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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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3. Das einfache oder gemischte mehrstimmige Solostück, das Duo,
Trio, Quartett, Quintett
u. s. w. geht einen bedeutenden Schritt
weiter, es läßt mehrere Stimmen selbständig (symphonisch) zusammenwirken
und stellt so schon eine wenn auch nicht nothwendig tiefere, so doch
mannigfaltiger erregte, nicht an Einem Faden fortlaufende, sondern ver-
schiedene Kräfte gegen einander in Bewegung setzende, verschiedene Stim-
mungsfarben mischende Gefühlsentwicklung dar. Auch diese Form eignet
sich daher ganz besonders zu größern, sonatenartigen Tonstücken, in deren
drei oder vier Hauptsätzen die verschiedenen Fäden, aus denen das Ganze
sich zusammenspinnt, in die mannigfaltigsten Formen der Gegenüberstellung
und des Zusammenwirkens gebracht werden. Lebendig contrastirende, hiedurch
zum Schwung des Ganzen nach Vermögen beitragende Stimmenbewegung
und Stimmenverflechtung im ersten Satze; im zweiten eine enger zusammen-
rückende, zu klarem, weichem, tiefem Stimmungsausdruck zusammentönende
Stimmführung, die jedoch im Verlauf auch dazu fortschreitet, das Thema
kunstreich auszubilden, es in verschiedene Formen zu kleiden, deren jede ihm
eine neue bedeutende Seite abgewinnt; im dritten abermaliges Zusammen-
rücken in geschlossenen Gliedern zu belebtem Chor- oder Wechseltanz, der
im Trio zartere, lieblichere, auch etwa mit einem leichten Anflug von Weh-
muth oder Sehnsucht sich verbindende Formen annimmt; endlich im Schlußsatz
entweder einfach abschließende oder "concrete", zu künstlicherer Gegeneinan-
derführung der Stimmen fortgehende Gesammtbewegung (s. Anm. 1); dieß
sind die Grundzüge, in welchen diese Form im Allgemeinen sich halten
wird, nur daß die gemischte mehrstimmige Composition durch mannigfaltige
Verwendung der Klangfarben mehr eine gemüthliche, die Composition für
Streichinstrumente dagegen durch kunstvolle Combination der Stimmen mehr
eine geistig anregende Wirkung erstrebt (§. 809). Auch neigt sich die
letztere mehr zu einer Vierzahl kürzerer, contrastirend gebauter Sätze, um
Monotonie zu vermeiden, während die erstere mit ihrer Klangfarbenpoly-
phonie leichter auch zu längern, weiter ausholenden, mannigfach variirenden
Sätzen sich ausbreitet.

4. Auf lange, in's Weite und Breite gehende Sätze ist vor Allem
das Concert angewiesen. Denn hier handelt es sich ganz besonders um
ungebundene, ungehemmt austönende Gedankenentfaltung, damit beide Ele-
mente, das Einzelspiel und die Mitwirkung des Orchesters und der Neben-
instrumente, zu ihrem vollen Rechte kommen. Individuum und Gesammtheit
treten hier mit einander auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um sich zu
zeigen und zu messen; stellt der mehrstimmige Solosatz meist noch Gefühle
dar, die im Innern der Seele auftauchen, zusammentreffen, in Kampf gerathen,
in versöhnter Harmonie sich wieder zusammenfinden, so tritt dagegen das
Concert in die Realität eines concretern Lebens heraus, es legt eine erhöhte

3. Das einfache oder gemiſchte mehrſtimmige Soloſtück, das Duo,
Trio, Quartett, Quintett
u. ſ. w. geht einen bedeutenden Schritt
weiter, es läßt mehrere Stimmen ſelbſtändig (ſymphoniſch) zuſammenwirken
und ſtellt ſo ſchon eine wenn auch nicht nothwendig tiefere, ſo doch
mannigfaltiger erregte, nicht an Einem Faden fortlaufende, ſondern ver-
ſchiedene Kräfte gegen einander in Bewegung ſetzende, verſchiedene Stim-
mungsfarben miſchende Gefühlsentwicklung dar. Auch dieſe Form eignet
ſich daher ganz beſonders zu größern, ſonatenartigen Tonſtücken, in deren
drei oder vier Hauptſätzen die verſchiedenen Fäden, aus denen das Ganze
ſich zuſammenſpinnt, in die mannigfaltigſten Formen der Gegenüberſtellung
und des Zuſammenwirkens gebracht werden. Lebendig contraſtirende, hiedurch
zum Schwung des Ganzen nach Vermögen beitragende Stimmenbewegung
und Stimmenverflechtung im erſten Satze; im zweiten eine enger zuſammen-
rückende, zu klarem, weichem, tiefem Stimmungsausdruck zuſammentönende
Stimmführung, die jedoch im Verlauf auch dazu fortſchreitet, das Thema
kunſtreich auszubilden, es in verſchiedene Formen zu kleiden, deren jede ihm
eine neue bedeutende Seite abgewinnt; im dritten abermaliges Zuſammen-
rücken in geſchloſſenen Gliedern zu belebtem Chor- oder Wechſeltanz, der
im Trio zartere, lieblichere, auch etwa mit einem leichten Anflug von Weh-
muth oder Sehnſucht ſich verbindende Formen annimmt; endlich im Schlußſatz
entweder einfach abſchließende oder „concrete“, zu künſtlicherer Gegeneinan-
derführung der Stimmen fortgehende Geſammtbewegung (ſ. Anm. 1); dieß
ſind die Grundzüge, in welchen dieſe Form im Allgemeinen ſich halten
wird, nur daß die gemiſchte mehrſtimmige Compoſition durch mannigfaltige
Verwendung der Klangfarben mehr eine gemüthliche, die Compoſition für
Streichinſtrumente dagegen durch kunſtvolle Combination der Stimmen mehr
eine geiſtig anregende Wirkung erſtrebt (§. 809). Auch neigt ſich die
letztere mehr zu einer Vierzahl kürzerer, contraſtirend gebauter Sätze, um
Monotonie zu vermeiden, während die erſtere mit ihrer Klangfarbenpoly-
phonie leichter auch zu längern, weiter ausholenden, mannigfach variirenden
Sätzen ſich ausbreitet.

