lied; 2) mehrtheiliges Ton- ſtück, Marſch, Tanz, Rondo, Variation, zweitheiliger Satz mit „freier Ge- dankenentwicklung,“ beſonders Ouvertüre; 3) das größere Tonſtück aus mehrern Sätzen beſtehend, Sonate, Duett, Trio u. ſ. w., Concert, Symphonie, denen ſich als untergeordnet die mehr willkürlichen Phantaſieformen anreihen.
Die Inſtrumentalmuſik iſt urſprünglich einfaches Spiel mit dem vor- gefundenen oder auch ſelbſt gefertigten Naturinſtrument, Muſchel, Rohr u. ſ. w., ein Spiel, welches, ſobald es über ein bloßes Hervorſtoßen von Einzeltönen, an denen die Phantaſie ſich ergötzt oder die zu Rufen, Signalen dienen, hinausgekommen iſt, zu Anfängen melodiöſer oder wirklich melodiſcher Ton- bewegung fortſchreiten wird, wie die Singſtimme allmälig das Lied aus ſich herausbildet. So ergibt ſich das einfache Inſtrumentaltonproduct, das
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und es hat als Compoſitum nicht die ideale Einfachheit, die auch dem
volleſten Chore beiwohnt und ihm eine ſo unendliche Würde verleiht (§. 804),
es kann ſich deſſen, daß es ein Product reflectirter Technik aus mannig-
fachen heterogenen Stoffen iſt, niemals ganz entäußern, es beſitzt die Un-
mittelbarkeit und Friſche des Naturorganes nicht, und es kann daher ihm
wohl zur Seite, aber niemals über es geſtellt werden; ächt modern wäre
ein einſeitiger Cultus der Orcheſtermuſik, aber mit den Geſetzen der Natur
und der Tonkunſt, die als Kunſt des Empfindungsausdrucks ein ſo bieg-
ſames und ſprechendes Organ wie die Menſchenſtimme nicht hintanſetzen
darf, wird er in ſtetem Streite ſein. In dynamiſcher Beziehung freilich
kann der Chor mit dem Orcheſter nicht wetteifern, aber es iſt dieß ein
Vorzug des letztern, der auch ſeine Zweideutigkeit und bereits außerordentlich
viel zur Veräußerlichung der Inſtrumentalmuſik beigetragen hat. Ein Rieſen-
orcheſter, wie es H. Berlioz in Vorſchlag brachte, wird für innerlich gediegene
und kraftvolle Werke, wie die Beethoven’ſchen, ein würdiges Organ der
Ausführung ſein; aber mehr als dieß kann man ſich von ihm nicht ver-
ſprechen; ein Orcheſter, das noch verſtändlich und ſchön ſein ſoll, muß ſeine
Tonkraft ſtets innerhalb gewiſſer Grenzen halten, und ein gewiſſes Maaß
der Stärke ſeines Geſammtklanges iſt ohnedieß dadurch geboten, daß dieſer
zu der Klangkraft der in der Orcheſtermuſik mitauftretenden Soloinſtrumente
nothwendig in paſſendem Verhältniſſe ſtehen muß. Die abſolute Giganti-
ſirung des Orcheſters iſt derſelbe unwirkliche Traum wie die Orcheſtrirung
des Claviers es war.
§. 811.
Die concreten Gattungen der Inſtrumentalmuſik (§. 807. Anm. 786 ff.)
ſind: 1) einfaches Tonſtück, insbeſondere Lied; 2) mehrtheiliges Ton-
ſtück, Marſch, Tanz, Rondo, Variation, zweitheiliger Satz mit „freier Ge-
dankenentwicklung,“ beſonders Ouvertüre; 3) das größere Tonſtück aus
mehrern Sätzen beſtehend, Sonate, Duett, Trio u. ſ. w., Concert, Symphonie,
denen ſich als untergeordnet die mehr willkürlichen Phantaſieformen anreihen.
Die Inſtrumentalmuſik iſt urſprünglich einfaches Spiel mit dem vor-
gefundenen oder auch ſelbſt gefertigten Naturinſtrument, Muſchel, Rohr u. ſ. w.,
ein Spiel, welches, ſobald es über ein bloßes Hervorſtoßen von Einzeltönen,
an denen die Phantaſie ſich ergötzt oder die zu Rufen, Signalen dienen,
hinausgekommen iſt, zu Anfängen melodiöſer oder wirklich melodiſcher Ton-
bewegung fortſchreiten wird, wie die Singſtimme allmälig das Lied aus
ſich herausbildet. So ergibt ſich das einfache Inſtrumentaltonproduct, das
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1066. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/304>, abgerufen am 22.11.2024.
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