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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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sowohl in dem betrachtenden Subject als in den an ihnen betheiligten
Personen die von dem Tonwerk musikalisch objectivirten Empfindungen sich
knüpfen. Beachtenswerth ist, wie in der "Schöpfung" ein Fortgang vom
Epischlyrischen zum Dramatischen stattfindet. In den beiden ersten Theilen
wird das Schöpfungswerk von einzelnen Engeln und von Chören gesungen,
welche zugleich Engelchöre repräsentiren; hier also herrscht, indem die Hand-
lung von zuschauenden Personen, die außerhalb derselben stehen, vorgetragen
wird, die Weise der epischen Cantate, allerdings mit dem Unterschiede, daß
diese Personen nicht abstracte Personen (Erzähler), sondern zugleich selbst
wenigstens innerlich an der Handlung sich betheiligende, sie mitfühlende
und sie daher auch (in den Chören) mit Lobgesängen verherrlichende Indi-
viduen sind; vollständig aber beginnt die dramatische Form erst im dritten
Theile mit dem ersten Menschenpaare, das hier auf den Schauplatz tritt
und die Empfindungen ausspricht, in die es sich durch seinen Eintritt in
die göttliche Welt versetzt findet. Der Unterschied der Behandlung war
nothwendig durch die Natur der Sache; die Schöpfung selbst konnte nicht
dramatisch dargestellt werden; ebensowenig aber wäre es passend gewesen,
im dritten Theil die epischrecitirende Form beizubehalten, es mußte vielmehr
hier zu der lebendigern dramatischen fortgegangen werden, wieder ein Beweis,
wie auf dem Gebiete des Oratoriums keine strenge Sonderung der Behand-
lungsarten vorgeschrieben werden kann.

Gesetz ist für das Oratorium, daß die Musik, auch wo der Inhalt
religiös erhaben ist, musikalisch schön, d. h. directer Gefühlsausdruck,
ebendarum aber in den spezifisch dramatischen, affectvollen Partien auch
vollständig dramatisch bewegt sei. Die Musik wirkt hier nur durch sich
selbst, sie allein muß den Text veranschaulichen und beleben, sie muß also
ein volles und schlechthin klares und charakteristisches Heraustreten der
Gefühle und Erregungen zu ihrem Einen Zwecke machen. Nirgends ist
daher vor Allem Melodie und bei gewichtigern, bewegtern Partien wirksame
Harmonik und Rhythmik so unerläßlich wie hier; die rein lyrische Musik
kann einfacher verfahren, weil sie weniger in der Charakteristik zu leisten
hat, auf die im Oratorium Alles ankommt, weil es bestimmte, an eine
concrete Anschauung sich anschließende, aus bestimmten Ereignissen, Hand-
lungen, Zuständen sich entwickelnde Gefühle ganz allein in voller Anschau-
lichkeit zu malen hat. Eine Hauptstelle nehmen ebendeßwegen auch die
Chöre ein, sowohl die lyrischen als die dramatischen; sie sind im Oratorium
überall der Gipfel- und Schlußpunct, weil in ihnen sowohl die Bewegtheit
der Handlung als besonders der Reflex der Ereignisse und Actionen im
Gefühle der betheiligten Personen sowie im subjectiven Bewußtsein seinen
umfassendsten, kräftigsten, unumwundensten, vollsten, erhabensten Ausdruck
erhält. Richtige Vertheilung der Stimmen, passende Folge der

ſowohl in dem betrachtenden Subject als in den an ihnen betheiligten
Perſonen die von dem Tonwerk muſikaliſch objectivirten Empfindungen ſich
knüpfen. Beachtenswerth iſt, wie in der „Schöpfung“ ein Fortgang vom
Epiſchlyriſchen zum Dramatiſchen ſtattfindet. In den beiden erſten Theilen
wird das Schöpfungswerk von einzelnen Engeln und von Chören geſungen,
welche zugleich Engelchöre repräſentiren; hier alſo herrſcht, indem die Hand-
lung von zuſchauenden Perſonen, die außerhalb derſelben ſtehen, vorgetragen
wird, die Weiſe der epiſchen Cantate, allerdings mit dem Unterſchiede, daß
dieſe Perſonen nicht abſtracte Perſonen (Erzähler), ſondern zugleich ſelbſt
wenigſtens innerlich an der Handlung ſich betheiligende, ſie mitfühlende
und ſie daher auch (in den Chören) mit Lobgeſängen verherrlichende Indi-
viduen ſind; vollſtändig aber beginnt die dramatiſche Form erſt im dritten
Theile mit dem erſten Menſchenpaare, das hier auf den Schauplatz tritt
und die Empfindungen ausſpricht, in die es ſich durch ſeinen Eintritt in
die göttliche Welt verſetzt findet. Der Unterſchied der Behandlung war
nothwendig durch die Natur der Sache; die Schöpfung ſelbſt konnte nicht
dramatiſch dargeſtellt werden; ebenſowenig aber wäre es paſſend geweſen,
im dritten Theil die epiſchrecitirende Form beizubehalten, es mußte vielmehr
hier zu der lebendigern dramatiſchen fortgegangen werden, wieder ein Beweis,
wie auf dem Gebiete des Oratoriums keine ſtrenge Sonderung der Behand-
lungsarten vorgeſchrieben werden kann.

