Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

Bild:
<< vorherige Seite

Nur mit großer, kaum überall genügender Kunst überwand Beethoven diese
Schwierigkeit im ersten Satz seiner C moll-Symphonie; es bietet sich aber
ein von Mozart im ersten Satz der schon erwähnten C dur-Symphonie mit
Glück betretener Ausweg dar; es kann dem ersten Theil ein kurzer, das
Ganze passend abschließender, seine Bewegtheit charakteristisch recapitulirender
Schlußgedanke gegeben und dann dieser zum Thema des "Mittelsatzes"
gemacht, in diesem weiter ausgeführt werden; der Symphoniesatz erhält so
zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit,
der Einheit unbeschadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den
übrigen eng zusammengehört. Aehnlich ist das Verfahren Mozart's in dem
Andante der kleinern C dur-Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten
Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuerst im Baß auftreten-
der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit
seinem Ernste schön contrastirt, allmälig aber selbst wieder in weichere Formen
sich auflöst und so dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen
Ganzen sich wieder unterordnet. Weiter können die speziellen Formen der
Construction hier nicht verfolgt werden, und es ist ja von selbst klar, daß
hier ein großer Spielraum gelassen ist, indem es in der Hauptsache nicht
auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, sondern auf ihre innere
Wahlverwandtschaft ankommt. Auch in Bezug auf die musikalische Ge-
dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem
strenger einheitlichen sein Recht, wie die episch in's Breite malende Sym-
phonie neben der einfach lyrischen und neben der in sich concentrirtern
dramatischen. -- Der "zweite Hauptgedanke" des Symphoniesatzes
(§. 790) wird auch durch die strengste thematische Verarbeitung nicht aus-
geschlossen. Namentlich im ersten Satze kann er nicht fehlen; die diesem
eigene Bewegtheit soll nicht nur in mannigfaltigerer Form sich aussprechen,
als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung
Eines Gedankens bildete, sondern sie muß schon deßwegen "zweitheilig"
auftreten, damit durch das Hinführen des ersten Hauptgedankens zu dem
zweiten, melodisch, harmonisch, rhythmisch von ihm verschiedenen Haupt-
gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort-
gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und
Farbe der Gefühlserregung in's Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der
Fall ist, steht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr
oder weniger gleichgültig gegen einander sind, sondern als ein lebendig sich
Bewegendes, in welchem ein Fortschritt ist von Ursache zu Wirkung, von
Motiv zu Resultat
, und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein
Gefühl, Eine Erregung (erster Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor-
ruft, Bild des Gefühlslebens ist, dieses unendlichen Ineinanders von
Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 71

Nur mit großer, kaum überall genügender Kunſt überwand Beethoven dieſe
Schwierigkeit im erſten Satz ſeiner C moll-Symphonie; es bietet ſich aber
ein von Mozart im erſten Satz der ſchon erwähnten C dur-Symphonie mit
Glück betretener Ausweg dar; es kann dem erſten Theil ein kurzer, das
Ganze paſſend abſchließender, ſeine Bewegtheit charakteriſtiſch recapitulirender
Schlußgedanke gegeben und dann dieſer zum Thema des „Mittelſatzes“
gemacht, in dieſem weiter ausgeführt werden; der Symphonieſatz erhält ſo
zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit,
der Einheit unbeſchadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den
übrigen eng zuſammengehört. Aehnlich iſt das Verfahren Mozart’s in dem
Andante der kleinern C dur-Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten
Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuerſt im Baß auftreten-
der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit
ſeinem Ernſte ſchön contraſtirt, allmälig aber ſelbſt wieder in weichere Formen
ſich auflöst und ſo dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen
Ganzen ſich wieder unterordnet. Weiter können die ſpeziellen Formen der
Conſtruction hier nicht verfolgt werden, und es iſt ja von ſelbſt klar, daß
hier ein großer Spielraum gelaſſen iſt, indem es in der Hauptſache nicht
auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, ſondern auf ihre innere
Wahlverwandtſchaft ankommt. Auch in Bezug auf die muſikaliſche Ge-
dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem
ſtrenger einheitlichen ſein Recht, wie die epiſch in’s Breite malende Sym-
phonie neben der einfach lyriſchen und neben der in ſich concentrirtern
dramatiſchen. — Der „zweite Hauptgedanke“ des Symphonieſatzes
(§. 790) wird auch durch die ſtrengſte thematiſche Verarbeitung nicht aus-
geſchloſſen. Namentlich im erſten Satze kann er nicht fehlen; die dieſem
eigene Bewegtheit ſoll nicht nur in mannigfaltigerer Form ſich ausſprechen,
als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung
Eines Gedankens bildete, ſondern ſie muß ſchon deßwegen „zweitheilig“
auftreten, damit durch das Hinführen des erſten Hauptgedankens zu dem
zweiten, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch von ihm verſchiedenen Haupt-
gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort-
gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und
Farbe der Gefühlserregung in’s Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der
Fall iſt, ſteht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr
oder weniger gleichgültig gegen einander ſind, ſondern als ein lebendig ſich
Bewegendes, in welchem ein Fortſchritt iſt von Urſache zu Wirkung, von
Motiv zu Reſultat
, und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein
Gefühl, Eine Erregung (erſter Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor-
ruft, Bild des Gefühlslebens iſt, dieſes unendlichen Ineinanders von
Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer

Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 71
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0333" n="1095"/>
Nur mit großer, kaum überall genügender Kun&#x017F;t überwand Beethoven die&#x017F;e<lb/>
Schwierigkeit im er&#x017F;ten Satz &#x017F;einer <hi rendition="#aq">C moll-</hi>Symphonie; es bietet &#x017F;ich aber<lb/>
ein von Mozart im er&#x017F;ten Satz der &#x017F;chon erwähnten <hi rendition="#aq">C dur-</hi>Symphonie mit<lb/>
Glück betretener Ausweg dar; es kann dem er&#x017F;ten Theil ein kurzer, das<lb/>
Ganze pa&#x017F;&#x017F;end ab&#x017F;chließender, &#x017F;eine Bewegtheit charakteri&#x017F;ti&#x017F;ch recapitulirender<lb/>
Schlußgedanke gegeben und dann die&#x017F;er zum Thema des &#x201E;Mittel&#x017F;atzes&#x201C;<lb/>
gemacht, in die&#x017F;em weiter ausgeführt werden; der Symphonie&#x017F;atz erhält &#x017F;o<lb/>
zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit,<lb/>
der Einheit unbe&#x017F;chadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den<lb/>
übrigen eng zu&#x017F;ammengehört. Aehnlich i&#x017F;t das Verfahren Mozart&#x2019;s in dem<lb/>
Andante der kleinern <hi rendition="#aq">C dur-</hi>Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten<lb/>
Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuer&#x017F;t im Baß auftreten-<lb/>
der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit<lb/>
&#x017F;einem Ern&#x017F;te &#x017F;chön contra&#x017F;tirt, allmälig aber &#x017F;elb&#x017F;t wieder in weichere Formen<lb/>
&#x017F;ich auflöst und &#x017F;o dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen<lb/>
Ganzen &#x017F;ich wieder unterordnet. Weiter können die &#x017F;peziellen Formen der<lb/>
Con&#x017F;truction hier nicht verfolgt werden, und es i&#x017F;t ja von &#x017F;elb&#x017F;t klar, daß<lb/>
hier ein großer Spielraum gela&#x017F;&#x017F;en i&#x017F;t, indem es in der Haupt&#x017F;ache nicht<lb/>
auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, &#x017F;ondern auf ihre innere<lb/>
Wahlverwandt&#x017F;chaft ankommt. Auch in Bezug auf die mu&#x017F;ikali&#x017F;che Ge-<lb/>
dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem<lb/>
&#x017F;trenger einheitlichen &#x017F;ein Recht, wie die epi&#x017F;ch in&#x2019;s Breite malende Sym-<lb/>
phonie neben der einfach lyri&#x017F;chen und neben der in &#x017F;ich concentrirtern<lb/>
dramati&#x017F;chen. &#x2014; <hi rendition="#g">Der &#x201E;zweite Hauptgedanke&#x201C;</hi> des Symphonie&#x017F;atzes<lb/>
(§. 790) wird auch durch die &#x017F;treng&#x017F;te themati&#x017F;che Verarbeitung nicht aus-<lb/>
ge&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;en. Namentlich im er&#x017F;ten Satze kann er nicht fehlen; die die&#x017F;em<lb/>
eigene Bewegtheit &#x017F;oll nicht nur in mannigfaltigerer Form &#x017F;ich aus&#x017F;prechen,<lb/>
als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung<lb/>
Eines Gedankens bildete, &#x017F;ondern &#x017F;ie muß &#x017F;chon deßwegen &#x201E;zweitheilig&#x201C;<lb/>
auftreten, damit durch das Hinführen des er&#x017F;ten Hauptgedankens zu dem<lb/>
zweiten, melodi&#x017F;ch, harmoni&#x017F;ch, rhythmi&#x017F;ch von ihm ver&#x017F;chiedenen Haupt-<lb/>
gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort-<lb/>
gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und<lb/>
Farbe der Gefühlserregung in&#x2019;s Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der<lb/>
Fall i&#x017F;t, &#x017F;teht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr<lb/>
oder weniger gleichgültig gegen einander &#x017F;ind, &#x017F;ondern als ein lebendig &#x017F;ich<lb/>
Bewegendes, in welchem ein Fort&#x017F;chritt i&#x017F;t von Ur&#x017F;ache zu Wirkung, <hi rendition="#g">von<lb/>
