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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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innern Poesie des über die Schranken der Wirklichkeit sich emporhebenden
Gefühles ist; diese rein poetische oder romantische Oper, wie sie
namentlich Weber ausgebildet, ist wirklich eine vollberechtigte Gattung.
Aber eine bis zum Phantastischen gehende Steigerung des Romantischen
ist unzulässig, da wenn aller feste Boden der Wirklichkeit entschwindet,
auch für wahres Gefühl, das doch allein musikalisch anspricht, kein Platz
mehr ist, sondern in einer durch und durch unwirklichen Welt auch die Ge-
fühle zu leerem Scheine werden ohne Leben und Wirklichkeit, ohne Kraft
und Innigkeit, wie sie zu musikalischem Ausdruck als nothwendige Bedingung
erforderlich ist. Auch ist die romantische Oper, selbst wenn sie sich von
solchen Extremen ferne hält, nicht die höchste Gattung, eben weil in ihr
doch immer zu wenig Wirklichkeit, Substanz, Gediegenheit, zu wenig Mög-
lichkeit wirklicher dramatischer Spannung und Entwicklung, zu wenig selbst-
thätiges Wollen und Handeln, zu viele Phantasiegestalten (Geister u. s. w.),
welche die Sphäre des menschlichen Handelns verengen, zu wenig Boden
für sittliche und sociale Verhältnisse ist, aus denen in Folge von Collisionen
und Conflicten eine vollgewichtigere Gefühlserregtheit und besonders eine
tiefergehende Gemüthsbewegtheit erwachsen kann; mit der Romantik wird
Alles Spiel der Phantasie, mit dem Spiel aber entschwindet die objective,
feste Realität und damit auch der ernstere und gediegenere Gefühlsgehalt.
In Don Juan wirkt das mythisch Poetische nicht als Poetisches, sondern
lediglich als Bild einer sittlichen Idee, die nichts Gedichtetes, sondern absolute
Wirklichkeit ist, und auch das andere poetische Element dieser Oper, die
Gefühlspoesie der Lebenslust, ist nur ihre Eine Seite, sie ruft durch den
Frevel, in den sie stürzt, die Gemüthsbewegtheit der verletzten Pietät und
Freundschaft gegen sich auf, und erst dadurch, daß dieses ernstere, tiefere,
den einfachen sittlichen Verhältnissen der Wirklichkeit entnommene Gemüths-
element die andere Seite des Ganzen ausmacht, wird diese Oper das was
sie ist, das ebenso schöne als erhabene Werk, dem kein anderes sich ver-
gleichen kann, weil es durch die Vereinigung beider Elemente und durch
die kräftige und entscheidende Entwicklung, die beide in ihm erhalten, einen
sonst nirgends sich so zusammenfindenden Reichthum inhaltsvollster Beziehungen
in sich vereinigt. Die Gattung, unter welche Don Juan fällt, kann man
nicht wohl anders bezeichnen als durch den Namen ethischpoetische
Oper
im Gegensatz zur romantischpoetischen; ethischpoetisch ist die Oper
dann, wenn einerseits dem subjectiven Element der Lebenslust, des Genusses,
des Glückes ein objectives ethisches Element gegenüber- oder geradezu ent-
gegentritt, und wenn andrerseits beide Elemente nicht nur lebendig indivi-
dualisirt, in lebhaft und innig fühlenden Individualitäten verkörpert, sondern
das Ganze zugleich mehr oder weniger idealisirt, über die gewöhnliche Sphäre
hinausgehoben ist, damit durch diese Idealität diejenige prosaische Realität,

innern Poeſie des über die Schranken der Wirklichkeit ſich emporhebenden
Gefühles iſt; dieſe rein poetiſche oder romantiſche Oper, wie ſie
namentlich Weber ausgebildet, iſt wirklich eine vollberechtigte Gattung.
Aber eine bis zum Phantaſtiſchen gehende Steigerung des Romantiſchen
iſt unzuläſſig, da wenn aller feſte Boden der Wirklichkeit entſchwindet,
auch für wahres Gefühl, das doch allein muſikaliſch anſpricht, kein Platz
mehr iſt, ſondern in einer durch und durch unwirklichen Welt auch die Ge-
fühle zu leerem Scheine werden ohne Leben und Wirklichkeit, ohne Kraft
und Innigkeit, wie ſie zu muſikaliſchem Ausdruck als nothwendige Bedingung
erforderlich iſt. Auch iſt die romantiſche Oper, ſelbſt wenn ſie ſich von
ſolchen Extremen ferne hält, nicht die höchſte Gattung, eben weil in ihr
doch immer zu wenig Wirklichkeit, Subſtanz, Gediegenheit, zu wenig Mög-
lichkeit wirklicher dramatiſcher Spannung und Entwicklung, zu wenig ſelbſt-
thätiges Wollen und Handeln, zu viele Phantaſiegeſtalten (Geiſter u. ſ. w.),
welche die Sphäre des menſchlichen Handelns verengen, zu wenig Boden
für ſittliche und ſociale Verhältniſſe iſt, aus denen in Folge von Colliſionen
und Conflicten eine vollgewichtigere Gefühlserregtheit und beſonders eine
tiefergehende Gemüthsbewegtheit erwachſen kann; mit der Romantik wird
Alles Spiel der Phantaſie, mit dem Spiel aber entſchwindet die objective,
feſte Realität und damit auch der ernſtere und gediegenere Gefühlsgehalt.
