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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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mannigfaltigen melodischen Hebungen und Wendungen, in wechselnder har-
monischer Begleitung, sowie durch Ausweitung und nachahmende Fortbildung
zu verwandten Bewegungen sich zur Dimension einer längern Tonreihe aus-
dehnt; der Symphoniesatz baut sich so ganz organisch auf aus einem Keime,
der nur was in ihm schon enthalten ist aus sich hervortreibt in mannig-
faltigen Unterschieden der Gestaltung, der Kraft, des Umfangs, und doch
so, daß alle Sprossen nur Figurationen Einer Grundform sind, die sich in
ihnen fortwährend verästelt und verzweigt, bis der ganze Baum, groß und
umfangreich und deßungeachtet nur Vervielfältigung jenes Einen Urtypus,
vollendet dasteht. Die Construction des Symphoniesatzes erhält hiedurch
eine Einheit des Grundgedankens, einen Charakter schöpferischer Evolution,
productiver Kraft, großartiger Expansion, der gerade für diese das Seelen-
leben in großartigem Entfaltungs- und Erregungsprozeß darstellende Musik-
gattung besonders sich eignet, obwohl er beeinträchtigt wird, wenn die Aus-
führung des Grundmotivs zu hartnäckig systematisch wird und so in eine
unschöne Kleinlichkeit geräth. Verwandt mit dieser Art thematischer Verar-
beitung ist der in der Form der Nachahmung und der Fuge sich bewegende
Symphoniesatz, nur daß in letzterem Falle das Motiv, weil es aus "Thema
und Gegensatz" besteht, bereits breiter und daher jene Einfachheit des Ge-
dankens schon nicht mehr vorhanden ist. Wiederum eine andere Art ergibt
sich damit, daß ein gleichfalls nicht zu kurzes Thema nicht blos in andere
melodische und harmonische Formen ausgeweitet und übergeführt, sondern
auch zerstückt, in Motive getheilt und diese dann zu selbständigen
Figuren und Gedanken vergrößert und fortgebildet werden, eine Methode,
die sich (wie z. B. im zweiten Theil des ersten Satzes von Beethoven's
Cmoll-Symphonie) mit der erstgenannten Art, der Evolution aus einfachem
Motiv, passend verbindet, aber auch für sich bestehen kann (wie im ersten
Satze von Mozart's großer C dur-Symphonie); hier ist nicht bloße Er-
pansion, sondern auch Auseinandergehen, Auflösung des Ganzen in Glieder,
die sich schließlich selbst wieder zu Einem größern Ganzen zusammenordnen.
Eine Schwierigkeit entsteht bei all diesen Formen thematischer Verarbeitung
für den zweiten Theil. Der Anfang des zweiten Theils (der "Mittelsatz")
bildet den Höhepunct des ganzen Satzes, den Culminationspunct der Be-
wegung, und stellt dieß naturgemäß dar durch polyphone, verwickeltere
Satzbildung aus Elementen des ersten Theils, damit hiedurch eben die Be-
wegung des ersten Theils in diesen belebtern Bewegungscharakter übergeleitet
werde (S. 950, 961); ist nun aber der erste Theil bereits so construirt,
daß seine Grundelemente complicirtere Satzbildungen aus sich hervorgetrieben
haben, so sind diese eigentlich schon vorweggenommen, und es kann jeden-
falls leicht eine Einförmigkeit entstehen, wenn so im zweiten Theil wieder
dieselbe Constructionsform und damit derselbe Inhalt erscheint, wie im ersten.

mannigfaltigen melodiſchen Hebungen und Wendungen, in wechſelnder har-
moniſcher Begleitung, ſowie durch Ausweitung und nachahmende Fortbildung
zu verwandten Bewegungen ſich zur Dimenſion einer längern Tonreihe aus-
dehnt; der Symphonieſatz baut ſich ſo ganz organiſch auf aus einem Keime,
der nur was in ihm ſchon enthalten iſt aus ſich hervortreibt in mannig-
faltigen Unterſchieden der Geſtaltung, der Kraft, des Umfangs, und doch
ſo, daß alle Sproſſen nur Figurationen Einer Grundform ſind, die ſich in
ihnen fortwährend veräſtelt und verzweigt, bis der ganze Baum, groß und
umfangreich und deßungeachtet nur Vervielfältigung jenes Einen Urtypus,
vollendet daſteht. Die Conſtruction des Symphonieſatzes erhält hiedurch
eine Einheit des Grundgedankens, einen Charakter ſchöpferiſcher Evolution,
productiver Kraft, großartiger Expanſion, der gerade für dieſe das Seelen-
leben in großartigem Entfaltungs- und Erregungsprozeß darſtellende Muſik-
gattung beſonders ſich eignet, obwohl er beeinträchtigt wird, wenn die Aus-
führung des Grundmotivs zu hartnäckig ſyſtematiſch wird und ſo in eine
unſchöne Kleinlichkeit geräth. Verwandt mit dieſer Art thematiſcher Verar-
beitung iſt der in der Form der Nachahmung und der Fuge ſich bewegende
Symphonieſatz, nur daß in letzterem Falle das Motiv, weil es aus „Thema
und Gegenſatz“ beſteht, bereits breiter und daher jene Einfachheit des Ge-
dankens ſchon nicht mehr vorhanden iſt. Wiederum eine andere Art ergibt
ſich damit, daß ein gleichfalls nicht zu kurzes Thema nicht blos in andere
melodiſche und harmoniſche Formen ausgeweitet und übergeführt, ſondern
auch zerſtückt, in Motive getheilt und dieſe dann zu ſelbſtändigen
Figuren und Gedanken vergrößert und fortgebildet werden, eine Methode,
die ſich (wie z. B. im zweiten Theil des erſten Satzes von Beethoven’s
Cmoll-Symphonie) mit der erſtgenannten Art, der Evolution aus einfachem
Motiv, paſſend verbindet, aber auch für ſich beſtehen kann (wie im erſten
Satze von Mozart’s großer C dur-Symphonie); hier iſt nicht bloße Er-
panſion, ſondern auch Auseinandergehen, Auflöſung des Ganzen in Glieder,
die ſich ſchließlich ſelbſt wieder zu Einem größern Ganzen zuſammenordnen.