Motiv zu Re&#x017F;ultat</hi>, und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein<lb/>
Gefühl, Eine Erregung (er&#x017F;ter Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor-<lb/>
ruft, Bild des Gefühlslebens i&#x017F;t, die&#x017F;es unendlichen Ineinanders von<lb/>
Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer</hi><lb/>
                <fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Vi&#x017F;cher&#x2019;s</hi> Ae&#x017F;thetik. 4. Band. 71</fw><lb/>
              </p>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[1095/0333] Nur mit großer, kaum überall genügender Kunſt überwand Beethoven dieſe Schwierigkeit im erſten Satz ſeiner C moll-Symphonie; es bietet ſich aber ein von Mozart im erſten Satz der ſchon erwähnten C dur-Symphonie mit Glück betretener Ausweg dar; es kann dem erſten Theil ein kurzer, das Ganze paſſend abſchließender, ſeine Bewegtheit charakteriſtiſch recapitulirender Schlußgedanke gegeben und dann dieſer zum Thema des „Mittelſatzes“ gemacht, in dieſem weiter ausgeführt werden; der Symphonieſatz erhält ſo zwar eine Trias von Hauptgedanken, aber hiemit auch mehr Mannigfaltigkeit, der Einheit unbeſchadet, wenn nur der dritte Gedanke innerlich mit den übrigen eng zuſammengehört. Aehnlich iſt das Verfahren Mozart’s in dem Andante der kleinern C dur-Symphonie; hier kommt am Anfang des zweiten Theils ein neuer Nebengedanke hinzu, ein kräftiger, zuerſt im Baß auftreten- der Tongang, der anfänglich zu der Weichheit des Hauptgedankens mit ſeinem Ernſte ſchön contraſtirt, allmälig aber ſelbſt wieder in weichere Formen ſich auflöst und ſo dem Grundcharakter des durch ihn belebter gewordenen Ganzen ſich wieder unterordnet. Weiter können die ſpeziellen Formen der Conſtruction hier nicht verfolgt werden, und es iſt ja von ſelbſt klar, daß hier ein großer Spielraum gelaſſen iſt, indem es in der Hauptſache nicht auf Identität, Gleichlaut der Theile des Ganzen, ſondern auf ihre innere Wahlverwandtſchaft ankommt. Auch in Bezug auf die muſikaliſche Ge- dankenfolge hat das aggregirende, anreihende Prinzip (S. 964) neben dem ſtrenger einheitlichen ſein Recht, wie die epiſch in’s Breite malende Sym- phonie neben der einfach lyriſchen und neben der in ſich concentrirtern dramatiſchen. — Der „zweite Hauptgedanke“ des Symphonieſatzes (§. 790) wird auch durch die ſtrengſte thematiſche Verarbeitung nicht aus- geſchloſſen. Namentlich im erſten Satze kann er nicht fehlen; die dieſem eigene Bewegtheit ſoll nicht nur in mannigfaltigerer Form ſich ausſprechen, als es der Fall wäre, wenn der ganze Satz nur die einförmige Entwicklung Eines Gedankens bildete, ſondern ſie muß ſchon deßwegen „zweitheilig“ auftreten, damit durch das Hinführen des erſten Hauptgedankens zu dem zweiten, melodiſch, harmoniſch, rhythmiſch von ihm verſchiedenen Haupt- gedanken ein höherer Rhythmus, eine wirkliche Voranbewegung, ein Fort- gang zu neuer, durch das Vorhergehende hervorgerufener Richtung und Farbe der Gefühlserregung in’s Ganze hereinkomme; nur wenn dieß der Fall iſt, ſteht das Ganze nicht als Aggregat von Gedanken da, die mehr oder weniger gleichgültig gegen einander ſind, ſondern als ein lebendig ſich Bewegendes, in welchem ein Fortſchritt iſt von Urſache zu Wirkung, von Motiv zu Reſultat, und welches eben hiedurch, daß in ihm Ein Gefühl, Eine Erregung (erſter Hauptgedanke) ein zweites, drittes hervor- ruft, Bild des Gefühlslebens iſt, dieſes unendlichen Ineinanders von Empfindungen, Erregungen, deren jede wieder Anlaß und Motiv neuer Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 71

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/333
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1095. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/333>, abgerufen am 21.11.2024.