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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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unmittelbare Gefühlskomik, die frisch in's Leben heraustritt; komisch heitere,
lustige Stimmungen, komisches Pathos und Poltern, komische Affecte der
Furcht, der Ueberraschung; des Aergers, der getäuschten Erwartung und
dergleichen bilden ihr Gebiet, da sonst die Composition an ihr keinen Stoff
fände, den sie musikalisch beleben könnte. Aehnlich verhält es sich mit der
ernsten Oper
. Am wahrsten ist sie, wenn volle und frei sich gebende
Gefühlserregtheit, Gefühlspoesie oder tiefe, innerlich ergreifende, das Herz
zur Aeußerung treibende Gemüthsbewegtheit oder Beides zumal ihr Grundton
ist; die Gefühlspoesie der Lebenslust, der Liebe, die Bewegtheit der Leiden-
schaft, der Begeisterung, der opferbereiten Hingebung, der verletzten, Sühnung
eines Frevels suchenden Pietät, des heroischen Thatendranges, des Patrio-
tismus, des Glaubensmuthes, der Kindes-, Eltern-, Gatten- und Menschen-
liebe, diese und verwandte Motive sind die Sphäre, aus welcher die Oper
wählen muß. In dieser Beziehung hat R. Wagner ganz Recht, wenn er
gegenüber einer Entartung des Opernwesens, welche unmusikalischen Süjets
musikalische Kleidung umhängt, wieder auf Gefühlsstoffe dringt und solche
z. B. in der deutschen Mythe sucht; nur ist es einseitig, blos in einer
abstracten, poetisch überspannten Hingebung und Aufopferung, wie seine
weiblichen Hauptfiguren sie darstellen, eine des musikalischen Ausdrucks
würdige Gefühlsbestimmtheit finden zu wollen und überhaupt das poetische
Element der Oper
in dem Maaße vorherrschen zu lassen, wie es hier
geschieht. Die Gefühlspoesie, wie die Oper sie zu schildern hat, verlangt
freilich auch eine entsprechende poetische, nichtprosaische Umgebung; aber
damit ist es noch nicht gestattet, eine ganz abstracte, phantastisch mytho-
logische, abenteuerliche Poesie auf die Bühne zu bringen, welche ja bekanntlich
mit dem Wunder nur sehr sparsam umgehen, nicht aber schlechthin Un-
wirkliches in Form eines Wirklichen in Scene setzen darf. Mozart's Don
Juan, den Wagner nicht müde wird zu preisen, zeigt am besten was für
eine Poesie in der Oper am besten wirkt, nämlich eben die Poesie des Ge-
fühls selbst, nicht die des Mährchens, die Poesie der Lebenslust und Leiden-
schaft; dieser Poesie des Lebens tritt in der Person des "steinernen Gastes"
die mythische Poesie allerdings zur Seite und gegenüber, aber in einer von
den realen Verhältnissen der menschlichen und sittlichen Welt nicht zu weit
abliegenden Form, weil es doch nur der Geist des Gemordeten ist, der
erscheint, und weil sich in ihm zugleich die Idee der ebenso ernst strafenden
als mit Liebe zur Besserung mahnenden ewigen Gerechtigkeit treffend per-
sonificirt. Die Oper kann an sich wohl poetischer sein als die eben genannte;
sie darf uns in eine zauberhafte romantische Welt versetzen, denn der Ge-
fühlsgehalt, der ihr die Hauptsache ist, kann auch innerhalb einer solchen
sich reich entwickeln, ja das Gefühl scheint in ihr in seinem eigentlichsten
Elemente zu sein, weil eine poetische Welt nur der äußere Wiederschein der

unmittelbare Gefühlskomik, die friſch in’s Leben heraustritt; komiſch heitere,
luſtige Stimmungen, komiſches Pathos und Poltern, komiſche Affecte der
Furcht, der Ueberraſchung; des Aergers, der getäuſchten Erwartung und
dergleichen bilden ihr Gebiet, da ſonſt die Compoſition an ihr keinen Stoff
fände, den ſie muſikaliſch beleben könnte. Aehnlich verhält es ſich mit der
ernſten Oper
. Am wahrſten iſt ſie, wenn volle und frei ſich gebende
Gefühlserregtheit, Gefühlspoeſie oder tiefe, innerlich ergreifende, das Herz
zur Aeußerung treibende Gemüthsbewegtheit oder Beides zumal ihr Grundton
iſt; die Gefühlspoeſie der Lebensluſt, der Liebe, die Bewegtheit der Leiden-
ſchaft, der Begeiſterung, der opferbereiten Hingebung, der verletzten, Sühnung
eines Frevels ſuchenden Pietät, des heroiſchen Thatendranges, des Patrio-
tismus, des Glaubensmuthes, der Kindes-, Eltern-, Gatten- und Menſchen-
liebe, dieſe und verwandte Motive ſind die Sphäre, aus welcher die Oper
wählen muß. In dieſer Beziehung hat R. Wagner ganz Recht, wenn er
gegenüber einer Entartung des Opernweſens, welche unmuſikaliſchen Süjets
muſikaliſche Kleidung umhängt, wieder auf Gefühlsſtoffe dringt und ſolche
z. B. in der deutſchen Mythe ſucht; nur iſt es einſeitig, blos in einer
abſtracten, poetiſch überſpannten Hingebung und Aufopferung, wie ſeine
weiblichen Hauptfiguren ſie darſtellen, eine des muſikaliſchen Ausdrucks
würdige Gefühlsbeſtimmtheit finden zu wollen und überhaupt das poetiſche
Element der Oper
