indem die Segebenheit oder Handlung ähnlich wie im historischen Liede gesungen, in der Form belebter musikalischer Erzählung eines das Gefühl ansprechenden und selbst eine Reihenfolge von Gefühlen und Stimmungen darstellenden Ge- schehens vorgetragen wird, epische Cantate. Es ist 3) in seiner epischly- rischen Haltung zugleich dramatisch, indem es die Einzel- und Gesammtpersön- lichkeiten, auf die das Ganze Bezug hat und deren Zustände und Thätigkeiten, Stimmungen und Empfindungen den Inhalt und Verlauf des Ganzen selbst bilden, in der Form selbständiger, durch eigene Stimmen und Stimmenganze repräsentirter Individuen neben und nach einander auftreten und ihre Gefühle selbst aussprechen läßt, so daß der Gefühlsgehalt des Ganzen in allmäliger Entfaltung dem Subject in völlig objectiver Form gegenübergestellt wird, epischdramatisches Oratorium. Streng zu sondern sind diese drei Haupt- formen nicht, da eine ausführlichere Hereinnahme epischer Elemente in das lyrische, lyrischer in das epische und epischdramatische Tonwerk unter Umständen Jenes zur Belebung der Darstellung, Dieses zur Innigkeit des Stimmungsaus- drucks wesentlich beitragen kann. Weitere Unterschiede ergeben sich aus dem Inhalt, der religiös oder allgemeinerer Art ist, sowie daraus, daß er entweder dem Gebiet idealer Anschauung oder realer Objectivität angehört, welche letztere dann wiederum entweder religiös oder historisch oder Lebensbild, Sittenbild (§. 702 ff.) ist.
Der §. sucht die schwierige, vielbesprochene Frage über Begriff und Eintheilung des Oratoriums und der verwandten Zweige der Musik zu erledigen. Die Sache ist im Grund einfach. Das Oratorium beginnt da, wo epische Musik in größerem Maaßstabe (als z. B. in Ballade) in die lyrische herein-, zu ihr herantritt. Innerhalb religiöser Musik bezeichnet namentlich das Stabat mater den Fortgang von lyrischer zu epischlyrischer Musik; in der ersten Strophe bis pertransivit gladius ist oratorienmäßige Epik, aber sie wird nicht fortgesetzt, sondern geht zur Lyrik theilnehmender Klage und herzinniger Bitte zurück. Wirkliches, aber lyrisches Orato- rium sind Haydn's "Worte des Erlösers am Kreuze"; die Worte treten in objectiver Weise, theils von Einzelstimmen, theils vom Chor vor- getragen, dem anschauenden Subject, der Gemeinde gegenüber, deren an die "Worte" sich knüpfende Empfindungen aber dann allerdings den Haupt- inhalt der musikalischen Composition ausmachen. Ebendeßwegen weil die- ses Lyrische hier das Hauptmoment bildet, ist auf rein epische oder gar dramatische Form bei der Composition der Worte selbst nicht Bedacht ge- nommen, die Mehrzahl derselben wird einfach, ohne alles erzählende Beiwerk recitirt, und zwar in Choralform, nicht in Recitativ- oder Liedform (wie das Gesetz der Dramatik es fordern würde), weil es sich eben nur darum handelt, sie der Gemeinde gegenüberzustellen in einer der Gewichtigkeit, die
indem die Segebenheit oder Handlung ähnlich wie im hiſtoriſchen Liede geſungen, in der Form belebter muſikaliſcher Erzählung eines das Gefühl anſprechenden und ſelbſt eine Reihenfolge von Gefühlen und Stimmungen darſtellenden Ge- ſchehens vorgetragen wird, epiſche Cantate. Es iſt 3) in ſeiner epiſchly- riſchen Haltung zugleich dramatiſch, indem es die Einzel- und Geſammtperſön- lichkeiten, auf die das Ganze Bezug hat und deren Zuſtände und Thätigkeiten, Stimmungen und Empfindungen den Inhalt und Verlauf des Ganzen ſelbſt bilden, in der Form ſelbſtändiger, durch eigene Stimmen und Stimmenganze repräſentirter Individuen neben und nach einander auftreten und ihre Gefühle ſelbſt ausſprechen läßt, ſo daß der Gefühlsgehalt des Ganzen in allmäliger Entfaltung dem Subject in völlig objectiver Form gegenübergeſtellt wird, epiſchdramatiſches Oratorium. Streng zu ſondern ſind dieſe drei Haupt- formen nicht, da eine ausführlichere Hereinnahme epiſcher Elemente in das lyriſche, lyriſcher in das epiſche und epiſchdramatiſche Tonwerk unter Umſtänden Jenes zur Belebung der Darſtellung, Dieſes zur Innigkeit des Stimmungsaus- drucks weſentlich beitragen kann. Weitere Unterſchiede ergeben ſich aus dem Inhalt, der religiös oder allgemeinerer Art iſt, ſowie daraus, daß er entweder dem Gebiet idealer Anſchauung oder realer Objectivität angehört, welche letztere dann wiederum entweder religiös oder hiſtoriſch oder Lebensbild, Sittenbild (§. 702 ff.) iſt.