Eine Schwierigkeit entſteht bei all dieſen Formen thematiſcher Verarbeitung
für den zweiten Theil. Der Anfang des zweiten Theils (der „Mittelſatz“)
bildet den Höhepunct des ganzen Satzes, den Culminationspunct der Be-
wegung, und ſtellt dieß naturgemäß dar durch polyphone, verwickeltere
Satzbildung aus Elementen des erſten Theils, damit hiedurch eben die Be-
wegung des erſten Theils in dieſen belebtern Bewegungscharakter übergeleitet
werde (S. 950, 961); iſt nun aber der erſte Theil bereits ſo conſtruirt,
daß ſeine Grundelemente complicirtere Satzbildungen aus ſich hervorgetrieben
haben, ſo ſind dieſe eigentlich ſchon vorweggenommen, und es kann jeden-
falls leicht eine Einförmigkeit entſtehen, wenn ſo im zweiten Theil wieder
dieſelbe Conſtructionsform und damit derſelbe Inhalt erſcheint, wie im erſten.

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[1094/0332] mannigfaltigen melodiſchen Hebungen und Wendungen, in wechſelnder har- moniſcher Begleitung, ſowie durch Ausweitung und nachahmende Fortbildung zu verwandten Bewegungen ſich zur Dimenſion einer längern Tonreihe aus- dehnt; der Symphonieſatz baut ſich ſo ganz organiſch auf aus einem Keime, der nur was in ihm ſchon enthalten iſt aus ſich hervortreibt in mannig- faltigen Unterſchieden der Geſtaltung, der Kraft, des Umfangs, und doch ſo, daß alle Sproſſen nur Figurationen Einer Grundform ſind, die ſich in ihnen fortwährend veräſtelt und verzweigt, bis der ganze Baum, groß und umfangreich und deßungeachtet nur Vervielfältigung jenes Einen Urtypus, vollendet daſteht. Die Conſtruction des Symphonieſatzes erhält hiedurch eine Einheit des Grundgedankens, einen Charakter ſchöpferiſcher Evolution, productiver Kraft, großartiger Expanſion, der gerade für dieſe das Seelen- leben in großartigem Entfaltungs- und Erregungsprozeß darſtellende Muſik- gattung beſonders ſich eignet, obwohl er beeinträchtigt wird, wenn die Aus- führung des Grundmotivs zu hartnäckig ſyſtematiſch wird und ſo in eine unſchöne Kleinlichkeit geräth. Verwandt mit dieſer Art thematiſcher Verar- beitung iſt der in der Form der Nachahmung und der Fuge ſich bewegende Symphonieſatz, nur daß in letzterem Falle das Motiv, weil es aus „Thema und Gegenſatz“ beſteht, bereits breiter und daher jene Einfachheit des Ge- dankens ſchon nicht mehr vorhanden iſt. Wiederum eine andere Art ergibt ſich damit, daß ein gleichfalls nicht zu kurzes Thema nicht blos in andere melodiſche und harmoniſche Formen ausgeweitet und übergeführt, ſondern auch zerſtückt, in Motive getheilt und dieſe dann zu ſelbſtändigen Figuren und Gedanken vergrößert und fortgebildet werden, eine Methode, die ſich (wie z. B. im zweiten Theil des erſten Satzes von Beethoven’s Cmoll-Symphonie) mit der erſtgenannten Art, der Evolution aus einfachem Motiv, paſſend verbindet, aber auch für ſich beſtehen kann (wie im erſten Satze von Mozart’s großer C dur-Symphonie); hier iſt nicht bloße Er- panſion, ſondern auch Auseinandergehen, Auflöſung des Ganzen in Glieder, die ſich ſchließlich ſelbſt wieder zu Einem größern Ganzen zuſammenordnen. Eine Schwierigkeit entſteht bei all dieſen Formen thematiſcher Verarbeitung für den zweiten Theil. Der Anfang des zweiten Theils (der „Mittelſatz“) bildet den Höhepunct des ganzen Satzes, den Culminationspunct der Be- wegung, und ſtellt dieß naturgemäß dar durch polyphone, verwickeltere Satzbildung aus Elementen des erſten Theils, damit hiedurch eben die Be- wegung des erſten Theils in dieſen belebtern Bewegungscharakter übergeleitet werde (S. 950, 961); iſt nun aber der erſte Theil bereits ſo conſtruirt, daß ſeine Grundelemente complicirtere Satzbildungen aus ſich hervorgetrieben haben, ſo ſind dieſe eigentlich ſchon vorweggenommen, und es kann jeden- falls leicht eine Einförmigkeit entſtehen, wenn ſo im zweiten Theil wieder dieſelbe Conſtructionsform und damit derſelbe Inhalt erſcheint, wie im erſten.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1094. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/332>, abgerufen am 22.11.2024.