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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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hat mit Recht dergleichen nicht in seinen epischen Oratorien, die eben auch
darum so ganz aus Einem Guß und von so ungetheilt kräftiger Wirkung sind).

Die weitere Gliederung, religiöses und weltliches, ideales oder real-
episches Oratorium, ergibt sich von selbst. Das ideale Oratorium,
wie Spohr's letzte Dinge, das nicht eine Geschichte, sondern eine in episch-
dramatischer Form sich darlegende ideale Anschauung zu seinem Inhalte hat,
wird am ehesten auf dem Boden der Religion sich bilden, jedoch stets
beschränkte Bedeutung haben, weil es der concreten Bestimmtheit, wie dieser
Musikzweig sie fordert, zu sehr entbehrt und daher auch der religiösen Cantate
noch zu nahe bleibt. Das realepische Oratorium kann neben den
religiösen auch ethische, heroische, patriotische, weltgeschichtliche, sowie Stoffe
aus der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens wählen, Alles mit gleich
guter Wirkung, obwohl die Aufgabe immer sein wird, auch in nicht direct
religiösen Oratorien ein religiöses und ethisches Grundgefühl
durchklingen zu lassen, um dem Ganzen die höhere Weihe tiefern Empfin-
dungsgehalts und innigerer Ergriffenheit zu geben, die es nicht so entbehren
kann, wie die mehr auf Einzelcharakteristik und drastische Wirkung ange-
wiesene Oper. Das Oratorium läßt seine Anschauungen, Begebenheiten,
Handlungen und Personen noch nicht scenisch zu voller empirischer Wirk-
lichkeit heraustreten, es kann ebendarum auch weder zu speziellerer Charak-
terentwicklung, die erst bei concretem Verlauf einer in's Breite sich exponi-
renden Handlung anschaulich wird, noch zu einer solchen reichern Entfaltung
der Handlung selbst fortgehen, es erzählt die Handlung blos und erzählt
sie nur in ihren Hauptmomenten, es läßt die activen Personen nicht wirk-
lich handeln, sondern es läßt theils nur Andere ihre Handlungen und den
Eindruck derselben auf sich berichten, theils sie selbst blos die Hauptstim-
mungen vortragen, in denen sie handeln oder in die sie durch den Gang
der Ereignisse versetzt werden, es ist also überall auf das Moment des Ge-
fühles als auf die Hauptsache hingewiesen, ein Oratorium, in welchem dieses
nicht zu voller Entwicklung käme und nicht den Schwerpunkt des Ganzen
ausmachte, wäre etwas so Trockenes und Unlebendiges, daß es nicht ange-
hört werden könnte, und darum muß es auch einen tiefern, innigern d. h.
religiösethischen Gefühlsinhalt haben, in welchem zugleich die in der Hand-
lung auftretenden Einzelgefühle ihre Zusammenfassung zu höherer Einheit
erhalten. Die schöne Vereinigung des Religiösen mit Stoffen, die dem Gebiet
der unmittelbaren Wirklichkeit entnommen sind, in Haydn's Schöpfung
und Jahreszeiten
ist bekannt; diese Werke sind aber zugleich, auch hievon
abgesehen, Hauptbeispiele für die Oratorien, welche der §. als Lebens- oder
Sittenbilder bezeichnet. Sie sind nicht mehr eigentliche Geschichte oder
Handlung, aber sie sind, wie das Sittenbild überhaupt (§. 702), doch
epischer Natur, Schilderungen von Begebenheiten und Zuständen, an welche

hat mit Recht dergleichen nicht in ſeinen epiſchen Oratorien, die eben auch
darum ſo ganz aus Einem Guß und von ſo ungetheilt kräftiger Wirkung ſind).

Die weitere Gliederung, religiöſes und weltliches, ideales oder real-
epiſches Oratorium, ergibt ſich von ſelbſt. Das ideale Oratorium,
wie Spohr’s letzte Dinge, das nicht eine Geſchichte, ſondern eine in epiſch-
dramatiſcher Form ſich darlegende ideale Anſchauung zu ſeinem Inhalte hat,
wird am eheſten auf dem Boden der Religion ſich bilden, jedoch ſtets
beſchränkte Bedeutung haben, weil es der concreten Beſtimmtheit, wie dieſer
Muſikzweig ſie fordert, zu ſehr entbehrt und daher auch der religiöſen Cantate
noch zu nahe bleibt. Das realepiſche Oratorium kann neben den
religiöſen auch ethiſche, heroiſche, patriotiſche, weltgeſchichtliche, ſowie Stoffe
aus der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens wählen, Alles mit gleich
guter Wirkung, obwohl die Aufgabe immer ſein wird, auch in nicht direct
religiöſen Oratorien ein religiöſes und ethiſches Grundgefühl
durchklingen zu laſſen, um dem Ganzen die höhere Weihe tiefern Empfin-
dungsgehalts und innigerer Ergriffenheit zu geben, die es nicht ſo entbehren
kann, wie die mehr auf Einzelcharakteriſtik und draſtiſche Wirkung ange-
wieſene Oper. Das Oratorium läßt ſeine Anſchauungen, Begebenheiten,
Handlungen und Perſonen noch nicht ſceniſch zu voller empiriſcher Wirk-
lichkeit heraustreten, es kann ebendarum auch weder zu ſpeziellerer Charak-
terentwicklung, die erſt bei concretem Verlauf einer in’s Breite ſich exponi-
renden Handlung anſchaulich wird, noch zu einer ſolchen reichern Entfaltung
der Handlung ſelbſt fortgehen, es erzählt die Handlung blos und erzählt
ſie nur in ihren Hauptmomenten, es läßt die activen Perſonen nicht wirk-
lich handeln, ſondern es läßt theils nur Andere ihre Handlungen und den
Eindruck derſelben auf ſich berichten, theils ſie ſelbſt blos die Hauptſtim-
mungen vortragen, in denen ſie handeln oder in die ſie durch den Gang
der Ereigniſſe verſetzt werden, es iſt alſo überall auf das Moment des Ge-
fühles als auf die Hauptſache hingewieſen, ein Oratorium, in welchem dieſes
nicht zu voller Entwicklung käme und nicht den Schwerpunkt des Ganzen
ausmachte, wäre etwas ſo Trockenes und Unlebendiges, daß es nicht ange-
hört werden könnte, und darum muß es auch einen tiefern, innigern d. h.
religiösethiſchen Gefühlsinhalt haben, in welchem zugleich die in der Hand-
lung auftretenden Einzelgefühle ihre Zuſammenfaſſung zu höherer Einheit
erhalten. Die ſchöne Vereinigung des Religiöſen mit Stoffen, die dem Gebiet
der unmittelbaren Wirklichkeit entnommen ſind, in Haydn’s Schöpfung
und Jahreszeiten
iſt bekannt; dieſe Werke ſind aber zugleich, auch hievon
abgeſehen, Hauptbeiſpiele für die Oratorien, welche der §. als Lebens- oder
Sittenbilder bezeichnet. Sie ſind nicht mehr eigentliche Geſchichte oder
Handlung, aber ſie ſind, wie das Sittenbild überhaupt (§. 702), doch
epiſcher Natur, Schilderungen von Begebenheiten und Zuſtänden, an welche