Der §. ſucht die ſchwierige, vielbeſprochene Frage über Begriff und Eintheilung des Oratoriums und der verwandten Zweige der Muſik zu erledigen. Die Sache iſt im Grund einfach. Das Oratorium beginnt da, wo epiſche Muſik in größerem Maaßſtabe (als z. B. in Ballade) in die lyriſche herein-, zu ihr herantritt. Innerhalb religiöſer Muſik bezeichnet namentlich das Stabat mater den Fortgang von lyriſcher zu epiſchlyriſcher Muſik; in der erſten Strophe bis pertransivit gladius iſt oratorienmäßige Epik, aber ſie wird nicht fortgeſetzt, ſondern geht zur Lyrik theilnehmender Klage und herzinniger Bitte zurück. Wirkliches, aber lyriſches Orato- rium ſind Haydn’s „Worte des Erlöſers am Kreuze“; die Worte treten in objectiver Weiſe, theils von Einzelſtimmen, theils vom Chor vor- getragen, dem anſchauenden Subject, der Gemeinde gegenüber, deren an die „Worte“ ſich knüpfende Empfindungen aber dann allerdings den Haupt- inhalt der muſikaliſchen Compoſition ausmachen. Ebendeßwegen weil die- ſes Lyriſche hier das Hauptmoment bildet, iſt auf rein epiſche oder gar dramatiſche Form bei der Compoſition der Worte ſelbſt nicht Bedacht ge- nommen, die Mehrzahl derſelben wird einfach, ohne alles erzählende Beiwerk recitirt, und zwar in Choralform, nicht in Recitativ- oder Liedform (wie das Geſetz der Dramatik es fordern würde), weil es ſich eben nur darum handelt, ſie der Gemeinde gegenüberzuſtellen in einer der Gewichtigkeit, die
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[1104/0342]
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und ſelbſt eine Reihenfolge von Gefühlen und Stimmungen darſtellenden Ge-
ſchehens vorgetragen wird, epiſche Cantate. Es iſt 3) in ſeiner epiſchly-
riſchen Haltung zugleich dramatiſch, indem es die Einzel- und Geſammtperſön-
lichkeiten, auf die das Ganze Bezug hat und deren Zuſtände und Thätigkeiten,
Stimmungen und Empfindungen den Inhalt und Verlauf des Ganzen ſelbſt
bilden, in der Form ſelbſtändiger, durch eigene Stimmen und Stimmenganze
repräſentirter Individuen neben und nach einander auftreten und ihre Gefühle
ſelbſt ausſprechen läßt, ſo daß der Gefühlsgehalt des Ganzen in allmäliger
Entfaltung dem Subject in völlig objectiver Form gegenübergeſtellt wird,
epiſchdramatiſches Oratorium. Streng zu ſondern ſind dieſe drei Haupt-
formen nicht, da eine ausführlichere Hereinnahme epiſcher Elemente in das
lyriſche, lyriſcher in das epiſche und epiſchdramatiſche Tonwerk unter Umſtänden
Jenes zur Belebung der Darſtellung, Dieſes zur Innigkeit des Stimmungsaus-
drucks weſentlich beitragen kann. Weitere Unterſchiede ergeben ſich aus dem
Inhalt, der religiös oder allgemeinerer Art iſt, ſowie daraus, daß er
entweder dem Gebiet idealer Anſchauung oder realer Objectivität
angehört, welche letztere dann wiederum entweder religiös oder hiſtoriſch
oder Lebensbild, Sittenbild (§. 702 ff.) iſt.
Der §. ſucht die ſchwierige, vielbeſprochene Frage über Begriff und
Eintheilung des Oratoriums und der verwandten Zweige der Muſik zu
erledigen. Die Sache iſt im Grund einfach. Das Oratorium beginnt da,
wo epiſche Muſik in größerem Maaßſtabe (als z. B. in Ballade) in die
lyriſche herein-, zu ihr herantritt. Innerhalb religiöſer Muſik bezeichnet
namentlich das Stabat mater den Fortgang von lyriſcher zu epiſchlyriſcher
Muſik; in der erſten Strophe bis pertransivit gladius iſt oratorienmäßige
Epik, aber ſie wird nicht fortgeſetzt, ſondern geht zur Lyrik theilnehmender
Klage und herzinniger Bitte zurück. Wirkliches, aber lyriſches Orato-
rium ſind Haydn’s „Worte des Erlöſers am Kreuze“; die Worte
treten in objectiver Weiſe, theils von Einzelſtimmen, theils vom Chor vor-
getragen, dem anſchauenden Subject, der Gemeinde gegenüber, deren an
die „Worte“ ſich knüpfende Empfindungen aber dann allerdings den Haupt-
inhalt der muſikaliſchen Compoſition ausmachen. Ebendeßwegen weil die-
ſes Lyriſche hier das Hauptmoment bildet, iſt auf rein epiſche oder gar
dramatiſche Form bei der Compoſition der Worte ſelbſt nicht Bedacht ge-
nommen, die Mehrzahl derſelben wird einfach, ohne alles erzählende Beiwerk
recitirt, und zwar in Choralform, nicht in Recitativ- oder Liedform (wie
das Geſetz der Dramatik es fordern würde), weil es ſich eben nur darum
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1104. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/342>, abgerufen am 22.11.2024.
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