In Don Juan wirkt das mythiſch Poetiſche nicht als Poetiſches, ſondern
lediglich als Bild einer ſittlichen Idee, die nichts Gedichtetes, ſondern abſolute
Wirklichkeit iſt, und auch das andere poetiſche Element dieſer Oper, die
Gefühlspoeſie der Lebensluſt, iſt nur ihre Eine Seite, ſie ruft durch den
Frevel, in den ſie ſtürzt, die Gemüthsbewegtheit der verletzten Pietät und
Freundſchaft gegen ſich auf, und erſt dadurch, daß dieſes ernſtere, tiefere,
den einfachen ſittlichen Verhältniſſen der Wirklichkeit entnommene Gemüths-
element die andere Seite des Ganzen ausmacht, wird dieſe Oper das was
ſie iſt, das ebenſo ſchöne als erhabene Werk, dem kein anderes ſich ver-
gleichen kann, weil es durch die Vereinigung beider Elemente und durch
die kräftige und entſcheidende Entwicklung, die beide in ihm erhalten, einen
ſonſt nirgends ſich ſo zuſammenfindenden Reichthum inhaltsvollſter Beziehungen
in ſich vereinigt. Die Gattung, unter welche Don Juan fällt, kann man
nicht wohl anders bezeichnen als durch den Namen ethiſchpoetiſche
Oper
im Gegenſatz zur romantiſchpoetiſchen; ethiſchpoetiſch iſt die Oper
dann, wenn einerſeits dem ſubjectiven Element der Lebensluſt, des Genuſſes,
des Glückes ein objectives ethiſches Element gegenüber- oder geradezu ent-
gegentritt, und wenn andrerſeits beide Elemente nicht nur lebendig indivi-
dualiſirt, in lebhaft und innig fühlenden Individualitäten verkörpert, ſondern
das Ganze zugleich mehr oder weniger idealiſirt, über die gewöhnliche Sphäre
hinausgehoben iſt, damit durch dieſe Idealität diejenige proſaiſche Realität,

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[1118/0356] innern Poeſie des über die Schranken der Wirklichkeit ſich emporhebenden Gefühles iſt; dieſe rein poetiſche oder romantiſche Oper, wie ſie namentlich Weber ausgebildet, iſt wirklich eine vollberechtigte Gattung. Aber eine bis zum Phantaſtiſchen gehende Steigerung des Romantiſchen iſt unzuläſſig, da wenn aller feſte Boden der Wirklichkeit entſchwindet, auch für wahres Gefühl, das doch allein muſikaliſch anſpricht, kein Platz mehr iſt, ſondern in einer durch und durch unwirklichen Welt auch die Ge- fühle zu leerem Scheine werden ohne Leben und Wirklichkeit, ohne Kraft und Innigkeit, wie ſie zu muſikaliſchem Ausdruck als nothwendige Bedingung erforderlich iſt. Auch iſt die romantiſche Oper, ſelbſt wenn ſie ſich von ſolchen Extremen ferne hält, nicht die höchſte Gattung, eben weil in ihr doch immer zu wenig Wirklichkeit, Subſtanz, Gediegenheit, zu wenig Mög- lichkeit wirklicher dramatiſcher Spannung und Entwicklung, zu wenig ſelbſt- thätiges Wollen und Handeln, zu viele Phantaſiegeſtalten (Geiſter u. ſ. w.), welche die Sphäre des menſchlichen Handelns verengen, zu wenig Boden für ſittliche und ſociale Verhältniſſe iſt, aus denen in Folge von Colliſionen und Conflicten eine vollgewichtigere Gefühlserregtheit und beſonders eine tiefergehende Gemüthsbewegtheit erwachſen kann; mit der Romantik wird Alles Spiel der Phantaſie, mit dem Spiel aber entſchwindet die objective, feſte Realität und damit auch der ernſtere und gediegenere Gefühlsgehalt. In Don Juan wirkt das mythiſch Poetiſche nicht als Poetiſches, ſondern lediglich als Bild einer ſittlichen Idee, die nichts Gedichtetes, ſondern abſolute Wirklichkeit iſt, und auch das andere poetiſche Element dieſer Oper, die Gefühlspoeſie der Lebensluſt, iſt nur ihre Eine Seite, ſie ruft durch den Frevel, in den ſie ſtürzt, die Gemüthsbewegtheit der verletzten Pietät und Freundſchaft gegen ſich auf, und erſt dadurch, daß dieſes ernſtere, tiefere, den einfachen ſittlichen Verhältniſſen der Wirklichkeit entnommene Gemüths- element die andere Seite des Ganzen ausmacht, wird dieſe Oper das was ſie iſt, das ebenſo ſchöne als erhabene Werk, dem kein anderes ſich ver- gleichen kann, weil es durch die Vereinigung beider Elemente und durch die kräftige und entſcheidende Entwicklung, die beide in ihm erhalten, einen ſonſt nirgends ſich ſo zuſammenfindenden Reichthum inhaltsvollſter Beziehungen in ſich vereinigt. Die Gattung, unter welche Don Juan fällt, kann man nicht wohl anders bezeichnen als durch den Namen ethiſchpoetiſche Oper im Gegenſatz zur romantiſchpoetiſchen; ethiſchpoetiſch iſt die Oper dann, wenn einerſeits dem ſubjectiven Element der Lebensluſt, des Genuſſes, des Glückes ein objectives ethiſches Element gegenüber- oder geradezu ent- gegentritt, und wenn andrerſeits beide Elemente nicht nur lebendig indivi- dualiſirt, in lebhaft und innig fühlenden Individualitäten verkörpert, ſondern das Ganze zugleich mehr oder weniger idealiſirt, über die gewöhnliche Sphäre hinausgehoben iſt, damit durch dieſe Idealität diejenige proſaiſche Realität,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1118. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/356>, abgerufen am 18.12.2024.