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[1107/0345] hat mit Recht dergleichen nicht in ſeinen epiſchen Oratorien, die eben auch darum ſo ganz aus Einem Guß und von ſo ungetheilt kräftiger Wirkung ſind). Die weitere Gliederung, religiöſes und weltliches, ideales oder real- epiſches Oratorium, ergibt ſich von ſelbſt. Das ideale Oratorium, wie Spohr’s letzte Dinge, das nicht eine Geſchichte, ſondern eine in epiſch- dramatiſcher Form ſich darlegende ideale Anſchauung zu ſeinem Inhalte hat, wird am eheſten auf dem Boden der Religion ſich bilden, jedoch ſtets beſchränkte Bedeutung haben, weil es der concreten Beſtimmtheit, wie dieſer Muſikzweig ſie fordert, zu ſehr entbehrt und daher auch der religiöſen Cantate noch zu nahe bleibt. Das realepiſche Oratorium kann neben den religiöſen auch ethiſche, heroiſche, patriotiſche, weltgeſchichtliche, ſowie Stoffe aus der unmittelbaren Wirklichkeit des Lebens wählen, Alles mit gleich guter Wirkung, obwohl die Aufgabe immer ſein wird, auch in nicht direct religiöſen Oratorien ein religiöſes und ethiſches Grundgefühl durchklingen zu laſſen, um dem Ganzen die höhere Weihe tiefern Empfin- dungsgehalts und innigerer Ergriffenheit zu geben, die es nicht ſo entbehren kann, wie die mehr auf Einzelcharakteriſtik und draſtiſche Wirkung ange- wieſene Oper. Das Oratorium läßt ſeine Anſchauungen, Begebenheiten, Handlungen und Perſonen noch nicht ſceniſch zu voller empiriſcher Wirk- lichkeit heraustreten, es kann ebendarum auch weder zu ſpeziellerer Charak- terentwicklung, die erſt bei concretem Verlauf einer in’s Breite ſich exponi- renden Handlung anſchaulich wird, noch zu einer ſolchen reichern Entfaltung der Handlung ſelbſt fortgehen, es erzählt die Handlung blos und erzählt ſie nur in ihren Hauptmomenten, es läßt die activen Perſonen nicht wirk- lich handeln, ſondern es läßt theils nur Andere ihre Handlungen und den Eindruck derſelben auf ſich berichten, theils ſie ſelbſt blos die Hauptſtim- mungen vortragen, in denen ſie handeln oder in die ſie durch den Gang der Ereigniſſe verſetzt werden, es iſt alſo überall auf das Moment des Ge- fühles als auf die Hauptſache hingewieſen, ein Oratorium, in welchem dieſes nicht zu voller Entwicklung käme und nicht den Schwerpunkt des Ganzen ausmachte, wäre etwas ſo Trockenes und Unlebendiges, daß es nicht ange- hört werden könnte, und darum muß es auch einen tiefern, innigern d. h. religiösethiſchen Gefühlsinhalt haben, in welchem zugleich die in der Hand- lung auftretenden Einzelgefühle ihre Zuſammenfaſſung zu höherer Einheit erhalten. Die ſchöne Vereinigung des Religiöſen mit Stoffen, die dem Gebiet der unmittelbaren Wirklichkeit entnommen ſind, in Haydn’s Schöpfung und Jahreszeiten iſt bekannt; dieſe Werke ſind aber zugleich, auch hievon abgeſehen, Hauptbeiſpiele für die Oratorien, welche der §. als Lebens- oder Sittenbilder bezeichnet. Sie ſind nicht mehr eigentliche Geſchichte oder Handlung, aber ſie ſind, wie das Sittenbild überhaupt (§. 702), doch epiſcher Natur, Schilderungen von Begebenheiten und Zuſtänden, an welche

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1107. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/345>, abgerufen am 21.11.2024.