4. Auf lange, in’s Weite und Breite gehende Sätze iſt vor Allem
das Concert angewieſen. Denn hier handelt es ſich ganz beſonders um
ungebundene, ungehemmt austönende Gedankenentfaltung, damit beide Ele-
mente, das Einzelſpiel und die Mitwirkung des Orcheſters und der Neben-
inſtrumente, zu ihrem vollen Rechte kommen. Individuum und Geſammtheit
treten hier mit einander auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um ſich zu
zeigen und zu meſſen; ſtellt der mehrſtimmige Soloſatz meiſt noch Gefühle
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in verſöhnter Harmonie ſich wieder zuſammenfinden, ſo tritt dagegen das
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[1087/0325] 3. Das einfache oder gemiſchte mehrſtimmige Soloſtück, das Duo, Trio, Quartett, Quintett u. ſ. w. geht einen bedeutenden Schritt weiter, es läßt mehrere Stimmen ſelbſtändig (ſymphoniſch) zuſammenwirken und ſtellt ſo ſchon eine wenn auch nicht nothwendig tiefere, ſo doch mannigfaltiger erregte, nicht an Einem Faden fortlaufende, ſondern ver- ſchiedene Kräfte gegen einander in Bewegung ſetzende, verſchiedene Stim- mungsfarben miſchende Gefühlsentwicklung dar. Auch dieſe Form eignet ſich daher ganz beſonders zu größern, ſonatenartigen Tonſtücken, in deren drei oder vier Hauptſätzen die verſchiedenen Fäden, aus denen das Ganze ſich zuſammenſpinnt, in die mannigfaltigſten Formen der Gegenüberſtellung und des Zuſammenwirkens gebracht werden. Lebendig contraſtirende, hiedurch zum Schwung des Ganzen nach Vermögen beitragende Stimmenbewegung und Stimmenverflechtung im erſten Satze; im zweiten eine enger zuſammen- rückende, zu klarem, weichem, tiefem Stimmungsausdruck zuſammentönende Stimmführung, die jedoch im Verlauf auch dazu fortſchreitet, das Thema kunſtreich auszubilden, es in verſchiedene Formen zu kleiden, deren jede ihm eine neue bedeutende Seite abgewinnt; im dritten abermaliges Zuſammen- rücken in geſchloſſenen Gliedern zu belebtem Chor- oder Wechſeltanz, der im Trio zartere, lieblichere, auch etwa mit einem leichten Anflug von Weh- muth oder Sehnſucht ſich verbindende Formen annimmt; endlich im Schlußſatz entweder einfach abſchließende oder „concrete“, zu künſtlicherer Gegeneinan- derführung der Stimmen fortgehende Geſammtbewegung (ſ. Anm. 1); dieß ſind die Grundzüge, in welchen dieſe Form im Allgemeinen ſich halten wird, nur daß die gemiſchte mehrſtimmige Compoſition durch mannigfaltige Verwendung der Klangfarben mehr eine gemüthliche, die Compoſition für Streichinſtrumente dagegen durch kunſtvolle Combination der Stimmen mehr eine geiſtig anregende Wirkung erſtrebt (§. 809). Auch neigt ſich die letztere mehr zu einer Vierzahl kürzerer, contraſtirend gebauter Sätze, um Monotonie zu vermeiden, während die erſtere mit ihrer Klangfarbenpoly- phonie leichter auch zu längern, weiter ausholenden, mannigfach variirenden Sätzen ſich ausbreitet. 4. Auf lange, in’s Weite und Breite gehende Sätze iſt vor Allem das Concert angewieſen. Denn hier handelt es ſich ganz beſonders um ungebundene, ungehemmt austönende Gedankenentfaltung, damit beide Ele- mente, das Einzelſpiel und die Mitwirkung des Orcheſters und der Neben- inſtrumente, zu ihrem vollen Rechte kommen. Individuum und Geſammtheit treten hier mit einander auf den Schauplatz der Oeffentlichkeit, um ſich zu zeigen und zu meſſen; ſtellt der mehrſtimmige Soloſatz meiſt noch Gefühle dar, die im Innern der Seele auftauchen, zuſammentreffen, in Kampf gerathen, in verſöhnter Harmonie ſich wieder zuſammenfinden, ſo tritt dagegen das Concert in die Realität eines concretern Lebens heraus, es legt eine erhöhte

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1087. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/325>, abgerufen am 22.11.2024.