Geſetz iſt für das Oratorium, daß die Muſik, auch wo der Inhalt
religiös erhaben iſt, muſikaliſch ſchön, d. h. directer Gefühlsausdruck,
ebendarum aber in den ſpezifiſch dramatiſchen, affectvollen Partien auch
vollſtändig dramatiſch bewegt ſei. Die Muſik wirkt hier nur durch ſich
ſelbſt, ſie allein muß den Text veranſchaulichen und beleben, ſie muß alſo
ein volles und ſchlechthin klares und charakteriſtiſches Heraustreten der
Gefühle und Erregungen zu ihrem Einen Zwecke machen. Nirgends iſt
daher vor Allem Melodie und bei gewichtigern, bewegtern Partien wirkſame
Harmonik und Rhythmik ſo unerläßlich wie hier; die rein lyriſche Muſik
kann einfacher verfahren, weil ſie weniger in der Charakteriſtik zu leiſten
hat, auf die im Oratorium Alles ankommt, weil es beſtimmte, an eine
concrete Anſchauung ſich anſchließende, aus beſtimmten Ereigniſſen, Hand-
lungen, Zuſtänden ſich entwickelnde Gefühle ganz allein in voller Anſchau-
lichkeit zu malen hat. Eine Hauptſtelle nehmen ebendeßwegen auch die
Chöre ein, ſowohl die lyriſchen als die dramatiſchen; ſie ſind im Oratorium
überall der Gipfel- und Schlußpunct, weil in ihnen ſowohl die Bewegtheit
der Handlung als beſonders der Reflex der Ereigniſſe und Actionen im
Gefühle der betheiligten Perſonen ſowie im ſubjectiven Bewußtſein ſeinen
umfaſſendſten, kräftigſten, unumwundenſten, vollſten, erhabenſten Ausdruck
erhält. Richtige Vertheilung der Stimmen, paſſende Folge der

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[1108/0346] ſowohl in dem betrachtenden Subject als in den an ihnen betheiligten Perſonen die von dem Tonwerk muſikaliſch objectivirten Empfindungen ſich knüpfen. Beachtenswerth iſt, wie in der „Schöpfung“ ein Fortgang vom Epiſchlyriſchen zum Dramatiſchen ſtattfindet. In den beiden erſten Theilen wird das Schöpfungswerk von einzelnen Engeln und von Chören geſungen, welche zugleich Engelchöre repräſentiren; hier alſo herrſcht, indem die Hand- lung von zuſchauenden Perſonen, die außerhalb derſelben ſtehen, vorgetragen wird, die Weiſe der epiſchen Cantate, allerdings mit dem Unterſchiede, daß dieſe Perſonen nicht abſtracte Perſonen (Erzähler), ſondern zugleich ſelbſt wenigſtens innerlich an der Handlung ſich betheiligende, ſie mitfühlende und ſie daher auch (in den Chören) mit Lobgeſängen verherrlichende Indi- viduen ſind; vollſtändig aber beginnt die dramatiſche Form erſt im dritten Theile mit dem erſten Menſchenpaare, das hier auf den Schauplatz tritt und die Empfindungen ausſpricht, in die es ſich durch ſeinen Eintritt in die göttliche Welt verſetzt findet. Der Unterſchied der Behandlung war nothwendig durch die Natur der Sache; die Schöpfung ſelbſt konnte nicht dramatiſch dargeſtellt werden; ebenſowenig aber wäre es paſſend geweſen, im dritten Theil die epiſchrecitirende Form beizubehalten, es mußte vielmehr hier zu der lebendigern dramatiſchen fortgegangen werden, wieder ein Beweis, wie auf dem Gebiete des Oratoriums keine ſtrenge Sonderung der Behand- lungsarten vorgeſchrieben werden kann. Geſetz iſt für das Oratorium, daß die Muſik, auch wo der Inhalt religiös erhaben iſt, muſikaliſch ſchön, d. h. directer Gefühlsausdruck, ebendarum aber in den ſpezifiſch dramatiſchen, affectvollen Partien auch vollſtändig dramatiſch bewegt ſei. Die Muſik wirkt hier nur durch ſich ſelbſt, ſie allein muß den Text veranſchaulichen und beleben, ſie muß alſo ein volles und ſchlechthin klares und charakteriſtiſches Heraustreten der Gefühle und Erregungen zu ihrem Einen Zwecke machen. Nirgends iſt daher vor Allem Melodie und bei gewichtigern, bewegtern Partien wirkſame Harmonik und Rhythmik ſo unerläßlich wie hier; die rein lyriſche Muſik kann einfacher verfahren, weil ſie weniger in der Charakteriſtik zu leiſten hat, auf die im Oratorium Alles ankommt, weil es beſtimmte, an eine concrete Anſchauung ſich anſchließende, aus beſtimmten Ereigniſſen, Hand- lungen, Zuſtänden ſich entwickelnde Gefühle ganz allein in voller Anſchau- lichkeit zu malen hat. Eine Hauptſtelle nehmen ebendeßwegen auch die Chöre ein, ſowohl die lyriſchen als die dramatiſchen; ſie ſind im Oratorium überall der Gipfel- und Schlußpunct, weil in ihnen ſowohl die Bewegtheit der Handlung als beſonders der Reflex der Ereigniſſe und Actionen im Gefühle der betheiligten Perſonen ſowie im ſubjectiven Bewußtſein ſeinen umfaſſendſten, kräftigſten, unumwundenſten, vollſten, erhabenſten Ausdruck erhält. Richtige Vertheilung der Stimmen, paſſende Folge der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/346>, abgerufen am 22.11.2024.