in dem Maaße vorherrſchen zu laſſen, wie es hier
geſchieht. Die Gefühlspoeſie, wie die Oper ſie zu ſchildern hat, verlangt
freilich auch eine entſprechende poetiſche, nichtproſaiſche Umgebung; aber
damit iſt es noch nicht geſtattet, eine ganz abſtracte, phantaſtiſch mytho-
logiſche, abenteuerliche Poeſie auf die Bühne zu bringen, welche ja bekanntlich
mit dem Wunder nur ſehr ſparſam umgehen, nicht aber ſchlechthin Un-
wirkliches in Form eines Wirklichen in Scene ſetzen darf. Mozart’s Don
Juan, den Wagner nicht müde wird zu preiſen, zeigt am beſten was für
eine Poeſie in der Oper am beſten wirkt, nämlich eben die Poeſie des Ge-
fühls ſelbſt, nicht die des Mährchens, die Poeſie der Lebensluſt und Leiden-
ſchaft; dieſer Poeſie des Lebens tritt in der Perſon des „ſteinernen Gaſtes“
die mythiſche Poeſie allerdings zur Seite und gegenüber, aber in einer von
den realen Verhältniſſen der menſchlichen und ſittlichen Welt nicht zu weit
abliegenden Form, weil es doch nur der Geiſt des Gemordeten iſt, der
erſcheint, und weil ſich in ihm zugleich die Idee der ebenſo ernſt ſtrafenden
als mit Liebe zur Beſſerung mahnenden ewigen Gerechtigkeit treffend per-
ſonificirt. Die Oper kann an ſich wohl poetiſcher ſein als die eben genannte;
ſie darf uns in eine zauberhafte romantiſche Welt verſetzen, denn der Ge-
fühlsgehalt, der ihr die Hauptſache iſt, kann auch innerhalb einer ſolchen
ſich reich entwickeln, ja das Gefühl ſcheint in ihr in ſeinem eigentlichſten
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[1117/0355] unmittelbare Gefühlskomik, die friſch in’s Leben heraustritt; komiſch heitere, luſtige Stimmungen, komiſches Pathos und Poltern, komiſche Affecte der Furcht, der Ueberraſchung; des Aergers, der getäuſchten Erwartung und dergleichen bilden ihr Gebiet, da ſonſt die Compoſition an ihr keinen Stoff fände, den ſie muſikaliſch beleben könnte. Aehnlich verhält es ſich mit der ernſten Oper. Am wahrſten iſt ſie, wenn volle und frei ſich gebende Gefühlserregtheit, Gefühlspoeſie oder tiefe, innerlich ergreifende, das Herz zur Aeußerung treibende Gemüthsbewegtheit oder Beides zumal ihr Grundton iſt; die Gefühlspoeſie der Lebensluſt, der Liebe, die Bewegtheit der Leiden- ſchaft, der Begeiſterung, der opferbereiten Hingebung, der verletzten, Sühnung eines Frevels ſuchenden Pietät, des heroiſchen Thatendranges, des Patrio- tismus, des Glaubensmuthes, der Kindes-, Eltern-, Gatten- und Menſchen- liebe, dieſe und verwandte Motive ſind die Sphäre, aus welcher die Oper wählen muß. In dieſer Beziehung hat R. Wagner ganz Recht, wenn er gegenüber einer Entartung des Opernweſens, welche unmuſikaliſchen Süjets muſikaliſche Kleidung umhängt, wieder auf Gefühlsſtoffe dringt und ſolche z. B. in der deutſchen Mythe ſucht; nur iſt es einſeitig, blos in einer abſtracten, poetiſch überſpannten Hingebung und Aufopferung, wie ſeine weiblichen Hauptfiguren ſie darſtellen, eine des muſikaliſchen Ausdrucks würdige Gefühlsbeſtimmtheit finden zu wollen und überhaupt das poetiſche Element der Oper in dem Maaße vorherrſchen zu laſſen, wie es hier geſchieht. Die Gefühlspoeſie, wie die Oper ſie zu ſchildern hat, verlangt freilich auch eine entſprechende poetiſche, nichtproſaiſche Umgebung; aber damit iſt es noch nicht geſtattet, eine ganz abſtracte, phantaſtiſch mytho- logiſche, abenteuerliche Poeſie auf die Bühne zu bringen, welche ja bekanntlich mit dem Wunder nur ſehr ſparſam umgehen, nicht aber ſchlechthin Un- wirkliches in Form eines Wirklichen in Scene ſetzen darf. Mozart’s Don Juan, den Wagner nicht müde wird zu preiſen, zeigt am beſten was für eine Poeſie in der Oper am beſten wirkt, nämlich eben die Poeſie des Ge- fühls ſelbſt, nicht die des Mährchens, die Poeſie der Lebensluſt und Leiden- ſchaft; dieſer Poeſie des Lebens tritt in der Perſon des „ſteinernen Gaſtes“ die mythiſche Poeſie allerdings zur Seite und gegenüber, aber in einer von den realen Verhältniſſen der menſchlichen und ſittlichen Welt nicht zu weit abliegenden Form, weil es doch nur der Geiſt des Gemordeten iſt, der erſcheint, und weil ſich in ihm zugleich die Idee der ebenſo ernſt ſtrafenden als mit Liebe zur Beſſerung mahnenden ewigen Gerechtigkeit treffend per- ſonificirt. Die Oper kann an ſich wohl poetiſcher ſein als die eben genannte; ſie darf uns in eine zauberhafte romantiſche Welt verſetzen, denn der Ge- fühlsgehalt, der ihr die Hauptſache iſt, kann auch innerhalb einer ſolchen ſich reich entwickeln, ja das Gefühl ſcheint in ihr in ſeinem eigentlichſten Elemente zu ſein, weil eine poetiſche Welt nur der äußere Wiederſchein der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1117. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/355>, abgerufen am 21.11.2024.